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BGH Beschluss v. - VI ZB 31/24

Leitsatz

Eine auf die Verletzung eines Verfahrensgrundrechts gestützte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, wenn es der Beschwerdeführer im Rahmen des vorinstanzlichen Rechtsmittels versäumt hat, eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.

Gesetze: Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: 5 U 116/23vorgehend LG Aachen Az: 11 O 241/19

Gründe

I.

1Die Klägerin nimmt den Beklagten wegen Verfälschung einer Behandlungsdokumentation auf Schadensersatz in Anspruch. Sie wendet sich gegen die Verwerfung ihrer Berufung als unzulässig.

2Die Klägerin hat im Vorprozess unter anderem den Beklagten wegen angeblich fehlerhafter zahnärztlicher Behandlung auf Schadensersatz in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage im Vorprozess überwiegend abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist zurückgewiesen worden. In einem weiteren Prozess hat die Klägerin den gerichtlichen Sachverständigen des Vorprozesses in Anspruch genommen, diese Klage jedoch zurückgenommen.

3Im vorliegenden Verfahren nimmt die Klägerin den Beklagten auf Schadensersatz in Anspruch, da dieser die Behandlungsdokumentation verfälscht habe. Auf Anraten seiner Prozessbevollmächtigten habe er an mehreren Stellen der Behandlungsdokumentation unrichtige Nachtragungen und Veränderungen zur zahnärztlichen Behandlung vorgenommen. Entgegen des von ihr im Vorprozess gestellten Antrags und unter Außerachtlassung der von ihr vorgebrachten Bedenken gegen den damaligen gerichtlichen Sachverständigen habe das Landgericht im Vorprozess verfahrensfehlerhaft davon abgesehen, ein Zweitgutachten einzuholen. Dies habe zum Verlust des Vorprozesses geführt. Die Entscheidung des Landgerichts sei von den Rechtsmittelinstanzen auf der Grundlage der verfälschten Dokumentation des Beklagten bestätigt worden. Auch der Verlust des weiteren Verfahrens gegen den gerichtlichen Sachverständigen sei letztlich eine Folge der Verfälschungen. Infolge des Prozessverlusts habe sie ihre aus den Behandlungsfehlern resultierenden Ansprüche weder gegen die fehlerhaft handelnden Ärzte (einschließlich des Beklagten) noch gegen den im Arzthaftungsprozess tätigen gerichtlichen Sachverständigen realisieren können. Deshalb könnten diese Forderungen nunmehr wegen des - vom Behandlungsfehlervorwurf zu trennenden - Fälschungsvorwurfs gegen den Beklagten geltend gemacht werden.

4Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Sie sei wegen materieller Rechtskraft bereits unzulässig. Der Streitgegenstand sei mit dem des Vorprozesses identisch. Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass die unzulässige Klage auch unbegründet wäre. Die mit der Klage geltend gemachten Schadensersatzansprüche ständen der Klägerin unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.

5Das Berufungsgericht hat die Klägerin durch Beschluss darauf hingewiesen, dass eine ordnungsgemäße Begründung ihrer Berufung nicht vorliege. Das Landgericht habe die Klage nicht nur wegen entgegenstehender Rechtskraft für unzulässig, sondern darüber hinaus auch für unbegründet gehalten, weil die Klägerin die Kausalität der behaupteten Fälschung der Behandlungsdokumentation durch den Beklagten für den Ausgang der beiden Vorprozesse nicht schlüssig dargelegt habe. Gegen diese Erwägungen des Landgerichts, die die Klageabweisung in der angefochtenen Entscheidung unabhängig von der Frage der entgegenstehenden Rechtskraft trügen, wende sich die Klägerin in der Berufungsbegründung nicht.

