Instanzenzug: Truppendienstgericht Nord Az: N 9 VL 29/22 Urteil
Tatbestand
1Das Verfahren betrifft im Wesentlichen mehrfache eigenmächtige Abwesenheiten und außerdienstliche Straftaten.
21. Der ... geborene frühere Soldat trat ... als Grundwehrdienstleistender in die Bundeswehr ein und schied im Februar ... aus dem Dienst aus, bevor er im Oktober 2014 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen wurde. Zuletzt wurde er ... zum Oberstabsgefreiten befördert. Seine Dienstzeit endete Oktober ... Er leistete bis zu seiner vorläufigen Dienstenthebung zuletzt Dienst als Materialbewirtschaftungssoldat und Kraftfahrer im damaligen ...zentrum ...
3Der letzte Disziplinarvorgesetzte, Major A, beschreibt 2020 den früheren Soldaten als anfangs ruhig, umsichtig und zuverlässig. Durch den Einfluss des zwischenzeitlich entlassenen Kameraden B habe sich der frühere Soldat negativ entwickelt. Aufgrund mehrfacher unwahrer dienstlicher Meldungen und offensichtlicher Geldsorgen sei ihm der Dienst in der Munitionsgruppe untersagt worden. Sämtliche sich anschließenden Dienstpflichtverletzungen hätten mit seiner prekären Situation in Zusammenhang gestanden. Seine Probleme hätten sich auch negativ auf den Dienstbetrieb ausgewirkt. Sämtliche Bemühungen, ihn mit Hilfe seiner Familienangehörigen, dem Sanitätsbereich, des Truppenpsychologen oder Standortpfarrers wieder "auf die Beine" zu helfen, seien fruchtlos geblieben. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit sei mit ihm nicht mehr möglich gewesen.
4In der Berufungshauptverhandlung hat der Disziplinarvorgesetzte diese Angaben bestätigt und ergänzt, bereits im Vorfeld der streitgegenständlichen Pflichtverletzungen sei der frühere Soldat mehrfach unerlaubt und unter fadenscheinigen Ausreden zu spät zum Dienst gekommen. Er könne sich den Einfluss von Herrn B, auf dessen Entlassung nach § 55 SG er gedrängt habe, auf den früheren Soldaten nicht erklären. Er habe zu ihm das Vertrauen verloren.
5Die Auskunft aus dem Zentralregister vom enthält keine Eintragungen. Der letzte Auszug aus dem Disziplinarbuch vom weist einen unter dem verfügten Disziplinararrest wegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst (vom 25. bis ) in Verbindung mit dem Nichtbefolgen von Befehlen aus. Zu Geldstrafen wurde der frühere Soldat zum sachgleichen Anschuldigungspunkt 1 wegen Urkundenfälschung durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom , zum sachgleichen Anschuldigungspunkt 9 wegen Betruges durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom und zu den sachgleichen Anschuldigungspunkten 10 und 11 wegen eigenmächtiger Abwesenheit durch Strafbefehl des Amtsgerichts ... vom verurteilt.
6Der ledige und kinderlose frühere Soldat erhielt bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst um 30 % gekürzte Übergangsgebührnisse. Die Übergangsbeihilfe von 15 298,62 € wurde einbehalten. Er ist als Kraftfahrer von Linienbussen im Nahverkehr mit einem Gehalt von ca. 2 400 € bis 2 500 € tätig. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind nach eigener Einlassung nach einem durchlaufenen Privatinsolvenzverfahren wieder geordnet.
72. Auf der Grundlage der Einleitungsverfügung von 2019, mit der der frühere Soldat vorläufig des Dienstes enthoben wurde, und aufgrund der Anschuldigungsschrift vom hat das Truppendienstgericht ihn mit Urteil vom in den Dienstgrad eines Gefreiten der Reserve herabgesetzt.
