Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten – Richtlinie 2011/96/EU – Art. 4 Abs. 1 Buchst. a – Verbot der Besteuerung der der Muttergesellschaft zufließenden Gewinne – Vermeidung der Doppelbesteuerung der Dividenden – Anwendungsbereich – Regionale Steuer auf Produktionstätigkeiten – Einbeziehung von 50 % der den Muttergesellschaften zufließenden Dividenden in die Bemessungsgrundlage dieser Steuer
Leitsatz
Art. 4 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der es einem Mitgliedstaat, der das System nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a gewählt hat, gestattet ist, mehr als 5 % der Dividenden, die den in diesem Mitgliedstaat ansässigen Finanzintermediären als Muttergesellschaften im Sinne dieser Richtlinie von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, zu besteuern, und zwar auch dann, wenn diese Besteuerung durch eine Steuer erfolgt, die keine Körperschaftsteuer ist, deren Bemessungsgrundlage aber diese Dividenden oder einen Teil davon umfasst.
Gesetze: RL 2011/96/EU Art. 2, RL 2011/96/EU Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, RL 2011/96/EU Art. 4 Abs. 3
Gründe
1 Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 4 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2011, L 345, S. 8).
2 Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Banca Mediolanum SpA und der Agenzia delle Entrate – Direzione regionale della Lombardia (Steuerbehörde – Regionaldirektion der Lombardei, Italien) (im Folgenden: Steuerbehörde) über Anträge auf teilweise Erstattung der „imposta regionale sulle attività produttive“ (regionale Steuer auf Produktionstätigkeiten) (im Folgenden: IRAP).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom zur Änderung der Richtlinie 90/435/EWG über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2004, L 7, S. 41) hieß es:
„Artikel 2 der Richtlinie 90/435/EWG [des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 1990, L 225, S. 6)] legt fest, welche Gesellschaften in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Der Anhang enthält eine Liste der Gesellschaftsformen, für die die Richtlinie gilt. …“
4 In den Erwägungsgründen 1 und 3 der Richtlinie 2011/96 heißt es:
Die Richtlinie [90/435] ist mehrfach und in wesentlichen Punkten geändert worden … Aus Gründen der Klarheit empfiehlt es sich, im Rahmen der jetzt anstehenden Änderungen eine Neufassung vorzunehmen.
…
Diese Richtlinie zielt darauf ab, Dividendenzahlungen und andere Gewinnausschüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften von Quellensteuern zu befreien und die Doppelbesteuerung derartiger Einkünfte auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.“
5 Art. 2 der Richtlinie 2011/96 sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie gelten folgende Begriffsbestimmungen:
‚Gesellschaft eines Mitgliedstaats‘ ist jede Gesellschaft,
…
die … ohne Wahlmöglichkeit einer der in Anhang I Teil B aufgeführten Steuern oder irgendeiner Steuer, die eine dieser Steuern ersetzt, unterliegt, ohne davon befreit zu sein.
…“
6 In seiner Fassung vor den Änderungen durch die Richtlinie 2014/86/EU des Rates vom (ABl. 2014, L 219, S. 40), die die Mitgliedstaaten bis spätestens zum in nationales Recht umsetzen mussten, bestimmte Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96:
„Fließen einer Muttergesellschaft oder ihrer Betriebstätte aufgrund der Beteiligung der Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft Gewinne zu, die nicht anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschüttet werden, so
besteuern der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebstätte diese Gewinne entweder nicht, oder
lassen der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Staat der Betriebstätte im Falle einer Besteuerung zu, dass die Muttergesellschaft und die Betriebstätte auf die geschuldete Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft und jegliche Enkelgesellschaft für diesen Gewinn entrichten, bis zur Höhe der entsprechenden Steuerschuld anrechnen können, vorausgesetzt, dass die Gesellschaft und die ihr nachgeordnete Gesellschaft im Sinne von Artikel 2 auf jeder Stufe die Bedingungen gemäß Artikel 3 erfüllen.“
7 Infolge der durch die Richtlinie 2014/86 vorgenommenen Änderungen heißt es in Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 wie folgt:
„…
besteuern der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft und der Mitgliedstaat der Betriebsstätte diese Gewinne insoweit nicht, als sie von der Tochtergesellschaft nicht abgezogen werden können, und besteuern sie diese Gewinne insoweit, als sie von der Tochtergesellschaft abgezogen werden können“.
