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EuGH Urteil v. - C-602/24

Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr – Art. 146 Abs. 1 Buchst. B – Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Europäischen Union versandt oder befördert werden – Beförderung von Gegenständen nach Orten außerhalb der Union nach einer Vereinbarung zwischen dem Erwerber und dem Lieferer über die Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat – Gegenstände, die das Gebiet der Union tatsächlich verlassen haben – Beweis – Versagung der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit

Leitsatz

Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

ist dahin auszulegen, dass

eine ursprünglich vom Lieferer als innergemeinschaftliche Lieferung angemeldete Lieferung von Gegenständen, die der Erwerber ohne dessen Wissen nach Orten außerhalb der Europäischen Union vorgenommen hat, unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung fällt, wenn die in Rede stehende Ausfuhr von den Steuerbehörden anhand von Zolldokumenten festgestellt wurde.

Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 14 Abs. 1, RL 2006/112/EG Art. 131, RL 2006/112/EG Art. 146 Abs. 1 Buchst. b

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der W. sp. z o.o. (im Folgenden: Gesellschaft W) und dem Dyrektor Izby Administracji Skarbowej w W. (Direktor der Finanzverwaltungskammer Warschau, Polen) über die Weigerung des Letzteren, für in den Jahren 2017 und 2018 erfolgte Ausfuhren von Gegenständen nach Orten außerhalb der Europäischen Union eine Befreiung von der Mehrwertsteuer zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

4 Titel IX der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft Steuerbefreiungen. Kapitel 1 dieses Titels besteht nur aus Art. 131, der vorsieht:

„Die Steuerbefreiungen der Kapitel 2 bis 9 werden unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften und unter den Bedingungen angewandt, die die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch festlegen.“

5 Kapitel 6 („Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr“) des Titels IX enthält die Art. 146 und 147 der Mehrwertsteuerrichtlinie. In Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b heißt es:

„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

a)

die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden;

b)

die Lieferungen von Gegenständen, die durch den nicht in ihrem jeweiligen Gebiet ansässigen Erwerber oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, mit Ausnahme der vom Erwerber selbst beförderten Gegenstände zur Ausrüstung oder Versorgung von Sportbooten und Sportflugzeugen sowie von sonstigen Beförderungsmitteln, die privaten Zwecken dienen“.

Polnisches Recht

6 Art. 41 Abs. 6 der Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom (Dz. U. 2017, Pos. 1221) in ihrer auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:

„Der Steuersatz von 0 % wird bei der in den Abs. 4 und 5 genannten Ausfuhr von Gegenständen unter der Voraussetzung angewandt, dass der Steuerpflichtige vor Ablauf der Frist für die Abgabe der Steuererklärung für den betreffenden Besteuerungszeitraum ein Dokument erhalten hat, das die Ausfuhr der Gegenstände aus der Europäischen Union bestätigt.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7 Die Gesellschaft W erfasste in ihren Mehrwertsteuererklärungen für die Jahre 2017 und 2018 Lieferungen von Äpfeln an die A. E. LP, eine Gesellschaft mit Sitz in Großbritannien, die für Mehrwertsteuerzwecke in Lettland registriert war (im Folgenden: A. E. oder Erwerber). Sie meldete diese Lieferungen als innergemeinschaftliche Lieferungen von Gegenständen an, die unter Anwendung des Mehrwertsteuersatzes von 0 % besteuert werden.

8 Gemäß den Transportdokumenten, über die die Gesellschaft W verfügte und die sie im Laufe des Steuerverfahrens vorlegte, sollten die Gegenstände aus Polen durch in Belarus, Russland und Polen ansässige Beförderer zu ihren Bestimmungsorten in Litauen transportiert und geliefert werden. A. E. sollte den Transport organisieren.