6Mit dem hier angegriffenen Beschluss hat das Berufungsgericht die Berufung der Klägerin gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig verworfen. Die Berufung genüge nicht den gesetzlichen Anforderungen. Sie sei zwar fristgerecht eingereicht, jedoch nicht ordnungsgemäß begründet worden. Die Anforderungen des § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO seien nicht erfüllt. Die Klägerin sei auf die beabsichtigte Verwerfung ihrer Berufung und die Gründe hierfür hingewiesen worden. Auch unter Berücksichtigung der Stellungnahme der Klägerin werde daran festgehalten. Zu der maßgeblichen, die Unzulässigkeit der Berufung begründenden Erwägung verhalte sich die Stellungnahme der Klägerin bereits nicht. Völlig unabhängig von der in der Berufungsbegründung wie auch in der Stellungnahme umfänglich thematisierten Frage der entgegenstehenden Rechtskraft der klageabweisenden Entscheidung des Landgerichts im Vorprozess sei die Berufung jedenfalls deshalb unzulässig, weil die Klägerin es versäumt habe, in der Berufungsbegründung zugleich auch die weitere Erwägung des Landgerichts in der angefochtenen Entscheidung anzugreifen, die Klägerin habe die Kausalität der behaupteten Verfälschungen für den Ausgang der beiden Vorprozesse nicht schlüssig dargetan, weshalb die Klage nicht nur unzulässig, sondern darüber hinaus auch unbegründet sei. Diese Erwägung trage die klageabweisende Entscheidung des Landgerichts unabhängig von den Ausführungen zur entgegenstehenden Rechtskraft. Hiergegen erinnere die Stellungnahme der Klägerin nichts Rechtserhebliches. Insbesondere seien die dortigen Ausführungen nicht geeignet, die Berufung zulässig zu machen. Selbst wenn man diese in dem Sinne verstehen wollte, dass nunmehr ein Angriff erfolgen solle, wäre dies zu spät. Die Berufung müsse innerhalb der Berufungsbegründungsfrist begründet werden.

7Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Klägerin. Ihre Berufungsbegründung werde den Anforderungen offenkundig gerecht. Die entscheidungstragende Zulässigkeitserwägung des Landgerichts sei eingehend angegriffen worden. Verständen sich die weiteren Ausführungen des Landgerichts zur Begründetheit als Hilfsbegründung, gälten sie als nicht geschrieben. Es handele sich bei jenen erstinstanzlichen Ausführungen ersichtlich um nicht entscheidungstragende Anmerkungen.

II.

8Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthafte Rechtsbeschwerde ist unzulässig, weil die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO nicht erfüllt sind. Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) ist nicht erforderlich. Der Geltendmachung einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) steht jedenfalls der Grundsatz der materiellen Subsidiarität entgegen.

91. Es bedarf keiner Entscheidung, ob sich aus dem mit der Berufung angegriffenen Urteil des Landgerichts eine tragende Hilfs- oder Alternativbegründung ergibt, die die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung hätte angreifen müssen.

10a) Nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben; nach § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 ZPO muss sie konkrete Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Dazu gehört eine aus sich heraus verständliche Angabe, welche bestimmten Punkte des angefochtenen Urteils der Berufungskläger bekämpft und welche tatsächlichen oder rechtlichen Gründe er ihnen im Einzelnen entgegensetzt. Besondere formale Anforderungen bestehen zwar nicht; auch ist es für die Zulässigkeit der Berufung ohne Bedeutung, ob die Ausführungen in sich schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Die Berufungsbegründung muss aber auf den konkreten Streitfall zugeschnitten sein. Hat das Erstgericht die Abweisung der Klage auf mehrere voneinander unabhängige, selbständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, muss die Berufungsbegründung in dieser Weise jede tragende Erwägung angreifen; andernfalls ist das Rechtsmittel unzulässig (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZB 87/21, VersR 2023, 270 Rn. 6 mwN).

11b) Das Landgericht hat im Anschluss an seine Erwägungen zur Unzulässigkeit der Klage wegen materieller Rechtskraft aufgrund identischer Streitgegenstände ausgeführt, es sei lediglich ergänzend darauf hinzuweisen, dass die Klage auch unbegründet wäre. Der Klägerin ständen die geltend gemachten Schadensersatzansprüche unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.