8 Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/96 lautet:
„Jeder Mitgliedstaat kann bestimmen, dass Kosten der Beteiligung an der Tochtergesellschaft und Minderwerte, die sich aufgrund der Ausschüttung ihrer Gewinne ergeben, nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können.
Werden in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt, so darf der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen.“
9 In Anhang I Teil B („Liste der unter Artikel 2 Buchstabe a Ziffer iii fallenden Steuern“) der Richtlinie 2011/96 werden folgende Steuern aufgezählt:
„…
imposta sul reddito delle società in Italien.
…“
Italienisches Recht
10 In Art. 89 des Decreto del Presidente della Repubblica n. 917 – Approvazione del testo unico delle imposte sui redditi (Dekret Nr. 917 des Präsidenten der Republik zur Verabschiedung des Einheitstextes über die Einkommensteuer) vom (GURI Nr. 302 vom , Supplemento ordinario Nr. 126, im Folgenden: TUIR) heißt es:
„…
(2) Von den Gewinnen, die in welcher Form und unter welcher Bezeichnung auch immer … ausgeschüttet werden, sind im Rahmen der Ermittlung des Betriebseinkommens der diese Gewinne beziehenden Gesellschaft oder sonstigen Körperschaft im fraglichen Steuerjahr 95 % ihres Betrags auszuscheiden. …
…“
11 Art. 2 des Decreto legislativo n. 446 – Istituzione dell imposta regionale sulle attività produttive, revisione degli scaglioni, delle aliquote e delle detrazioni dell’Irpef e istituzione di una addizionale regionale a tale imposta, nonché riordino della disciplina dei tributi locali (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 446 zur Einführung der regionalen Steuer auf Produktionstätigkeiten, zur Änderung der Stufen, Sätze und Abzüge der Einkommensteuer für natürliche Personen und zur Einführung einer zusätzlichen regionalen Steuer zu dieser Steuer sowie zur Neuordnung der Regelung über die lokale Besteuerung) vom (GURI Nr. 298 vom , Supplemento ordinario Nr. 252, im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 446/1997) sieht vor:
„(1) Steuergegenstand der [IRAP] ist die gewohnheitsmäßige Ausübung einer selbständigen Tätigkeit, die auf die Herstellung von Gegenständen oder den Handel damit oder auf die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet ist. …“
12 In Art. 4 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 heißt es:
„Die [IRAP] wird auf den Nettoproduktionswert erhoben, der sich aus der innerhalb der Region ausgeübten Tätigkeit ergibt.
…“
13 Das gesetzesvertretende Dekret Nr. 446/1997 wurde durch die Legge n. 244 – Disposizioni per la formazione del bilancio annuale e pluriennale dello Stato (legge finanziaria 2008) (Gesetz Nr. 244 – Bestimmungen über die Aufstellung des jährlichen und mehrjährigen Staatshaushalts [Haushaltsgesetz 2008]) vom (GURI Nr. 300 vom , Supplemento ordinario Nr. 285) (im Folgenden: geändertes gesetzesvertretendes Dekret Nr. 446/1997) geändert. Art. 6 („Bestimmung des Nettoproduktionswerts von Banken und anderen Finanzeinrichtungen und ‑gesellschaften“) des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 bestimmt:
„(1) … die Bemessungsgrundlage [wird] durch die algebraische Addition folgender Posten der Gewinn- und Verlustrechnung … bestimmt:
das um 50 % der Dividenden gekürzte Nettobankergebnis;
…“
Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefrage
14 In den Steuerjahren 2014 und 2015 hielten Banca Mediolanum, eine Bank mit steuerrechtlichem Sitz in Italien, und die Mediolanum SpA, eine Tochtergesellschaft von Banca Mediolanum, deren steuerrechtlicher Sitz ebenfalls in Italien lag und die vor Einleitung der den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegenden Gerichtsverfahren von dieser Bank übernommen wurde, Beteiligungen an mehreren Gesellschaften, deren steuerrechtlicher Sitz in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union lag.