9 Die polnischen Steuerbehörden stellten jedoch fest, dass der Erwerber A. E. die Äpfel direkt von Polen nach Belarus ausgeführt habe. Basierend u.a. auf Angaben der lettischen Steuerbehörden waren die polnischen Behörden der Ansicht, dass es sich bei A. E. um einen unerreichbaren und unredlichen Marktteilnehmer handele. Die lettischen Steuerbehörden bestätigten, dass A. E. einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen von der Gesellschaft W sowie Exporte in Drittstaaten angemeldet hatte. Des Weiteren behaupten die polnischen Steuerbehörden nicht, dass es in der Lieferkette zu einer Steuerhinterziehung oder einem Missbrauch durch die Gesellschaft W gekommen wäre.

10 Die polnischen Steuerbehörden sind der Auffassung, dass die betreffenden Lieferungen keinen innergemeinschaftlichen Charakter gehabt hätten, da die Gegenstände nicht in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats der Union verbracht worden seien. Außerdem habe die Gesellschaft W nicht ordnungsgemäß überprüft, wohin die Gegenstände geliefert würden, sondern habe sich mit einer formalen Bestätigung der Durchführung ihrer Lieferung nach Litauen auf der Grundlage der Unterschrift des Fahrers, der den Transport der Gegenstände vorgenommen habe, mit dem Stempel des Transportunternehmens begnügt. Die Behörden waren daher der Ansicht, dass der Verkauf der Gegenstände durch die Gesellschaft W an A. E. eine inländische Lieferung darstelle, die dem Mehrwertsteuersatz von 5 % unterliege, und verhängten außerdem eine Sanktion in Höhe des Satzes von 30 %.

11 Die Gesellschaft W focht diese Entscheidung vor dem Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen), dem vorlegenden Gericht, an und machte geltend, da die polnischen Steuerbehörden festgestellt hätten, dass die Gegenstände von einem im Namen und für Rechnung des Vertragspartners handelnden Marktteilnehmer nach Belarus ausgeführt worden seien, müsse der Umsatz in eine indirekte Ausfuhr umklassifiziert werden, die mit dem Steuersatz von 0 % besteuert werde.

12 Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) gab der Klage statt und hob die Entscheidung der polnischen Steuerbehörden auf. Unter Hinweis darauf, dass A. E. von der Gesellschaft W das Recht erworben habe, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen, und sie nach Belarus ausgeführt habe, stellte das vorlegende Gericht fest, da die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Verfahrens der indirekten Ausfuhr erfüllt worden seien, verlange der Grundsatz der steuerlichen Neutralität die Anwendung des Mehrwertsteuersatzes von 0 %, obwohl der Steuerpflichtige die formellen Anforderungen im Zusammenhang mit der Ausfuhr nicht erfüllt habe.

13 Die polnische Steuerbehörde legte Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) ein, der das Urteil aufhob. Er hielt die Rügen in Bezug auf Begründungsmängel des Urteils für begründet und verwies die Rechtssache zur erneuten Entscheidung an den Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) zurück.

14 In seinem Urteil formulierte der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) jedoch eine Rechtsauffassung bezüglich der Möglichkeit, im vorliegenden Fall die innergemeinschaftliche Lieferung in eine indirekte Ausfuhr umzuklassifizieren.

15 Der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) wies darauf hin, dass die bloße Entscheidung des Erwerbers, die dieser nach Abschluss der Geschäftsvereinbarungen mit dem Lieferer von Gegenständen, nämlich der Gesellschaft W, und unabhängig von Letzterer getroffen habe, auf der Grundlage einer in seinem Namen und für seine Rechnung abgegebenen Zollanmeldung Gegenstände nach Orten außerhalb der Union auszuführen, den Lieferer nicht berechtige, daraus abzuleiten und zu erwarten, dass die inländische Lieferung in eine (gegebenenfalls indirekte) Ausfuhr umdefiniert werde, sofern zur Zeit der Vornahme der Lieferung zwischen den an dem Umsatz beteiligten Parteien keine Absicht und kein Wille zu einer „Ausfuhrlieferung“ bestanden habe.

