Suchen Barrierefrei
BGH Beschluss v. - IX ZR 73/23

Leitsatz

Wird die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs mit der Begründung zurückgewiesen, dem Beklagten sei es nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils zu berufen, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorliegen, so verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Fortführung von , NJW-RR 2013, 307 Rn. 15).

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 242 BGB, § 185 ZPO, § 341 Abs 1 S 2 ZPO

Instanzenzug: Brandenburgisches Az: 7 U 139/20vorgehend Az: 6 O 148/18

Gründe

I.

1Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom am eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der F.                     GmbH (im Folgenden: Schuldnerin). Der Beklagte war Gesellschafter mit einem Geschäftsanteil von 59,259 % des Stammkapitals und Geschäftsführer der Schuldnerin, deren Verlust 7.614.000 € im Jahr 2012 und 4.945.000 € im Jahr 2013 betrug. Aufgrund eines der Schuldnerin von der P.          AG am gewährten Kontokorrentkredits erteilte der Beklagte am gleichen Tag eine Bürgschaft über einen Betrag von 1.000.000 € zur Sicherung aller bestehenden, künftigen und bedingten Ansprüche der P.        AG aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung mit der Schuldnerin. Der Kontokorrentkredit, der zum in Höhe von 506.846,49 € valutierte, wurde bis zum vollständig zurückgeführt.

2Der Kläger macht gegen den Beklagten einen auf § 135 Abs. 2, § 143 Abs. 3 InsO gestützten Anspruch auf Zahlung von 506.846,49 € geltend. Die Klage vom konnte dem Beklagten an der angegebenen Anschrift in Großbritannien nicht zugestellt werden. Das die öffentliche Zustellung der Klage bewilligt, am ein Versäumnisurteil über 506.846,49 € nebst Nebenforderungen erlassen und dieses aufgrund eines Beschlusses vom selben Tag ebenfalls öffentlich zugestellt. Am hat der Beklagte Einspruch gegen das Versäumnisurteil eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. In der Sache begehrt er die vollständige Abweisung der Klage. Er erhebt unter anderem die Verjährungseinrede.

3Das Landgericht hat den Einspruch wegen Verfristung als unzulässig verworfen. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hat das Berufungsgericht zurückgewiesen. Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde will der Kläger die Zulassung der Revision erreichen, um sein ursprüngliches Rechtsschutzziel weiterzuverfolgen.

II.

4Die Revision ist zuzulassen und begründet, weil das angefochtene Urteil den Anspruch des Beklagten auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

51. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt, das Landgericht habe zu Unrecht die Voraussetzungen für die öffentliche Zustellung der Klage und des Versäumnisurteils angenommen. Aufgrund der ihm übermittelten Auskunft einer Detektei habe der Kläger nicht davon ausgehen können, dass der Aufenthalt des Beklagten nicht zu ermitteln sei. Vielmehr hätte der Kläger durch eine Nachfrage bei einer Gesellschaft, deren Geschäftsführer der Beklagte gewesen sei, und bei deren Prokuristin, die mit dem Beklagten befreundet gewesen sei, versuchen müssen, den Aufenthalt des Beklagten in Erfahrung zu bringen. Zudem seien Anfragen beim Geschäftspartner und ehemaligen Mitbewohner des Beklagten sowie bei dessen Vater möglich und zumutbar gewesen.

6Die Geltendmachung der Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung sei dem Beklagten indes als rechtsmissbräuchlich gemäß § 242 BGB versagt, weil er selbst zielgerichtet eine Zustellung, mit der er habe rechnen müssen, zu verhindern versucht habe. Der Beklagte sei seit seinem Wegzug aus P.       im Jahr 2015 darauf bedacht gewesen, seinen Aufenthalt zu verschleiern, indem er die Korrespondenz ausschließlich über von ihm bevollmächtigte Rechtsanwälte geführt und dadurch erreicht habe, dass er Zustellungen nur in bestimmten, von ihm zuvor ausgewählten Verfahren ermöglicht habe, zu denen die hier geführte Anfechtungsklage nicht gehört habe. Weiter sei davon auszugehen, dass der Beklagte mit der Geltendmachung von Ansprüchen aus Insolvenzanfechtung infolge der Zahlung der Schuldnerin auf die Kreditverbindlichkeiten bei der P.          AG und der daraus resultierenden Befreiung von der Bürgschaftsverpflichtung gerechnet habe.