8a) Unter Freistellung vom Anschuldigungspunkt 8 sei erwiesen, dass er gemäß
- Anschuldigungspunkt 1 im vierten Quartal 2017 ohne Berechtigung einen Überweisungsträger der Sparkasse ... ausgefüllt und dabei die Unterschrift seines Vaters gefälscht habe, um eine Zahlung in Höhe von 3 000 € vom Konto seines Vaters auf das Konto der Zeugin C zu veranlassen, und diesen Überweisungsträger eingereicht habe, wodurch eine Überweisung zu Lasten des Vermögens seines Vaters veranlasst worden sei;
- Anschuldigungspunkt 2 am das Dienstfahrzeug mit dem Bundeswehrkennzeichen ... von ... zur Fahrt nach ... zu privaten Zwecken genutzt habe und am selben Tag zurückgekehrt sei, wodurch es zu einer Gesamtfahrstrecke von ca. 204 km gekommen sei;
- Anschuldigungspunkt 3 am entgegen dem Befehl seines Disziplinarvorgesetzten, der ihm am erteilt worden sei, dem Dienst unerlaubt bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 4 am dem Dienst ohne Erlaubnis seines Disziplinarvorgesetzten bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 5 am dem Dienst ohne Erlaubnis seines Disziplinarvorgesetzten bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 6 am dem Dienst ohne Erlaubnis seines nächsten Disziplinarvorgesetzten bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 7 am dem Dienst ohne Erlaubnis seines Disziplinarvorgesetzten bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 9 am an der Tankstelle der Inhaberin D das Kraftfahrzeug mit dem Kennzeichen ... betankt und an der Kasse lediglich ein Erfrischungsgetränk im Wert von 2,14 €, nicht aber die Tankrechnung über 52,61 € bezahlt und damit beim Kassierer den Irrtum hervorgerufen habe, damit alle offenen Rechnungen beglichen zu haben;
- Anschuldigungspunkt 10 am entgegen des am ihm gegenüber mündlich ausgesprochenen Befehls von Oberstabsarzt E nicht zur stationären Aufnahme im Bundeswehrkrankenhaus ... erschienen und dem Dienst ohne Erlaubnis seines Disziplinarvorgesetzten bis zum ferngeblieben sei;
- Anschuldigungspunkt 11 am entgegen dem Befehl seines nächsten Disziplinarvorgesetzten, der ihm am erteilt worden sei, dem Dienst unerlaubt bis zu seiner Ergreifung durch die Feldjägerstreife am ferngeblieben sei.
9b) Die Pflichtverletzungen seien vor dem Hintergrund zu sehen, dass der frühere Soldat im März 2017 bei einer Bank als zweiter Darlehensnehmer und Bürge für den Erwerb eines Personenkraftwagens durch den damaligen Kameraden B fungiert und diesem ca. 8 000 € bis 11 000 € geliehen habe. Nachdem Herr B die Kreditraten nicht mehr bezahlt habe, sei der frühere Soldat in die Zahlungsverpflichtung eingetreten. Die damit verbundenen finanziellen Probleme hätten zu dessen Verfehlungen geführt. Die Überweisung zu Anschuldigungspunkt 1 sei zu Gunsten der Freundin des Kameraden B erfolgt. Bei Anschuldigungspunkt 2 sei Motiv des früheren Soldaten gewesen, der Bitte des Kameraden B nachzukommen, ihn nach ... zu fahren. Da das Privat-Kfz des früheren Soldaten noch in der Werkstatt gewesen sei, habe er das Dienst-Kfz genutzt. Zu den Anschuldigungspunkten 4 bis 7 stehe fest, dass der frühere Soldat zu den Tatzeitpunkten durch den Truppenarzt jeweils krank geschrieben gewesen und erst 2019 aufgefallen sei, dass keine Genehmigung des Disziplinarvorgesetzten vorliege. Auswirkungen auf den Dienst habe das Verhalten deshalb nicht haben können. Nach der eigenmächtigen Abwesenheit gemäß Anschuldigungspunkt 11 hätten die den früheren Soldaten aufgreifenden Feldjägerkräfte dessen psychischen und physischen Gesundheitszustand als nicht gut bewertet. Dieser habe sich daraufhin in psychiatrische Behandlung begeben und die ärztlichen Befundberichte belegten eine unter Agomelatin und ambulanter Psychotherapie deutlich gebesserte mittelgradige depressive Episode. Der frühere Soldat habe die Therapie abgeschlossen, seine Schulden abgebaut und sein Leben wieder im Griff, so dass eine positive Persönlichkeitsentwicklung festzustellen sei, zumal er den Kontakt zu Herrn B abgebrochen habe.