16 Unter diesen Umständen hat der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass eine Lieferung von Gegenständen, die von einem Steuerpflichtigen (Lieferer) als innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen angemeldet wurde, als Ausfuhrlieferung anzusehen ist, wenn der Erwerber die Gegenstände nicht in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats, sondern nach Orten außerhalb der Union ausgeführt hat?

  2. Ist es für die Anwendung der Steuerbefreiung nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie in der in Frage 1 beschriebenen Situation von Bedeutung, dass der Erwerber der Gegenstände diese nicht im Einvernehmen mit dem Steuerpflichtigen (Lieferer) und auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Absprachen, sondern auf der Grundlage einer eigenständigen Entscheidung und ohne Wissen des Steuerpflichtigen (Lieferers) nach Orten außerhalb der Union ausgeführt hat?

  3. Ist es für die Anwendung der Steuerbefreiung nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie in der in Frage 1 beschriebenen Situation von Bedeutung, dass sich die Ausfuhr der Gegenstände nach Orten außerhalb der Union aus den Feststellungen der Steuerbehörden, die auf den Zolldokumenten beruhen, ergibt und der Inhalt der Transportdokumente, über die der Steuerpflichtige (Lieferer) verfügt, diesen Feststellungen nicht entspricht?

Zu den Vorlagefragen

17 Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine ursprünglich vom Lieferer als innergemeinschaftliche Lieferung angemeldete Lieferung von Gegenständen, die der Erwerber ohne dessen Wissen nach Orten außerhalb der Union vorgenommen hat, unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung fällt, wenn die in Rede stehende Ausfuhr von den Steuerbehörden anhand von Zolldokumenten festgestellt wurde.

18 Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung oder durch den Empfänger oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden, von der Steuer befreien. Die Vorschrift ist in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie zu sehen, wonach als „Lieferung von Gegenständen“ die Übertragung der Befähigung gilt, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 19, und vom , BAKATI PLUS, C‑656/19, EU:C:2020:1045, Rn. 55).

19 Die Steuerbefreiung für Lieferungen von Gegenständen, die nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert werden, soll die Besteuerung der betreffenden Lieferungen von Gegenständen an deren Bestimmungsort sicherstellen, d.h. an dem Ort, an dem die Erzeugnisse verbraucht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20 Wie der Gerichtshof bereits wiederholt entschieden hat, ergibt sich aus den in Rn. 18 des vorliegenden Urteils genannten Vorschriften und insbesondere aus dem in Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie verwendeten Begriff „versandt“, dass die Ausfuhr eines Gegenstands durchgeführt worden und die Steuerbefreiung der Ausfuhrlieferung anwendbar ist, wenn das Recht, wie ein Eigentümer über diesen Gegenstand zu verfügen, auf den Erwerber übertragen worden ist, der Lieferant nachweist, dass der Gegenstand an einen Ort außerhalb der Union versandt oder befördert worden ist, und der Gegenstand aufgrund dieses Versands oder dieser Beförderung das Hoheitsgebiet der Union physisch verlassen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 21, und vom , BAKATI PLUS, C‑656/19, EU:C:2020:1045, Rn. 56).

21 Der Gerichtshof hat auch bereits entschieden, dass der Begriff „Lieferung von Gegenständen“ einen objektiven Charakter hat und unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar ist. Die Steuerverwaltung ist dabei nicht verpflichtet, Untersuchungen anzustellen, um die Absicht des betroffenen Steuerpflichtigen zu ermitteln, oder gar die Absicht eines von diesem Steuerpflichtigen verschiedenen, an derselben Lieferkette beteiligten Händlers zu berücksichtigen (Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 22).

22 Folglich stellen Umsätze wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Lieferungen von Gegenständen im Sinne von Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie dar, wenn sie die in Rn. 20 des vorliegenden Urteils dargelegten objektiven Kriterien erfüllen, auf denen dieses Konzept beruht.