72. Mit dieser Begründung verletzt das Berufungsgericht, wie die Nichtzulassungsbeschwerde mit Recht rügt, in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG.

8a) Das Gebot rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verpflichtet das entscheidende Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; , NJW-RR 2022, 69 Rn. 5; vom - IX ZR 100/23, ZIP 2024, 2038 Rn. 8). Als grundrechtsgleiches Recht soll es sicherstellen, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, welche ihren Grund in der unterlassenen Kenntnisnahme und der Nichtberücksichtigung des Sachvortrags der Parteien haben (, WM 2024, 1485 Rn. 11; vom , aaO Rn. 8). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt allerdings keinen Schutz gegen Entscheidungen, die den Sachvortrag eines Beteiligten aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts teilweise oder ganz unberücksichtigt lassen (BVerfG, NJW-RR 2010, 421 Rn. 12).

9Die Entscheidung der Gerichte, den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als verfristet zu behandeln und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, läuft auf eine Präklusion des Sachvortrags des Einspruchsführers hinaus. Präklusionsvorschriften schränken die Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozess ein und bewegen sich damit regelmäßig im grundrechtsrelevanten Bereich. Daraus folgt, dass bei ihrer Anwendung die Schwelle der Grundrechtsverletzung eher erreicht werden kann, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts der Fall ist. Dabei müssen Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden.

10b) Ist die öffentliche Zustellung, gemessen an den Voraussetzungen des § 185 ZPO, unwirksam, ist es dem von der Unwirksamkeit Begünstigten verwehrt, sich auf diese zu berufen, wenn er zielgerichtet versucht hat, eine Zustellung, mit der er sicher rechnen musste, zu verhindern; in einem solchen Fall ist das Berufen auf die Unwirksamkeit rechtsmissbräuchlich und damit unbeachtlich (, NJW-RR 2013, 307 Rn. 17; vgl. auch , BGHZ 149, 311, 323; Beschluss vom - II ZR 61/07, NJW-RR 2008, 1310 Rn. 2). Liegen die Voraussetzungen einer zielgerichteten Verhinderung der Zustellung nicht vor, so wird der Zustellungsempfänger in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, wenn die Gerichte ihm gleichwohl die Berufung auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung verwehren und seinen Sachvortrag deshalb unberücksichtigt lassen. Denn für die Beantwortung der Frage, ob es dem Zustellungsempfänger aufgrund des § 242 BGB verwehrt ist, sich auf den Zustellungsmangel zu berufen, gilt kein anderer Maßstab als bei der Beurteilung der Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung. Andernfalls könnten die hohen Anforderungen im Erkenntnisverfahren an die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung (vgl. , NJW-RR 2013, 307 Rn. 16 mwN) durch Bejahung treuwidrigen Verhaltens des Zustellungsempfängers im Einzelfall unterlaufen werden.

11c) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt eine Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch das Berufungsgericht vor. Die Entscheidung, den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als verfristet zu behandeln, läuft im hier zu beurteilenden Fall auf eine durch das Verfahrensrecht nicht gerechtfertigte Präklusion des Sachvortrags des Beklagten hinaus. Denn die vom Berufungsgericht festgestellten Umstände genügen nicht, um dem Beklagten eine zielgerichtete Zustellungsvereitelung vorwerfen zu können.

12aa) Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Annahme, der Beklagte habe mit der gerichtlichen Geltendmachung der hier interessierenden Ansprüche rechnen müssen, auf das Schreiben des Klägers vom an den vom Beklagten in einem Strafverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalt abgestellt, mittels dessen der Kläger die Ansprüche außergerichtlich geltend gemacht hatte. Ob die zur Weitergabe dieser Information vom Strafverteidiger an den Beklagten angestellten Erwägungen rechtsfehlerfrei sind, kann dahinstehen. Es fehlt jedenfalls an Feststellungen zu einem Verhalten des Beklagten nach unterstellter Weiterleitung der im Schreiben vom enthaltenen Information, das auf das Ziel einer Verhinderung der erwarteten Zustellung gerichtet gewesen wäre.

