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BVerwG Urteil v. - 4 C 2.24

Zulässigkeit einer Spielhalle im unbeplanten Innenbereich; zulässiger Wohnanteil im faktischen Kerngebiet

Leitsatz

Ein faktisches Kerngebiet ist bei einer mehr als unerheblichen, d. h. über Ausnahmen hinausgehenden sonstigen Wohnnutzung ausgeschlossen.

Gesetze: § 34 Abs 2 BauGB, § 7 BauNVO

Instanzenzug: OVG Lüneburg Az: 1 LC 11/21 Urteilvorgehend VG Lüneburg Az: 2 A 404/18 Urteil

Tatbestand

1Die Klägerin begehrt die Erteilung eines Bauvorbescheides über die planungsrechtliche Zulässigkeit der Nutzung eines Gebäudes in der A.straße in L. als Spielhalle. Das Vorhabengrundstück liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans.

2Die etwa 145 m lange A.straße befindet sich in einem innerstädtischen, verkehrsberuhigten Bereich in der Nähe des M. Sie verbindet die - vom M. ausgehenden - Straßen S.straße/A. M. im Westen und G.straße im Osten. Die G.straße ist die Haupteinkaufsstraße. In den Straßen S.straße/A. M. werden die Erdgeschosse vorwiegend gastronomisch genutzt. Am M. befinden sich u. a. das Amts- und das Landgericht, das Rathaus sowie zwei großflächige Einzelhandelsbetriebe. In der A.straße überwiegen Gebäude mit Einzelhandelsgeschäften im Erdgeschoss und Wohnungen in den darüber liegenden Geschossen; daneben finden sich u. a. ein Boarding House, die Immobilienabteilung der Sparkasse, eine Einrichtung für kommunale Beratungsangebote sowie Zugänge zu einem Irish Pub und zu einem Programmkino.

3Die Beklagte lehnte den Antrag der Klägerin auf Erteilung des Bauvorbescheides im Jahr 2017 ab. Auch der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat ihrer Klage stattgegeben und die Beklagte zur Erteilung des Bauvorbescheides verpflichtet. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht zurückgewiesen. Die Nutzung als Spielhalle sei nach § 34 Abs. 2 Halbs. 1 BauGB i. V. m. § 7 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO als Vergnügungsstätte zulässig, da die Eigenart der näheren Umgebung einem Kerngebiet entspreche. Die nähere Umgebung des Vorhabens umfasse nicht nur die A.straße, sondern "mindestens auch noch" den nördlich gelegenen M. und die Nutzungen entlang der Verbindungsstraßen A. M./​S.straße und G.straße. In diesem Bereich seien sämtliche in § 7 Abs. 1 BauNVO genannten Nutzungen (Handelsbetriebe, zentrale Einrichtungen der Wirtschaft, Verwaltung und Kultur) vorhanden. Die Einstufung als faktisches Kerngebiet sei auch mit der nicht unerheblichen, aber noch untergeordneten Wohnnutzung in der näheren Umgebung vereinbar. Kerngebiete dienten in beschränktem Umfang auch dem Wohnen; die Erleichterung und Sicherung der Wohnnutzung sei gerade erklärtes Ziel der Novelle der Baunutzungsverordnung im Jahr 1977 gewesen, auf die die heutige Fassung der Vorschrift im Wesentlichen zurückgehe. Die fehlende Erwähnung in § 7 Abs. 1 BauNVO sei nicht Ausdruck einer auf Minimierung der Wohnnutzung im Kerngebiet gerichteten Haltung des Verordnungsgebers, sondern eine Kompromisslösung, die lediglich die unbeschränkte Zulassung auf Kosten der vorrangigen Nutzungen verhindern wolle. Insoweit sei auch unschädlich, dass eine Wohnnutzung im Kerngebiet nach § 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 3 Nr. 2 und Abs. 4 BauNVO nur ausnahmsweise oder nach Maßgabe eines Bebauungsplans zulässig sei. Die Baunutzungsverordnung richte sich in erster Linie an den Plangeber.