12Zunächst kann offenbleiben, ob dem Urteil des Landgerichts hinreichend klar zu entnehmen ist, dass es sich dabei um eine tragende Hilfs- oder Alternativbegründung handelt (vgl. dazu Senat, Beschluss vom - VI ZB 40/14, NJW-RR 2015, 511 Rn. 10 ff.; , NJW-RR 2004, 1002, juris Rn. 12). Sollte dies der Fall sein, kann weiter offenbleiben, ob es genügt, die Abweisung der Klage als unzulässig anzugreifen, wenn das Ausgangsgericht die Klage als unzulässig und zugleich als unbegründet abgewiesen hat (so MüKoZPO/Rimmelspacher, 7. Aufl., § 520 Rn. 69; Gerken in: Wieczorek/Schütze, 5. Aufl., § 520 ZPO Rn. 98; jeweils unter Bezugnahme auf BVerwG, NVwZ 2019, 649).

132. Denn die Klägerin könnte eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes jedenfalls wegen des Grundsatzes der materiellen Subsidiarität nicht geltend machen.

14a) Der Subsidiaritätsgrundsatz fordert, dass ein Beteiligter über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen muss, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu erwirken oder eine solche zu verhindern. Dieser Grundsatz ist nicht auf das Verhältnis zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit beschränkt, sondern gilt auch im Nichtzulassungsbeschwerde- und Revisionsverfahren. Denn einer Revision kommt bei der Verletzung von Verfahrensgrundrechten auch die Funktion zu, präsumtiv erfolgreiche Verfassungsbeschwerden vermeidbar zu machen. Daher sind für ihre Beurteilung die gleichen Voraussetzungen maßgebend, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Erfolg einer Verfassungsbeschwerde führten. Nichts anderes gilt für das Rechtsbeschwerdeverfahren (vgl. Senat, Beschluss vom - VI ZB 30/22, NJW 2024, 3655 Rn. 12; VIa ZB 28/23, juris Rn. 10; jeweils mwN).

15b) Das Berufungsgericht hat die Klägerin durch Beschluss darauf hingewiesen, dass eine ordnungsgemäße Begründung ihrer Berufung nicht vorliege. Das Landgericht habe die Klage nicht nur wegen entgegenstehender Rechtskraft für unzulässig, sondern darüber hinaus auch für unbegründet gehalten, weil die Klägerin die Kausalität der behaupteten Fälschung der Behandlungsdokumentation durch den Beklagten für den Ausgang der beiden Vorprozesse nicht schlüssig dargelegt habe. Gegen diese Erwägungen des Landgerichts, die die Klageabweisung in der angefochtenen Entscheidung unabhängig von der Frage der entgegenstehenden Rechtskraft trügen, wende sich die Klägerin in der Berufungsbegründung nicht.

16In ihrer Stellungnahme zu diesem Hinweishat die Klägerin lediglich pauschal geltend gemacht, dass entgegen den Ausführungen des Berufungsgerichts ihre Berufung nicht unzulässig sei. Im Anschluss daran hat sie ausschließlich "gerügt […], dass keine materielle Rechtskraft durch die Entscheidung des Landgerichts […] entgegenstehen würde", und ihre Auffassung weiter erläutert. Auf den nach Auffassung des Berufungsgerichts maßgeblichen Gesichtspunkt, dass das Landgericht die Klage auch für unbegründet gehalten habe und die Berufungsbegründung sich damit nicht auseinandersetze, geht die Stellungnahme dagegen nicht ein. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdehat die Klägerin in ihrer Stellungnahme damit - auch der Sache nach - gerade nicht geltend gemacht, dass nur die Erwägungen des Landgerichts zur Zulässigkeit der Klage entscheidungstragend sind. Dies ist erst im Rahmen der Rechtsbeschwerde erfolgt.

Seiters                         von Pentz                         Müller

                 Allgayer                            Böhm

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:290725BVIZB31.24.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-98939