13Im Zeitpunkt der vom Berufungsgericht angenommenen Weiterleitung war der Beklagte postalisch in L.         zu erreichen. Von der Anschrift erfuhr der Kläger durch einen Schriftsatz des Instanzbevollmächtigten des Beklagten in einem anderen Rechtsstreit vom . Am ließ daraufhin der Kläger dem Beklagten eine andere Klageschrift unter der Anschrift in L.         zustellen. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts rechnete der Beklagte demnach nicht nur mit einer Zustellung wegen des hier streitgegenständlichen Anfechtungsanspruchs, er wusste auch spätestens seit dem , dass der Kläger seine Anschrift in L.        kannte. Gleichwohl blieb er unwiderlegt jedenfalls bis Januar 2018 unter der Anschrift in L.        erreichbar, bevor er seinen Wohnsitz dort aufgab. In Anbetracht dieses Zeitablaufs kann die Aufgabe des Wohnsitzes in L.         nicht die Überzeugung begründen, der Beklagte habe eine Zustellung, mit der er mehr als acht Monate nach Ablauf der vom Kläger mit Schreiben vom gesetzten Frist auch nicht mehr sicher rechnen musste, verhindern wollen.

14bb) Das Berufungsgericht hat auch sonst keine Feststellungen getroffen, die mit hinreichender Sicherheit auf den Versuch einer Verhinderung der wegen des streitgegenständlichen Anfechtungsanspruchs erwarteten Zustellung schließen ließen. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass in anderen Rechtsstreitigkeiten Zustellungen an den Beklagten bewirkt werden konnten, zum Teil sogar dadurch, dass der Beklagte einen Rechtsanwalt zur Entgegennahme von Zustellungen bevollmächtigt hatte. Nach den getroffenen Feststellungen ist die Zustellung der Klageschrift im Streitfall die einzige, die nicht bewirkt werden konnte. Die darauf beruhende Einschätzung des Berufungsgerichts, der Beklagte habe Zustellungen nur in bestimmten, von ihm zuvor ausgewählten Verfahren ermöglicht, ist daher nicht durch entsprechende Anknüpfungstatsachen belegt. Zumindest ebenso wahrscheinlich ist es, dass auch im Streitfall die Klage hätte zugestellt werden können, wenn der Kläger die vom Berufungsgericht vermissten Nachfragen vorgenommen hätte.

15d) Die Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs ist entscheidungserheblich. Eine unter Verstoß gegen § 185 ZPO angeordnete öffentliche Zustellung löst die Zustellungsfiktion des § 188 ZPO nicht aus und setzt damit keine Frist in Lauf. Das gilt jedenfalls dann, wenn die öffentliche Zustellung bei sorgfältiger Prüfung der Unterlagen nicht hätte angeordnet werden dürfen, deren Fehlerhaftigkeit für das Gericht also erkennbar war. In einem solchen Fall kommt das Verfahren nicht zum Abschluss. Es ist bei Entdeckung des Fehlers fortzusetzen, ohne dass es dazu einer Wiedereinsetzung bedarf (vgl. , NJW-RR 2013, 307 Rn. 21). Dies hat das Berufungsgericht nur deshalb nicht getan, weil es ohne hinreichende Feststellungen davon ausgegangen ist, der Beklagte habe zielgerichtet versucht, die Zustellung an ihn zu verhindern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Versäumnisurteil bei Fortsetzung des Verfahrens ganz oder teilweise nicht aufrechterhalten werden kann.

III.

16Das angefochtene Urteil kann deshalb keinen Bestand haben. Es wird gemäß § 544 Abs. 9 ZPO aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Schultz                          Röhl                          Selbmann

                   Weinland                   Kunnes

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:120625BIXZR73.23.0

Fundstelle(n):
TAAAJ-98641