15 Banca Mediolanum und Mediolanum bezogen von diesen Tochtergesellschaften Dividenden, von denen sie gemäß Art. 89 Abs. 2 TUIR 5 % ihres Betrags in die in Anhang I Teil B der Richtlinie 2011/96 genannte Bemessungsgrundlage der „imposta sul reddito delle società“ (Körperschaftsteuer, im Folgenden: IRES) aufnahmen.
16 Als Finanzintermediäre nahmen diese Gesellschaften gemäß Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 von diesen Dividenden auch 50 % ihres Betrags in die Bemessungsgrundlage der IRAP mit auf.
17 Anschließend stellte Banca Mediolanum in der Ansicht, dass diese Bestimmung gegen Art. 4 der Richtlinie 2011/96 verstoße, bei der Steuerverwaltung drei Anträge auf Erstattung des Anteils der IRAP, der sich daraus ergab, dass in die Bemessungsgrundlage der IRAP Beträge einbezogen worden sind, die 50 % der Dividenden entsprachen, die sie von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften bezogen hatte.
18 Die Steuerverwaltung wies diese Anträge mit der Begründung zurück, dass Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 nicht gegen Art. 4 der Richtlinie 2011/96 verstoße, da diese Bestimmung nur für die Einkommensteuer und nicht auch für die IRAP gelte.
19 Banca Mediolanum erhob gegen die abschlägigen Bescheide der Steuerverwaltung Klage bei der Commissione tributaria provinciale di Milano (Provinzfinanzkommission Mailand, Italien), die diese Bescheide mit drei Urteilen bestätigte.
20 Deshalb hat Banca Mediolanum gegen diese Urteile Berufung bei der Corte di giustizia tributaria di secondo grado della Lombardia (Finanzgericht zweiter Instanz der Lombardei, Italien), dem vorlegenden Gericht, eingelegt.
21 Das vorlegende Gericht kommt unter Verweis auf Art. 4 der Richtlinie 2011/96 in der Fassung vor der Änderung durch die Richtlinie 2014/86 zu dem Ergebnis, dass sich das Verbot nach Art. 4, mehr als 5 % der Gewinne, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Tochtergesellschaft an eine in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft ausschütte, als steuerpflichtig zu behandeln, auch für die IRAP gelten könne.
22 Insoweit weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die IRAP gemäß den Art. 2 und 4 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997, mit dem diese Steuer eingeführt worden sei, zum einen als Voraussetzung für ihre Anwendung habe, dass eine selbständige Tätigkeit, die auf die Herstellung von Gegenständen oder den Handel damit oder auf die Erbringung von Dienstleistungen gerichtet sei, gewohnheitsmäßig ausgeübt werde, und zum anderen auf den Nettoproduktionswert erhoben werde, der sich aus der innerhalb der betreffenden italienischen Region ausgeübten Tätigkeit ergebe.
23 Aus den Urteilen vom , AFEP u.a. (C‑365/16, EU:C:2017:378), und vom , X (C‑68/15, EU:C:2017:379), ergebe sich jedoch, dass Art. 4 der Richtlinie 2011/96 den Mitgliedstaaten verbiete, bei Dividenden, die an in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaften von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaften ausgeschüttet würden, mehr als 5 % ihres Betrags zu besteuern.
24 Sollte die Annahme zulässig sein, dass dieses Verbot für die IRAP gelte, wäre Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 mit der Richtlinie 2011/96 unvereinbar, da diese Bestimmung den Banken und anderen Finanzintermediären, die Muttergesellschaften im Sinne der Richtlinie seien, vorschreibe, die IRAP auf 50 % der Dividenden zu erheben, die diese Gesellschaften von Gesellschaften bezögen, die in anderen Mitgliedstaaten ansässig und im Sinne der Richtlinie als Tochtergesellschaften einzustufen seien.
25 Unter diesen Umständen hat die Corte di giustizia tributaria di secondo grado della Lombardia (Finanzgericht zweiter Instanz der Lombardei) in jedem der bei ihr anhängigen Berufungsverfahren beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist die in Art. 6 Abs. 1 des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 enthaltene Forderung der Italienischen Republik, 50 % der Dividenden, die in Italien ansässigen Finanzintermediären, die als Muttergesellschaften im Sinne der Richtlinie 2011/96 einzustufen sind, zufließen und die von in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ansässigen Gesellschaften, die als Tochtergesellschaften im Sinne dieser Richtlinie einzustufen sind, ausgeschüttet werden, der IRAP-Besteuerung zu unterwerfen, ohne den Muttergesellschaften das Recht einzuräumen, von der IRAP den Teil der Körperschaftsteuer abzuziehen, der auf die von den Tochtergesellschaften gezahlten Gewinne entfällt, mit dem in Art. 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Verbot vereinbar, Gewinne, die den in einem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaften von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, mit einem höheren Satz als 5 % zu besteuern?
