Instanzenzug: Az: 4710 Js 39408/23 - 1 KLs
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes sowie wegen Störung der Totenruhe in Tateinheit mit Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von elf Jahren und neun Monaten verurteilt. Zudem hat es die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung vorbehalten und angeordnet, dass die verhängte Strafe in einer „sozialtherapeutischen Anstalt“ zu vollziehen ist. Darüber hinaus hat es das Mobiltelefon des Angeklagten eingezogen.
2Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihrer auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision die Strafzumessung, soweit der Angeklagte wegen Mordes verurteilt worden ist. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
I.
3Nach den Feststellungen des Landgerichts erwürgte der Angeklagte am im Rahmen eines einvernehmlichen Treffens ein fast 15-jähriges Mädchen, mit dem er gut befreundet war. Der Angeklagte wollte sich durch die Tötung sexuell stimulieren und sich danach an der Leiche vergehen. Er berührte und knetete die Brüste und das bis auf einen Slip entblößte Gesäß der Getöteten und fertigte hiervon Fotos und Filmaufnahmen an.
4Das sachverständig beratene Landgericht hat auf den zur Tatzeit 20 Jahre und elf Monate alten Angeklagten nach einer Gesamtwürdigung Erwachsenenstrafrecht angewendet und sodann von der Regelung des § 106 Abs. 1 JGG Gebrauch gemacht. Die Jugendkammer hat es nicht für ausgeschlossen gehalten, „dass eine Wiedereingliederung des Angeklagten nach einer langen Haftzeit mit einer sozialtherapeutischen Behandlung gelingen“ könne: Es bestünde bei ihm keine kognitive Beeinträchtigung; auch könne der Angeklagte, der sich „bei bisherigen Hilfs- und Behandlungsangeboten oft anfangs mitwirkungsbereit zeigte und dies erst mit zunehmender Zeit aufgab, […] sich der Haftsituation insgesamt nicht entziehen“, weshalb „noch durchaus offen [sei], ob sich seine Verweigerungsmechanismen auch in Unfreiheit wiederholen werden“. Dies sei „bislang noch nicht ausprobiert worden“.
II.
5Die vom Generalbundesanwalt vertretene Revision ist in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang begründet.
61. Nach der insoweit unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV maßgeblichen Revisionsbegründung (st. Rspr.; vgl. nur , Rn. 12) greift die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten des Angeklagten eingelegten Revision trotz des erklärten Angriffs gegen den „Rechtsfolgenausspruch“ nur den Strafausspruch im Fall II. 1. der Urteilsgründe und den Gesamtstrafenausspruch an.
7Die Ausnahme der Einzelstrafe im Fall II. 2. der Urteilsgründe und der diesen Fall betreffenden Einziehungsentscheidung vom Rechtsmittelangriff ist wirksam. Zwischen den beiden verhängten Einzelstrafen besteht weder normativ ein untrennbarer Zusammenhang (vgl. , BGHSt 37, 34, 39 f.; Beschluss vom – 4 StR 67/05, BGHR StPO § 353 Abs. 2 Teilrechtskraft 21) noch stellen die Urteilsgründe einen solchen inneren Zusammenhang her.
8Hingegen ist die Beschränkung im Hinblick auf die Anordnungen des Landgerichts, die Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nach § 106 Abs. 3 JGG vorzubehalten und die Strafe nach § 106 Abs. 5 Satz 1 JGG zu vollziehen, unwirksam, weil deren Anwendung eine Entscheidung über die Straffrage des § 105 JGG erfordert; eine solche Entscheidung wäre aber mit der (erstrebten) Aufhebung der Einzelstrafe im Fall II. 1. der Urteilsgründe (erneut) veranlasst (vgl. , Rn. 11; Beschluss vom – 4 StR 67/05, aaO).