10c) Durch das ungenehmigte Fernbleiben vom Dienst gemäß den Anschuldigungspunkten 3 bis 7 sowie 10 und 11 habe der frühere Soldat gegen seine Pflicht zum treuen Dienen verstoßen. Die die Tatzeiträume zu den Punkten 4 bis 7 umfassenden Krankschreibungen entschuldigten sein Fernbleiben nicht, denn nur sein Disziplinarvorgesetzter hätte ihn vom Dienst befreien können. Zudem habe er durch die jeweils länger als drei volle Kalendertage unentschuldigten Abwesenheiten vorsätzlich Wehrstraftaten begangen und auch dadurch gegen die Pflicht zum treuen Dienen verstoßen. Der frühere Soldat habe zudem gegen die Gehorsamspflicht verstoßen, weil er den Befehlen zum Dienstantritt nicht nachgekommen sei. Durch die Verwendung des Dienst-Kfz zu nichtdienstlichen Zwecken habe er ebenso gegen die Pflicht zum treuen Dienen verstoßen, weil er Vermögen des Bundes zu nichtdienstlichen Zwecken eingesetzt habe. Er habe damit zugleich gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht und durch den Betrug und die Urkundenfälschung gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verstoßen.
11d) Zwar bilde für die Fälle des vorsätzlichen eigenmächtigen Fernbleibens von der Truppe Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Höchstmaßnahme, weil der frühere Soldat wiederholt dem Dienst unerlaubt ferngeblieben sei; auf der zweiten Bemessungsstufe sei davon jedoch abzuweichen. Denn er habe bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er auf den Kameraden B gestoßen sei, unauffällig seinen Dienst versehen und diesem aus falsch verstandener Freundschaft und Kameradschaft immer wieder zu helfen versucht. Dies habe dieser ausgenutzt und ihn in eine schwierige Lebensphase gestürzt. Am sei eine mittelgradige depressive Episode diagnostiziert worden. Dabei habe das von Misstrauen geprägte Verhältnis zum Vorgesetzten zum Fortbestand der depressiven Störung beigetragen. Der frühere Soldat habe sich dann zurückgekämpft. Bereits im Mai 2019 sei bei ihm eine klinisch nur noch grenzwertig relevante depressive Störung diagnostiziert worden. Ihm sei zugute zu halten, dass er ohne Verpflichtung zur Hauptverhandlung erschienen sei, sich seiner Verantwortung gestellt und sich nicht erst in der Hauptverhandlung vollumfänglich geständig eingelassen und Reue gezeigt habe. Auch sei das Fehlverhalten ihm eigentlich wesensfremd gewesen. Letztlich habe er auch nicht mit persönlicher Bereicherungsabsicht, sondern zu Gunsten des Kameraden gehandelt und die Privatinsolvenz um ein Jahr verkürzen können. Allerdings sei eine Dienstgradherabsetzung unerlässlich.
123. Ihre auf die Maßnahmebemessung beschränkte Berufung begründet die Wehrdisziplinaranwaltschaft im Wesentlichen damit, erschwerende Umstände seien nicht oder nicht angemessen gewürdigt worden. Dazu zählten der lange Tatzeitraum, die mehrfache Verwirklichung des Wehrstraftatbestandes, die Auswirkungen des Dienstvergehens in Gestalt der vorläufigen Dienstenthebung und des Feldjägereinsatzes, die vorangegangene Disziplinierung durch einen Disziplinararrest und der längere Abwesenheitszeitraum gemäß Anschuldigungspunkt 10, der bereits für sich genommen die Höchstmaßnahme indiziere. Angesichts dessen könnten die zum Teil zu Unrecht oder jedenfalls unangemessen stark gewichteten Milderungsgründe keine Abweichung von der Höchstmaßnahme rechtfertigen. Es liege weder eine persönlichkeitsfremde Augenblickstat noch eine psychische Ausnahmesituation vor. Dies gelte umso mehr, als die Abwesenheiten gemäß den Anschuldigungspunkten 4 bis 7 und 10 jeweils im Kontext mit einer Erkrankung gestanden hätten, der frühere Soldat somit gerade keinen ihn belastenden Dienst hätte leisten müssen. Ihm komme auch nicht der Milderungsgrund einer unzureichenden Dienstaufsicht zugute, so dass sich auch nicht mildernd auswirke, dass die Abwesenheiten gemäß den Anschuldigungspunkten 4 bis 7 erst 2019 aufgefallen seien. Dass er bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kamerad B in sein Leben getreten sei, solide dienstliche Leistungen erbracht habe, sei zu Unrecht mildernd berücksichtigt worden, denn dies bilde eine Selbstverständlichkeit. Eine Nachbewährung liege schon deshalb nicht vor, weil der frühere Soldat sich während des Verfahrens nicht beanstandungsfrei geführt habe. Er habe sich erst nach der letzten angeschuldigten eigenmächtigen Abwesenheit in psychologische Behandlung begeben. Die nach den Dienstpflichtverletzungen aufgenommene Therapie sowie die Verkürzung der Privatinsolvenzlaufzeit sprächen zwar für ihn; dies jedoch nicht mit dem erstinstanzlich eingestellten Gewicht. Dasselbe gelte für die Bemessungsfaktoren Reue, Unrechtseinsicht, Geständnis, Präsenz in der Hauptverhandlung und der Einlassung, er habe nicht in persönlicher Bereicherungsabsicht gehandelt. Zudem habe das Truppendienstgericht ohne Vernehmung des letzten Disziplinarvorgesetzten und somit nicht tatsachenbasiert festgestellt, dem früheren Soldaten könne wieder vertraut werden.
Gründe
13Die zulässige Berufung der Wehrdisziplinaranwaltschaft ist begründet.
141. Da sich die Berufung gegen ein Urteil richtet, das vor dem verkündet worden ist, sind auf das vorliegende Berufungsverfahren gemäß § 151 Abs. 7 der WDO in der Fassung des Dritten Gesetzes zur Neuordnung des Wehrdisziplinarrechts und zur Änderung weiterer soldatenrechtlicher Vorschriften (3. WehrDiszNOG) vom (BGBl. I Nr. 424) die §§ 120 bis 124 WDO in der zuletzt durch Gesetz vom (BGBl. I S. 3932) geänderten Fassung (WDO a. F.) anzuwenden; im Übrigen finden die Vorschriften der WDO in der ab dem maßgeblichen Fassung (WDO) Anwendung.
152. Aufgrund der Tat- und Schuldfeststellungen des Truppendienstgerichts steht für den Senat bindend fest, dass der frühere Soldat die angeschuldigten Taten wissentlich und willentlich, mithin vorsätzlich, begangen und durch das Handeln gemäß den Anschuldigungspunkten 2, 3 bis 7, 10 und 11 die Pflicht zum treuen Dienen nach § 7 SG sowie gegen die innerdienstliche Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 SG, in den Anschuldigungspunkten 3, 10 und 11 gegen die Gehorsamspflicht nach § 11 SG sowie durch das Handeln gemäß den Anschuldigungspunkten 1 und 9 gegen die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht nach § 17 Abs. 2 Satz 3 SG verstoßen hat. Denn bei einer - wie hier - auf die Bemessung der Disziplinarmaßnahme beschränkten Berufung hat der Senat seiner Entscheidung gemäß § 94 Abs. 1 Satz 1 WDO i. V. m. § 327 StPO grundsätzlich die Tat- und Schuldfeststellungen sowie die disziplinarrechtliche Würdigung des Truppendienstgerichts zugrunde zu legen und auf dieser Grundlage nur noch über die angemessene Disziplinarmaßnahme zu befinden. Dabei steht ebenfalls fest, dass die Bindungswirkung auch die konkreten Straftatbestände - vorliegend den Wehrstraftatbestand nach § 15 WStG sowie die Straftatbestände des Betrugs nach § 263 Abs. 1 StGB und der Urkundenfälschung nach § 267 Abs. 1 StGB - erfasst, aus denen das Truppendienstgericht sowohl den Verstoß gegen die Rechtsordnung als auch die außerdienstliche disziplinarische Relevanz abgeleitet hat ( 2 WD 5.24 - juris Rn. 22 m. w. N.). Schwere Mängel des Verfahrens im Sinne von § 120 Abs. 1 Nr. 2, § 121 Abs. 2 WDO a. F., die von dieser Bindung befreit ( 2 WD 5.24 - juris Rn. 23 m. w. N. und vom - 2 WD 15.24 - juris Rn. 21), sind weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Allein die Einlassung des früheren Soldaten in der Berufungshauptverhandlung, bei Anschuldigungspunkt 1 sei strafrechtlich zu Unrecht davon ausgegangen worden, dass die Unterschrift von ihm gefälscht worden sei, ist nicht substantiiert genug, um entsprechende Zweifel an der Richtigkeit der truppendienstgerichtlichen Feststellungen zu erzeugen. Dasselbe gilt für seine Einlassung zu Anschuldigungspunkt 9, er habe die Zahlung seinerzeit vergessen.