Zur Vorlagefrage
26 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Er hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom , M. N. [EncroChat], C‑670/22, EU:C:2024:372, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27 Was die steuerrechtliche Behandlung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne anbelangt, die keine anlässlich der Liquidation der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne sind, lässt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/96 den Mitgliedstaaten ausdrücklich die Wahl zwischen dem System nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a (im Folgenden: Befreiungssystem) und dem System nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. b (vgl. in diesem Urteil vom , John Cockerill, C‑135/24, EU:C:2025:176, Rn. 27 und 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Wenn ein Mitgliedstaat eines dieser Systeme gewählt hat, dann ist die das andere System betreffende Bestimmung nicht einschlägig (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Brussels Securities, C‑389/18, EU:C:2019:1132, Rn. 32, und vom , Schneider Electric u.a., C‑556/20, EU:C:2022:378, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Ferner können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/96 bestimmen, dass Kosten der Beteiligung der Muttergesellschaft am Kapital der Tochtergesellschaft nicht vom steuerpflichtigen Gewinn der Muttergesellschaft abgesetzt werden können. Außerdem geht aus dieser Vorschrift hervor, dass, wenn in diesem Fall die mit der Beteiligung zusammenhängenden Verwaltungskosten pauschal festgesetzt werden, der Pauschalbetrag 5 % der von der Tochtergesellschaft ausgeschütteten Gewinne nicht übersteigen darf (Urteile vom , AFEP u.a., C‑365/16, EU:C:2017:378, Rn. 23, und vom , X, C‑68/15, EU:C:2017:379, Rn. 72).
29 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass die Italienische Republik das Befreiungssystem anwendet. Allerdings ist festzustellen, dass zusätzlich zu der in Art. 89 Abs. 2 TUIR vorgesehenen Heranziehung zur IRES in Höhe von 5 % der Dividenden, die an in Italien ansässige Muttergesellschaften von ihren Tochtergesellschaften ausgeschüttet werden, die nationale Regelung kurz gesagt verlangt, dass 50 % dieser Dividenden unabhängig von ihrer Herkunft in die Bemessungsgrundlage einer anderen Steuer, nämlich der IRAP, einbezogen werden.
30 Unter diesen Umständen ist anzunehmen, dass das vorlegende Gericht mit seiner Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 4 der Richtlinie 2011/96 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der es einem Mitgliedstaat, der das Befreiungssystem gewählt hat, gestattet ist, mehr als 5 % der Dividenden, die den in diesem Mitgliedstaat ansässigen Finanzintermediären als Muttergesellschaften im Sinne dieser Richtlinie von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, zu besteuern, und zwar auch dann, wenn diese Besteuerung durch eine Steuer erfolgt, die keine Körperschaftsteuer ist, deren Bemessungsgrundlage aber diese Dividenden oder einen Teil davon umfasst.
31 Nach ständiger Rechtsprechung sind zum einen bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom , Merck, 292/82, EU:C:1983:335, Rn. 12, und vom , BSH Hausgeräte, C‑339/22, EU:C:2025:108, Rn. 27). Zum anderen darf eine Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht dazu führen, dem klaren und unmissverständlichen Wortlaut dieser Bestimmung jede praktische Wirksamkeit zu nehmen. Somit kann der Gerichtshof, wenn sich der Sinn einer Bestimmung des Unionsrechts eindeutig aus ihrem Wortlaut ergibt, nicht von dieser Auslegung abweichen (Urteile vom , VYSOČINA WIND, C‑181/20, EU:C:2022:51, Rn. 39, und vom , Gmina Wieliszew, C‑698/20, EU:C:2022:787, Rn. 83).
32 Als Erstes ist in wörtlicher Hinsicht festzustellen, dass aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 klar hervorgeht, dass ein Mitgliedstaat, der das Befreiungssystem gewählt hat, von der Besteuerung der Gewinne absehen muss, die einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen.