92. Der Strafausspruch im Fall II. 1. der Urteilsgründe hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Zwar hat die Jugendkammer auf den Angeklagten rechtsfehlerfrei Erwachsenenstrafrecht angewendet; die Anwendung des § 106 Abs. 1 JGG weist jedoch durchgreifende Rechtsfehler auf.
10a) Gemäß § 106 Abs. 1 JGG kann das Gericht an Stelle von lebenslanger Freiheitsstrafe auf eine Freiheitsstrafe von zehn bis zu fünfzehn Jahren erkennen, wenn wegen der Straftat eines Heranwachsenden das allgemeine Strafrecht anzuwenden ist.
11Sinn und Zweck dieser Vorschrift ist, Heranwachsenden, auch wenn sie schwerste Verbrechen begangen haben, gleichwohl die (Wieder-)Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen (vgl. MüKo-StGB/Laue, 4. Aufl., § 106 JGG Rn. 1; BeckOK-JGG/Freuding, 37. Ed., § 106 Rn. 3; Eisenberg/Kölbel, JGG, 26. Aufl., § 106 Rn. 2). Dem liegt der Gedanke zu Grunde, dass bei altersgemäß entwickelten Heranwachsenden die Reifeentwicklung noch nicht so hoffnungslos abgeschlossen sein muss, dass bei entsprechenden erzieherischen Bemühungen eine spätere Wiedereingliederung nicht mehr möglich wäre (vgl. BT-Drucks. I/3264, S. 44; , BGHR JGG § 106 Abs. 1 Strafmilderung 2 Rn. 6 mwN [insoweit in BGHSt 52, 316 ff. nicht abgedruckt]).
12Über die Anwendung von § 106 Abs. 1 JGG ist nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung, die sich auf eine tragfähige Tatsachengrundlage stützen muss, ist nach dem Zweck des § 106 Abs. 1 JGG primär daran auszurichten, ob erwartet werden kann, dass der Heranwachsende nach vollständiger oder teilweiser Verbüßung einer längeren Freiheitsstrafe erfolgreich in die Gesellschaft eingegliedert werden kann (st. Rspr.; vgl. nur , BGHR JGG § 106 Abs. 1 Strafmilderung 1 mwN; zur Literatur vgl. etwa MüKo-StGB/Laue, aaO, Rn. 7; BeckOK-JGG/Freuding, aaO, Rn. 10; Eisenberg/Kölbel, aaO, Rn. 6, jeweils mwN).
13Bei dieser Prognose muss – neben dem Vorleben des Heranwachsenden, seiner Tat und seinem Verhalten nach der Tat – vor allem auch die zukünftige Entwicklung des Heranwachsenden aufgrund der Einwirkung der Strafvollstreckung einbezogen werden (vgl. , NStZ-RR 2018, 327, 328; MüKo-StGB/Laue, aaO, Rn. 8). Im Falle einer weitgehend gefestigten dissozialen Persönlichkeitsstruktur bedarf es gewichtiger Argumente (vgl. , aaO), wenn die Ausnahmevorschrift des § 106 Abs. 1 JGG (vgl. , Rn. 9; BeckOK-JGG/Freuding, aaO, Rn. 9) zur Anwendung kommen soll.
14b) Diesen Anforderungen genügt das Urteil auch unter Berücksichtigung des der Jugendkammer zustehenden weiten Ermessensspielraums nicht.
15aa) Das Landgericht ist bereits von einem falschen Maßstab ausgegangen, weil es das Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen der Anwendung des regulären Strafrahmens nach dem Erwachsenenstrafrecht und des Strafrahmens des § 106 Abs. 1 JGG umgekehrt hat. Gestützt auf die Ausführungen des Sachverständigen und geleitet von dem Gedanken, „[j]eder […] solle die Möglichkeit einer therapeutischen Behandlung bekommen“, hat es den gemilderten Strafrahmen mit der Begründung angewendet, bei dem Angeklagten seien Therapieerfolge – wenn auch „eher unwahrscheinlich“ – nicht auszuschließen. Damit hat das Landgericht aber gerade keine mit Tatsachen unterlegte positive Erwartungshaltung, dass der Angeklagte noch formbar ist, behauptet.