4Gemäß Mitteilung der Prozessbevollmächtigten der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat der Rat der Beklagten am - nach Abschluss des Berufungsverfahrens - die Aufstellung eines Bebauungsplans und am eine Veränderungssperre für das streitgegenständliche Grundstück beschlossen.

5Mit ihrer Revision macht die Beklagte geltend: Die Bestimmung der näheren Umgebung durch das Oberverwaltungsgericht sei unzureichend. Der Bereich südlich des Vorhabengrundstücks sei nicht ausreichend in den Blick genommen worden. Bei zutreffender Bestimmung der näheren Umgebung sei eine erhebliche Wohnnutzung vorhanden und ein faktisches Kerngebiet schon deshalb ausgeschlossen. Letzteres gelte aber auch dann, wenn man den vom Oberverwaltungsgericht festgestellten Wohnanteil zugrunde lege, weil dieser über bloße Ausnahmen (§ 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO) hinausgehe. Die Zulassung einer Wohnnutzung in diesem Umfang sei vom Verordnungsgeber allein in den Verantwortungsbereich des Plangebers gelegt worden. Das Vorhaben sei an § 34 Abs. 1 BauGB zu messen und danach unzulässig.

6Die Klägerin verteidigt das angegriffene Urteil.

Gründe

7Die Revision ist zulässig und begründet. Das angegriffene Urteil des Oberverwaltungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Es stellt sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Senat kann nicht selbst in der Sache entscheiden; das erfordert die Zurückverweisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

8Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des streitgegenständlichen Vorhabens beurteilt sich nach § 34 BauGB, weil das Grundstück Bestandteil eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils ist. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben dort zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Für den Fall, dass die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete entspricht, die in der Baunutzungsverordnung bezeichnet sind, ordnet § 34 Abs. 2 BauGB an, dass sich die Zulässigkeit des Vorhabens nach seiner Art allein danach beurteilt, ob es nach der Verordnung in dem Baugebiet (allgemein oder ausnahmsweise) zulässig wäre ( 4 C 7.10 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 212 Rn. 15). Das Oberverwaltungsgericht hat bei der Festlegung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 und 2 BauGB Bundesrecht verletzt (1.). Ferner stehen seine Annahmen zur Wohnnutzung im faktischen Kerngebiet nicht mit Bundesrecht in Einklang (2.).

91. Die Abgrenzung der näheren Umgebung durch das Oberverwaltungsgericht ist mit bundesrechtlichen Maßgaben nicht vereinbar.

10a) Das Oberverwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der die nähere Umgebung bildende Bereich so weit reicht, wie sich die Ausführung des zur Genehmigung gestellten Vorhabens auswirken kann und wie die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst ( 4 C 7.15 - BVerwGE 157, 1 Rn. 9 m. w. N.). Sind diese räumlichen Bereiche nicht deckungsgleich, ist der größere maßgeblich (vgl. 4 C 30.78 - Buchholz 406.11 § 34 BBauG Nr. 79 S. 85 und vom - 4 C 15.84 - BVerwGE 75, 34 <41 f.>). Bei der Anwendung des § 34 Abs. 2 BauGB ist die nähere Umgebung der Umgriff, der hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB maßgeblich ist. Denn für die Beurteilung eines Bereichs als faktisches Baugebiet im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB ist gleichfalls die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB maßgebend ( 4 B 27.19 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 Rn. 7 m. w. N.). Die Grenzen der näheren Umgebung lassen sich dabei nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist ( 4 B 27.19 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 225 Rn. 8 m. w. N.).

11b) Die Anwendung dieser Maßstäbe im konkreten Fall ist indes mit Bundesrecht nicht zu vereinbaren. Mit der Formulierung, neben der A.straße seien "mindestens auch noch" der nördlich gelegene M. und die Nutzungen entlang der Verbindungsstraßen A. M./​S.straße und G.straße einzubeziehen, "jedenfalls" diese Nutzungen seien prägend für den Standort des Bauvorhabens (UA S. 6 f.), bleibt der konkrete Umgriff der näheren Umgebung, insbesondere südlich der A.straße, offen. Das Oberverwaltungsgericht ist auch nicht davon ausgegangen, dass es auf eine genaue Abgrenzung der näheren Umgebung im Süden nicht ankommt. Das Urteil enthält keine Feststellungen dazu, dass die Nutzungsstruktur nach jeder insoweit in Betracht kommenden Variante vergleichbar ist. Ohne abschließende Festlegung des maßgeblichen Bereichs der näheren Umgebung fehlt es aber an der notwendigen Grundlage für eine Prüfung der Voraussetzungen des § 34 Abs. 1 bzw. Abs. 2 BauGB.

122. Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, die Eigenart der näheren Umgebung entspreche einem Kerngebiet und das streitgegenständliche Vorhaben sei daher nach § 34 Abs. 2 Halbs. 1 i. V. m. § 7 Abs. 2 Nr. 2 BauNVO zulässig. Der Einordnung als faktisches Kerngebiet stehe nicht entgegen, dass im maßgeblichen Bereich - wie hier - eine nicht unerhebliche, aber noch untergeordnete Wohnnutzung vorhanden sei. Dies ist mit Bundesrecht nicht zu vereinbaren.

13a) Maßgebliche Bedeutung für die Beurteilung, ob die nähere Umgebung einem Baugebiet entspricht, das in der Baunutzungsverordnung bezeichnet ist, kommt der allgemeinen Zweckbestimmung in den Absätzen 1 der Baugebietsvorschriften zu. Bei der Bestimmung der Eigenart der näheren Umgebung sind zudem die in den Baugebieten (allgemein) zulässigen Nutzungen zu berücksichtigen (vgl. 4 C 10.18 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 224 Rn. 20 ff.; Söfker/​Hellriegel, in: Ernst/​Zinkahn/​Bielenberg/​Krautzberger, BauGB, Stand November 2024, § 34 Rn. 79). Der Gebietscharakter wird schließlich durch das Vorkommen nur ausnahmsweise zulässiger Nutzungen noch nicht in Frage gestellt, solange beispielsweise die erkennbaren "Grundzüge der Planung" nicht berührt werden (vgl. § 31 Abs. 1 BauGB). Etwas Anderes gilt dann, wenn die vorhandenen Vorhaben sich nicht auf wirkliche Ausnahmefälle beschränken, sondern gerade als "Ausnahmen" eine eigene prägende Wirkung auf die Umgebung ausüben (vgl. 4 B 1.00 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 197 S. 14 f.).

14Kerngebiete dienen vorwiegend der Unterbringung von Handelsbetrieben sowie der zentralen Einrichtungen der Wirtschaft, der Verwaltung und der Kultur (§ 7 Abs. 1 BauNVO). Zulässig sind Wohnungen für Aufsichts- und Bereitschaftspersonen sowie für Betriebsinhaber und Betriebsleiter (§ 7 Abs. 2 Nr. 6 BauNVO) und sonstige Wohnungen nach Maßgabe von Festsetzungen des Bebauungsplans (§ 7 Abs. 2 Nr. 7 BauNVO). Ausnahmsweise zugelassen werden können nach § 7 Abs. 3 Nr. 2 BauNVO Wohnungen, die nicht unter Absatz 2 Nummer 6 und 7 fallen. § 7 Abs. 4 BauNVO erlaubt für Teile eines Kerngebiets unter bestimmten Voraussetzungen besondere Festsetzungen zur Wohnnutzung.