33 Insoweit hat der Gerichtshof in Bezug auf die Fassung dieser Bestimmung, die sich aus der durch die Richtlinie 2014/86 eingeführten Änderung ergibt, festgestellt, dass die Anwendung dieser Bestimmung nicht von einer bestimmten Steuer abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , AFEP u.a., C‑365/16, EU:C:2017:378, Rn. 5 und 33). Er hat diese Feststellung auch in Bezug auf Art. 4 Abs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 90/435 getroffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Schneider Electric u.a., C‑556/20, EU:C:2022:378, Rn. 47), der der Fassung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 entspricht, die das vorlegende Gericht und alle Parteien in ihren schriftlichen Erklärungen angeführt haben.
34 Der Gerichtshof hat daher für Recht erkannt, dass Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 in der durch die Richtlinie 2014/86 geänderten Fassung dahin auszulegen ist, dass er einer vom Mitgliedstaat des Sitzes einer Muttergesellschaft vorgesehenen steuerlichen Maßnahme entgegensteht, die die Erhebung einer Steuer anlässlich der Ausschüttung von Dividenden durch die Muttergesellschaft vorsieht, wobei die Bemessungsgrundlage der Steuer in den Beträgen der ausgeschütteten Dividenden, einschließlich der von den gebietsfremden Tochtergesellschaften dieser Gesellschaft stammenden Dividenden, besteht (Urteil vom , AFEP u.a., C‑365/16, EU:C:2017:378, Rn. 35).
35 Folglich ist Art. 4 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/96 in wörtlicher Hinsicht dahin auszulegen, dass das darin vorgesehene Befreiungssystem jede Steuer betrifft, deren Bemessungsgrundlage die Dividenden umfasst, die einer Muttergesellschaft von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen.
36 Als Zweites ist in systematischer Hinsicht darauf hinzuweisen, dass es im vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/123, durch die die Richtlinie 90/435 geändert wurde, deren Neufassung durch die Richtlinie 2011/96 vorgenommen wurde, wie sich aus deren erstem Erwägungsgrund ergibt, heißt, dass Art. 2 der Richtlinie 90/435 festlegt, welche Gesellschaften in ihren Anwendungsbereich fallen, und dass ihr Anhang eine Liste der Gesellschaften enthält, auf die sie Anwendung findet.
37 Insoweit werden in Art. 2 Buchst. a Ziff. iii der Richtlinie 2011/96 und in deren Anhang I Teil B zum Zweck der Bezeichnung der Gesellschaften der Mitgliedstaaten, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen sollen, die einzelstaatlichen Steuern genannt, denen diese Gesellschaften normalerweise unterliegen (vgl. entsprechend Urteil vom , Epson Europe, C‑375/98, EU:C:2000:302, Rn. 22).
38 Somit ist festzustellen, dass Art. 2 der Richtlinie 2011/96 zwar deren persönlichen Anwendungsbereich festlegt, doch ist dieser Artikel entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung nicht für die Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie maßgeblich. Daher bedeutet der Umstand, dass die IRAP nicht zu den in Anhang I Teil B dieser Richtlinie genannten Steuern gehört, auf die ihr Art. 2 Buchst. a Ziff. iii verweist, keineswegs, dass diese Steuer vom sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie ausgeschlossen wäre.
39 Als Drittes ist schließlich in teleologischer Hinsicht festzustellen, dass die Richtlinie 2011/96 – wie sich aus ihrem dritten Erwägungsgrund ergibt – darauf abzielt, die Doppelbesteuerung der von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne auf Ebene der Muttergesellschaft zu beseitigen.
40 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Erreichung des Ziels, dass Gewinnausschüttungen einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft an ihre in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft steuerlich neutral sind, mit der Richtlinie 2011/96, insbesondere mit der Regelung in ihrem Art. 4 Abs. 1 Buchst. a, verhindert werden soll, dass es in wirtschaftlicher Hinsicht zu einer Doppelbesteuerung dieser Gewinne kommt, dass also die ausgeschütteten Gewinne ein erstes Mal bei der Tochtergesellschaft und ein zweites Mal bei der Muttergesellschaft erfasst werden (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom , Schneider Electric u.a., C‑556/20, EU:C:2022:378, Rn. 45, vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom , John Cockerill, C‑135/24, EU:C:2025:176, Rn. 33).