163. Die deshalb nur noch vorzunehmende Bemessung der Disziplinarmaßnahme bestimmt sich nach der von Verfassungs wegen allein zulässigen Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts. Diese besteht ausschließlich darin, dazu beizutragen, einen ordnungsgemäßen Dienstbetrieb wiederherzustellen und/oder aufrechtzuerhalten ("Wiederherstellung und Sicherung der Integrität, des Ansehens und der Disziplin der Bundeswehr", vgl. 2 WD 11.07 - juris Rn. 23 m. w. N.). Bei der Bemessung von Art und Höhe der Disziplinarmaßnahme sind nach § 60 Abs. 7 i. V. m. § 38 Abs. 1 WDO Eigenart und Schwere des Dienstvergehens und seine Auswirkungen, das Maß der Schuld, die Persönlichkeit, die bisherige Führung und die Beweggründe des früheren Soldaten zu berücksichtigen. Im Einzelnen geht der Senat von einem zweistufigen Prüfungsschema aus.
17a) Auf der ersten Stufe bestimmt der Senat zwecks Gleichbehandlung vergleichbarer Fälle sowie im Interesse der Rechtssicherheit und Voraussehbarkeit der Disziplinarmaßnahme eine Regelmaßnahme für die in Rede stehende Fallgruppe als Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen. Dies ist in Fällen des - das Dienstvergehen vorliegend im Schwerpunkt charakterisierenden ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 24) - vorsätzlichen unerlaubten Fernbleibens von der Truppe bei einer kürzeren unerlaubten Abwesenheit grundsätzlich eine Dienstgradherabsetzung; bei länger dauernder, wiederholter eigenmächtiger Abwesenheit oder Fahnenflucht ist regelmäßig die Höchstmaßnahme angezeigt. Denn ein Soldat, welcher der Truppe unerlaubt fernbleibt, versagt im Kernbereich seiner Dienstpflichten ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 24). Die Bundeswehr kann ihre Aufgaben nur dann hinreichend erfüllen, wenn nicht nur das innere Gefüge der Streitkräfte so gestaltet ist, dass sie ihren militärischen Aufgaben gewachsen ist, sondern auch ihre Angehörigen im erforderlichen Maße jederzeit präsent und einsatzbereit sind. Der Dienstherr muss sich darauf verlassen können, dass jeder Soldat seinen Pflichten zur Verwirklichung des Verfassungsauftrags der Bundeswehr nachkommt und alles unterlässt, was dessen konkreter Wahrnehmung zuwiderläuft. Dazu gehören insbesondere die Pflichten zur Anwesenheit und gewissenhaften Dienstleistung. Die Verletzung der Pflicht zur militärischen Dienstleistung berührt nicht nur die Einsatzbereitschaft der Truppe, sie erschüttert auch die Grundlagen des Dienstverhältnisses selbst. Da der frühere Soldat dem Dienst in sieben Fällen und damit wiederholt ferngeblieben ist, bildet Ausgangspunkt der Zumessungserwägungen die Aberkennung des Ruhegehalts nach § 60 Abs. 2 Nr. 4 i. V. m. § 67 WDO.