15b) Ausgehend von dieser Regelungssystematik ist ein faktisches Kerngebiet bei einer - wie hier vom Oberverwaltungsgericht festgestellten - nicht unerheblichen, d. h. über Ausnahmen hinausgehenden sonstigen Wohnnutzung ausgeschlossen. § 34 Abs. 2 BauGB verweist auf der Rechtsfolgenseite "allein" auf die nach der Baunutzungsverordnung zulässigen Arten der baulichen Nutzung. Zu den bezeichneten Baugebieten im Sinne des Tatbestandes können daher nur diejenigen Baugebiete nach den §§ 2 ff. BauNVO gehören, für die die Baunutzungsverordnung die zulässige Art der baulichen Nutzung selbst regelt. Daran fehlt es, wenn die maßgebliche Vorschrift die Entscheidung, welche Anlagen allgemein zulässig, unzulässig oder ausnahmsweise zulassungsfähig sind, nicht selbst trifft, sondern sie vom Planungsträger verlangt (vgl. 4 C 7.10 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 212 Rn. 16). Die Verweisung auf die §§ 2 ff. BauNVO findet mithin dort eine Grenze, wo die Baunutzungsverordnung eine planerische Entscheidung der Gemeinde vorsieht (so Dürr, in: Brügelmann, BauGB, Stand Januar 2025, § 34 Rn. 135; vgl. ferner BVerwG, Beschlüsse vom - 4 B 240.89 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 133 S. 37 f. und vom - 4 B 209.92 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 154 S. 71). Davon ausgehend ist das Kerngebiet hinsichtlich der Wohnnutzung nur insoweit "bezeichnet" im Sinne von § 34 Abs. 2 BauGB, wie der Verordnungsgeber die Entscheidung über die in einem Kerngebiet allgemein oder ausnahmsweise zulässige Wohnnutzung selbst getroffen hat (§ 7 Abs. 2 Nr. 6, § 7 Abs. 3 BauNVO). Die darüber hinausgehende Wohnnutzung steht unter einem Planvorbehalt (§ 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BauNVO). Dieser darf bei der Anwendung des § 34 Abs. 2 BauGB nicht übergangen werden.

16Aus der Verordnungshistorie folgt nichts Anderes. Der Verordnungsgeber hat - trotz entsprechender Vorschläge (siehe Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau [Hrsg.], Arbeitsgruppe "Baunutzungsverordnung" beim Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Materialien zur Baunutzungsverordnung, 1988, S. 40) - die Wohnnutzung weder im Jahr 1977 noch im Zuge der späteren Novellierungen in die Zweckbestimmung des § 7 Abs. 1 BauNVO aufgenommen oder den Planvorbehalt in § 7 Abs. 2 Nr. 7, Abs. 4 BauNVO gestrichen. Die Zulässigkeit der über Ausnahmen hinausgehenden Wohnnutzung im Kerngebiet bleibt daher an eine bewusste Entscheidung des Plangebers gebunden, die eine darauf bezogene Abwägung erfordert. Diese hat insbesondere das sich aus dem Nebeneinander von gewerblicher Nutzung und Wohnnutzung ergebende Konfliktpotential planerisch zu bewältigen (vgl. 4 C 8.12 - BVerwGE 147, 379 Rn. 17 m. w. N.). Eine solche planerische Konfliktbewältigung scheidet im faktischen Kerngebiet aus. Der Intention des Verordnungsgebers widerspräche es, bei der Beurteilung, ob nach § 34 Abs. 2 BauGB ein faktisches Kerngebiet vorliegt, die Vorschriften des § 7 Abs. 2 Nr. 7 oder Abs. 4 BauNVO heranzuziehen.

173. Das Urteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als im Ergebnis richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Der Senat kann keine abschließende Entscheidung treffen. Es fehlen insbesondere die notwendigen tatsächlichen Feststellungen zur Beurteilung der Wirksamkeit der nach Abschluss des Berufungsverfahrens erlassenen Veränderungssperre. Diese Rechtsänderung ist für das Revisionsverfahren beachtlich, weil sie von der Vorinstanz, wenn sie jetzt entschiede, berücksichtigt werden müsste (stRspr, vgl. 4 CN 6.22 - BVerwGE 181, 99 Rn. 53 m. w. N. und vom - 1 C 8.23 - BVerwGE 182, 174 Rn. 22). Eine Klage auf Verpflichtung zur Erteilung eines Vorbescheides ist nur begründet, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Anspruch auf dessen Erlass besteht (vgl. 4 C 16.07 - BVerwGE 133, 98 Rn. 11). Ungeachtet dessen wäre dem Senat mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz weder eine abschließende Bestimmung der näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 BauGB noch eine Beurteilung der Frage möglich (gewesen), ob sich das Vorhaben einfügt.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:200525U4C2.24.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-98462