41 Daher ist in Anbetracht dessen, dass die Richtlinie 2011/96 verhindern soll, dass es „in wirtschaftlicher Hinsicht“ zu einer Doppelbesteuerung dieser Gewinne kommt, festzustellen, dass das Befreiungssystem jede Steuer gleich welcher Art erfasst, deren Bemessungsgrundlage auch nur einen Teil dieser Gewinne im Mitgliedstaat des Sitzes der Muttergesellschaft miteinschließt.
42 Im vorliegenden Fall sieht das geänderte gesetzesvertretende Dekret Nr. 446/1997 in Art. 6 Abs. 1 vor, dass bei Finanzintermediären die Bemessungsgrundlage der IRAP durch die algebraische Addition mehrerer Posten bestimmt wird, zu denen nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a das um 50 % der Dividenden gekürzte Nettobankergebnis gehört.
43 Da das Nettobankergebnis alle Dividenden umfasst, wie die italienische Regierung klarstellt, hat Art. 6 Abs. 1 Buchst. a des geänderten gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 446/1997 zur Folge, dass 50 % der Dividenden in die Bemessungsgrundlage der IRAP einbezogen werden, die die Finanzintermediäre zu entrichten haben, unabhängig von der Herkunft dieser Dividenden.
44 Daher ist festzustellen, dass das Befreiungssystem einer nationalen Regelung entgegensteht, die es gestattet, dass Dividenden, die einer Muttergesellschaft von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, in die Bemessungsgrundlage einer Steuer wie der IRAP einbezogen werden, zusätzlich zur Einbeziehung von 5 % dieser Dividenden in die Bemessungsgrundlage einer Körperschaftsteuer wie der IRES.
45 Ferner ist im Hinblick auf das Vorbringen der italienischen Regierung, das im Wesentlichen dahin geht, dass das in der vorstehenden Randnummer genannte Ergebnis zu einer umgekehrten Diskriminierung führen könne, die für eine in Italien ansässige Muttergesellschaft, der Dividenden von ihren italienischen Tochtergesellschaften zuflössen, ungünstig sei und gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen soll, festzustellen, dass der von der italienischen Regierung derart beschriebene Sachverhalt ein rein auf das Inland der Italienischen Republik beschränkter Sachverhalt wäre.
46 Nach der Rechtsprechung kann der im Unionsrecht verankerte Grundsatz der Gleichbehandlung allerdings bei einem rein auf das Inland beschränkten Sachverhalt nicht geltend gemacht werden. In einem solchen Fall haben die nationalen Gerichte zu beurteilen, ob eine nach nationalem Recht verbotene Diskriminierung vorliegt, und gegebenenfalls zu bestimmen, wie sie zu beseitigen ist (Beschluss vom , Mosconi und Ordine degli Ingegneri di Verona e Provincia, C‑3/02, EU:C:2004:224, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung, vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom , PF u.a., C‑830/18, EU:C:2020:275, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 4 der Richtlinie 2011/96 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der es einem Mitgliedstaat, der das Befreiungssystem gewählt hat, gestattet ist, mehr als 5 % der Dividenden, die den in diesem Mitgliedstaat ansässigen Finanzintermediären als Muttergesellschaften im Sinne dieser Richtlinie von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, zu besteuern, und zwar auch dann, wenn diese Besteuerung durch eine Steuer erfolgt, die keine Körperschaftsteuer ist, deren Bemessungsgrundlage aber diese Dividenden oder einen Teil davon umfasst.
Kosten
48 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt: Art. 4 der Richtlinie 2011/96/EU des Rates vom über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der es einem Mitgliedstaat, der das System nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. a gewählt hat, gestattet ist, mehr als 5 % der Dividenden, die den in diesem Mitgliedstaat ansässigen Finanzintermediären als Muttergesellschaften im Sinne dieser Richtlinie von ihren in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Tochtergesellschaften zufließen, zu besteuern, und zwar auch dann, wenn diese Besteuerung durch eine Steuer erfolgt, die keine Körperschaftsteuer ist, deren Bemessungsgrundlage aber diese Dividenden oder einen Teil davon umfasst.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:599
Fundstelle(n):
YAAAJ-97086