18b) Auf der zweiten Stufe ist zu prüfen, ob im Einzelfall im Hinblick auf die Bemessungskriterien des § 38 Abs. 1 WDO und die Zwecksetzung des Wehrdisziplinarrechts Umstände vorliegen, die ein Abweichen von der Regelmaßnahme gebieten. Da Milderungsgründe umso gewichtiger sein müssen, je schwerer ein Dienstvergehen wiegt ( 2 WD 23.20 - BVerwGE 173, 352 Rn. 29 m. w. N.) und sie vor allem bei einer grundsätzlich verwirkten Höchstmaßnahme von hohem Gewicht sein müssen (vgl. 2 WD 8.23 - juris Rn. 17 ff. m. w. N.), ist vorliegend kein Abweichen von der Höchstmaßnahme geboten. Befände sich der frühere Soldat noch im Dienst, wäre die Entfernung aus dem Dienstverhältnis gerechtfertigt (§ 67 Abs. 1 Satz 2 WDO). Denn ihm kann das notwendige Vertrauen in die ordnungsgemäße Pflichterfüllung objektiv betrachtet nicht mehr entgegengebracht werden ( 2 WD 29.18 - juris Rn. 28 m. w. N. und vom - 2 WD 1.24 - juris Rn. 25). Im Einzelnen:
19aa) Erschwerend zu der schon für die besondere Schwere des Dienstvergehens sprechenden wiederholten Begehung tritt hinzu, dass bei Anschuldigungspunkt 11 allein die Abwesenheit von mehr als 30 Tagen bereits die Höchstmaßnahme geboten hätte. Denn zur Abgrenzung einer kürzeren von einer längeren, typischerweise zur Höchstmaßnahme führenden Abwesenheit zieht der Senat den Zeitraum heran, der durch den jährlich zustehenden Urlaubszeitraum von 30 Tagen nach § 1 Satz 1 SUV i. V. m. § 5 Abs. 1 EUrlV abgedeckt werden kann (vgl. 2 WD 8.23 - juris Rn. 17 ff. m. w. N.). Zudem hat der frühere Soldat mit dem unerlaubten Fernbleiben vom Dienst jedenfalls in den Anschuldigungspunkten 10 und 11 zusätzlich eine Wehrstraftat begangen. Er ist auch nicht freiwillig zurückgekehrt, sondern musste erst durch die Feldjägerstreife ergriffen werden, womit eine weitere erschwerende Folge des Dienstvergehens vorliegt ( 2 WD 8.23 - juris Rn. 25; zu den Folgen der Dienstenthebung jedoch: 2 WD 8.23 - juris Rn. 28 f.). Die Taten erstreckten sich dabei über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr und vor allem ist der frühere Soldat noch vor den unerlaubten Abwesenheiten gemäß Anschuldigungspunkte 4 bis 7, 10 und 11 durch Disziplinararrest disziplinarisch einschlägig gemaßregelt worden, ohne dass ihn dies zu einer Verhaltenskorrektur bewogen hätte. Dies allein schon gebietet gemäß § 38 Abs. 2 WDO regelmäßig den Übergang zu einer schwereren Disziplinarmaßnahme ( 2 WD 8.23 - juris Rn. 26). Das Gewicht des Dienstvergehens wird schließlich durch die weitere Verletzung der Gehorsamspflicht erhöht, die vorliegend der Durchsetzung der Präsenz des Soldaten diente und der deshalb eine besondere Schwere zukommt. Fehlt die Bereitschaft zum Gehorsam, kann die Funktionsfähigkeit einer Armee gelähmt oder jedenfalls in Frage gestellt werden ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 28). Hinzu treten der Verstoß gegen die Pflicht zum treuen Dienen nach Anschuldigungspunkt 2 und die zweifache Verletzung der außerdienstlichen Wohlverhaltenspflicht nach Anschuldigungspunkten 1 und 9 ( 2 WD 1.24 - juris Rn. 32).
20bb) Den zusätzlich für die Verhängung der Höchstmaßnahme streitenden erschwerenden Umständen stehen keine mildernden Umstände von hohem Gewicht gegenüber ( 2 WD 8.23 - juris Rn. 20).