16bb) Darüber hinaus ist die Ermessensentscheidung als solche rechtsfehlerhaft. Die (günstige) Prognose hinsichtlich einer späteren Wiedereingliederung des Angeklagten darf nicht allein auf Vermutungen beruhen, sondern muss sich auf eine Tatsachengrundlage stützen, aus der sich die begründete Erwartung einer Wiedereingliederungsfähigkeit des Angeklagten ergibt (vgl. , aaO). Solche tragfähigen Tatsachen lassen sich den Urteilsgründen nicht entnehmen.
17Der Sachverständige hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass es sich nicht vorhersagen lasse, wie der Angeklagte auf eine Therapie im Zusammenhang mit einer langjährigen Haftstrafe reagiere. Dem Angeklagten hat er eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit einem hohen Anteil an psychopathischen Merkmalen attestiert. Diese Persönlichkeitsstörung bringe bestimmte Merkmale mit sich, die als solche kaum veränderbar seien und im Zusammenwirken nicht nur belegten, dass der Angeklagte für die Allgemeinheit gefährlich sei, sondern auch ein Therapieerfolg während der Haftzeit eher unwahrscheinlich, wenn auch nicht auszuschließen sei.
18Angesichts dieses Befundes, auf dessen Grundlage das Landgericht zu dem Ergebnis gekommen ist, dass der Angeklagte als Hangtäter gemäß § 106 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 JGG einzustufen ist, und dessentwegen es die Unterbringung in die Sicherungsverwahrung vorbehalten hat, unterlag das Landgericht bei seiner Entscheidung zur Anwendung des § 106 Abs. 1 JGG erhöhten Begründungsanforderungen. An gewichtigen Argumenten, deren es bedarf, wenn das Gericht bei einer weitgehend gefestigten dissozialen Persönlichkeitsstruktur gleichwohl eine günstige Prognose stellen will (, aaO), fehlt es.
19Der vom Landgericht angeführte Umstand, dass bislang noch nicht ausprobiert worden sei, ob sich die in der Vergangenheit von dem Angeklagten gezeigte Therapieverweigerung in Unfreiheit wiederholen werde, stellt angesichts der festgestellten dissozialen Persönlichkeitsstruktur des Angeklagten, verbunden mit einem hohen Anteil an Psychopathie-Merkmalen, keine tragfähige Tatsachengrundlage für die Annahme einer günstigen Prognose dar, zumal es auch nach Ansicht der Jugendkammer noch offen ist, wie der Angeklagte in der Haftsituation mit Therapieangeboten umgehen wird.
203. Die Aufhebung des Strafausspruchs im Fall II. 1. der Urteilsgründe zieht die Aufhebung des Gesamtstrafenausspruchs sowie des für sich genommen rechtsfehlerfreien Ausspruchs über die vorbehaltene Unterbringung in der Sicherungsverwahrung und der – in der Sache ebenfalls nicht zu beanstandenden – Anordnung der Vollziehung der Strafe in einer „sozialtherapeutischen Anstalt“ (zur Tenorierung siehe § 106 Abs. 5 Satz 1 JGG; vgl. auch BT-Drucks. 17/9874, S. 25) nach sich.
21Die zugrundeliegenden Feststellungen werden von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht berührt. Sie können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht kann ergänzende Feststellungen treffen, die den bisherigen nicht widersprechen.
22Das neue Tatgericht wird zu beachten haben, dass es für einen Härteausgleich in analoger Anwendung des § 31 Abs. 2 JGG – wie von der Revisionsführerin im Einzelnen ausgeführt – keine Grundlage gibt.
234. Die nach § 301 StPO veranlasste Nachprüfung des Urteils hat im Umfang der Anfechtung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Menges Zeng Meyberg
Zimmermann Herold
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:020725U2STR597.24.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-97555