21(1) Der im April ... geborene frühere Soldat war zum ersten Tatzeitpunkt Oktober 2017 (Urkundenfälschung im vierten Quartal 2017) etwa ... Jahre alt, zum Zeitpunkt der nachfolgenden Pflichtverletzungen folglich noch älter, so dass keine Taten eines Heranwachsenden vorliegen, die eine mildere Betrachtung verlangten (vgl. 2 WD 19.18 - BVerwGE 166, 189 Rn. 36 ff.). Dasselbe gilt für den Umstand, dass der frühere Soldat an den Hauptverhandlungen teilgenommen hat, obwohl sein Erscheinen nicht angeordnet worden war. Denn durch sein Recht, die Aussage ganz oder teilweise zu verweigern, drohten ihm aus seiner Präsenz keine Nachteile, sondern erwuchs ihm nur die Möglichkeit von Vorteilen. Zwar hat er Reue und Einsicht gezeigt und sich geständig eingelassen; angesichts der durch die bereits vorhandenen Beweismittel gesicherten Überführbarkeit kommt dem jedoch keine besonders mildernde Wirkung zu ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 34). Dasselbe gilt für die vorzeitige Beendigung der Privatinsolvenz, da sie jedenfalls keinen unmittelbaren Bezug zum Dienstvergehen aufweist und im Eigeninteresse des früheren Soldaten lag.
22(2) Der Schuldmilderungsgrund einer einmaligen persönlichkeitsfremden Augenblickstat eines ansonsten tadelfreien und im Dienst bewährten Soldaten liegt wegen der zahlreichen, sich über einen einjährigen Zeitraum erstreckenden Wiederholungstaten nicht vor. Sie verbieten die Annahme eines durch ein gewisses Maß an Spontaneität, Kopflosigkeit und Unüberlegtheit charakterisierten Verhaltens ( 2 WD 11.16 - juris Rn. 120, vom - 2 WD 1.24 - juris Rn. 39 und vom - 2 WD 15.24 - juris Rn. 30).
23(3) Eine erhebliche Einschränkung der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit im Sinne des § 21 StGB analog ( 2 WD 1.24 - juris Rn. 34 ff. m. w. N.) lässt sich den ärztlichen Befundberichten (vom und ) nicht entnehmen. Vor dem "Hintergrund einer initialen Überschuldung mit Eintritt in die Privatinsolvenz und im weiteren Verlauf einer dienstlichen Konfliktsituation mit einem neuen Vorgesetzten" diagnostizieren sie lediglich eine mittelgradige Depression ohne dass Wahn, Sinnestäuschung oder eine Ich-Störung festgestellt wurden (S. 3 des Berichts vom ).
24(4) Der klassische Milderungsgrund einer seelischen Ausnahmesituation ist ebenfalls nicht gegeben. Denn dies setzt voraus, dass die Situation von so außergewöhnlichen Besonderheiten geprägt gewesen ist, dass von einem Soldaten ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden kann ( 2 WD 23.01 u. a. - BVerwGE 117, 117 <124> und vom - 2 WD 22.19 - juris Rn. 30). Gegen eine derartige Zuspitzung der Probleme während des sich über ein Jahr erstreckenden Tatzeitraums spricht indes, dass der frühere Soldat - wie bereits erwähnt - im Befundbericht als nur mittelgradig depressiv beschrieben wird und er sich - wie aus Anschuldigungspunkt 10 folgt - keiner stationären Behandlung unterzog, was gegen einen entsprechenden Leidensdruck spricht. Auch dies streitet nach Auffassung des Senats gegen eine auf Ausweglosigkeit zugespitzte Lebenssituation und vielmehr für die Unwilligkeit, sich den Anforderungen des Disziplinarvorgesetzten zu stellen, die sich mit der Forderung nach dienstlicher Präsenz im Bereich des Selbstverständlichen bewegten. Der Befundbericht beschreibt dies zutreffend als "Vermeidungsverhalten", welches allerdings - wie von der Wehrdisziplinaranwaltschaft zutreffend betont - bei den Anschuldigungspunkten 4 bis 7 und 10 schon deshalb nicht motivleitend gewesen sein kann, weil es dort gerade nicht um die Dienstverrichtung ging.
25(5) Zwar nicht mit der Gewichtung als klassischer Milderungsgrund, jedoch mildernd ( 2 WD 3.17 - juris Rn. 66), stellt der Senat die seelischen und finanziellen Belastungen ein, die sich aus den Handlungen ergeben haben, die der frühere Soldat aus vermeintlicher Freundschaft dem Kameraden B gegenüber getätigt hat. Dies betrifft indes nur die unter den Anschuldigungspunkten 1 und 2 beschriebenen Handlungen, da der frühere Soldat sich nicht dahingehend eingelassen hat, zum Kameraden B in einem Hörigkeitsverhältnis gestanden zu haben. Auch hat er für die Zeiten des unerlaubten Fernbleibens keine Motive vorgetragen, die einen Bezug zu dem früheren Kameraden aufweisen. Mildernd berücksichtigt der Senat zudem, dass er bei den von den Anschuldigungspunkten 4 bis 7 sowie 10 erfassten Zeiträumen zumindest krankgeschrieben war ( 2 WD 6.21 - juris Rn. 40). Dass der Beweggrund nicht unmittelbar eigennützig, sondern von der Absicht getragen war, einen Kameraden zu unterstützen, ändert nichts daran, dass er die Interessen des Dienstherrn hintenan gestellt hat.
26(6) Ein Mitverschulden des Dienstherrn liegt nicht vor ( 2 WD 8.23 - juris Rn. 30 ff.). Dieser Milderungsgrund steht einem Soldaten nur zur Seite, wenn er der Dienstaufsicht bedarf, z. B. in einer Überforderungssituation, die ein hilfreiches Eingreifen des Vorgesetzten erforderlich macht ( 2 WD 13.18 - juris Rn. 31, vom - 2 WD 1.24 - juris Rn. 40 m. w. N. und vom - 2 WD 15.24 - juris Rn. 32). Es bedurfte vorliegend jedoch keines hilfreichen Eingreifens der Dienstaufsicht, damit der frühere Soldat erkennen konnte, zur Dienstleistung verpflichtet und insbesondere gehalten zu sein, trotz der Krankschreibungen die Genehmigung seines Disziplinarvorgesetzten einholen zu müssen ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 32).
27Ein Mitverschulden folgt ebenso wenig daraus, dass der Disziplinarvorgesetzte in Kenntnis der Belastungsfaktoren gegen den früheren Soldaten ausschließlich disziplinarisch vorgegangen wäre. Nach der glaubhaften Aussage des Major A, der der frühere Soldat nicht widersprochen hat, wurden an den früheren Soldaten auch zahlreiche Hilfsangebote (Sanitätsbereich, Truppenpsychologe, Standortpfarrer) herangetragen, die er nicht in Anspruch nahm. Zudem hat der Disziplinarvorgesetzte die Entlassung des Herrn B (nach § 55 SG) als Auslöser der Probleme des früheren Soldaten initiiert, ohne dass dies nach dessen Entlassung eine Verhaltensänderung bewirkt hätte. Der vom Disziplinarvorgesetzten gewonnene Eindruck als eines Vorgesetzten, der einerseits auf Einhaltung selbstverständlicher soldatischer Pflichten pocht und sich andererseits um seine Untergebenen kümmert, entzog der Einlassung des früheren Soldaten die Grundlage, er sei auch aus Angst vor dem Disziplinarvorgesetzten dem Dienst ferngeblieben. Dagegen spricht auch, dass dieser auf bereits im Vorfeld der angeschuldigten Pflichtverletzungen begangene Pflichtverletzungen - wie etwa verspätete Dienstantritte - nicht sogleich disziplinarisch und zudem zunächst mit einer nur einfachen Disziplinarmaßnahme (in Gestalt eines Disziplinararrestes) reagiert hat.
28cc) Da die gegen den früheren Soldaten sprechenden Umstände die für ihn sprechenden erdrückend überwiegen, ist das Vertrauen des Dienstherrn in ihn bei objektiver Betrachtung zerstört. Ist das Vertrauen zerstört und deswegen die Höchstmaßnahme zu verhängen, könnten weder eine überlange Verfahrensdauer (vgl. 2 WD 6.21 - juris Rn. 56) noch eine etwaige Nachbewährung ( 2 WD 18.18 - juris Rn. 40) maßnahmemildernde Wirkungen entfalten ( 2 WD 15.24 - juris Rn. 37).
294. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat nach § 143 Abs. 1 Satz 2 WDO der frühere Soldat zu tragen. Gründe, die dies im Sinne des § 143 Abs. 1 Satz 3 WDO unbillig erscheinen lassen, liegen nicht vor. Ebenso besteht kein Grund, die ihm im Berufungsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen aus Billigkeitsgründen gemäß § 144 Abs. 3 Satz 3 WDO dem Bund aufzuerlegen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2025:150425U2WD21.24.0
Fundstelle(n):
BAAAJ-97299