23 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass das erste Kriterium für das Vorliegen einer Ausfuhr von Gegenständen im vorliegenden Fall erfüllt ist, da feststeht, dass der Lieferer das Recht, über die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Äpfel wie ein Eigentümer zu verfügen, an den Erwerber übertragen hat.

24 Was das zweite Kriterium betrifft, wonach der Lieferer nachweisen muss, dass der Gegenstand nach Orten außerhalb der Union versandt oder befördert worden ist, geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Lieferer im Laufe des Steuerverfahrens Dokumente vorlegte, die belegen, dass die Gegenstände vom Beladeort in Polen zu ihren Bestimmungsorten in Litauen transportiert und geliefert werden sollten. Die polnischen Steuerbehörden stellten jedoch fest, dass die Lieferung der Äpfel nicht in diesen Mitgliedstaat, sondern nach Orten außerhalb des Unionsgebiets erfolgt sei.

25 Die Behörden schlossen daraus, dass die ursprünglich vorgesehene innergemeinschaftliche Lieferung, für die ein Mehrwertsteuersatz von 0 % gegolten habe, in Wirklichkeit nicht durchgeführt worden sei. Sie kamen daher zu dem Ergebnis, der Lieferer habe nicht ordnungsgemäß überprüft, wohin die von ihm verkauften Gegenstände geliefert würden, sondern habe sich mit einer formalen Bestätigung der Durchführung ihrer Lieferung nach Litauen auf der Grundlage der Unterschrift des Fahrers, der den Transport der Gegenstände vorgenommen habe, und des Stempels des Transportunternehmens begnügt.

26 Allerdings sind solche Umstände für die Einstufung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatzes als Ausfuhr im Sinne von Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht relevant.

27 Zum einen war nämlich, wie in Rn. 23 des vorliegenden Urteils ausgeführt, das Recht, wie ein Eigentümer über die Gegenstände zu verfügen, zuvor vom Lieferer auf den Erwerber übertragen worden, der ihre Lieferung gemäß der zwischen ihnen geschlossenen Vereinbarung vornehmen sollte. Unter diesen Umständen kann dem Lieferer nicht vorgeworfen werden, dass er die Durchführung der Lieferung auf der Grundlage der Unterschrift des Fahrers, der den Transport der in Rede stehenden Gegenstände vorgenommen hat, und des Stempels des Transportunternehmens auf den Transportdokumenten bestätigt hat.

28 Zum anderen hat der Begriff „Lieferung von Gegenständen“, wie in Rn. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt, einen objektiven Charakter und ist unabhängig von Zweck und Ergebnis der betroffenen Umsätze anwendbar. Daher kommt es darauf an, dass die objektiven Tatbestandsmerkmale der in Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung erfüllt sind. Dass sich die Parteien ursprünglich auf eine innergemeinschaftliche Lieferung geeinigt haben, die letztlich nicht stattgefunden hat, und dass die Lieferung nach Orten außerhalb der Union ohne Wissen des Lieferers erfolgt ist, sind subjektive Elemente, die somit grundsätzlich unerheblich sind.

29 Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Lieferung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Äpfel nach Orten außerhalb der Union festgestellt worden ist. Der Umstand, dass der Nachweis dieser Lieferung von den polnischen Steuerbehörden und nicht vom Lieferer erlangt wurde, ist für die Einstufung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Umsatzes als Ausfuhr im Sinne von Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie unerheblich.

30 Unter diesen Umständen ist das zweite in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannte Kriterium als erfüllt anzusehen.

31 Was das dritte Kriterium anbelangt, wonach der Gegenstand aufgrund eines Versands oder einer Beförderung das Hoheitsgebiet der Union physisch verlassen haben muss, steht fest, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Äpfel vom Erwerber oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Union befördert wurden.

32 Da ebenso feststeht, dass kein Konsum dieser Äpfel im Unionsgebiet stattgefunden hat, kann keine Rede davon sein, dass der Lieferer eine Lieferung im Inland vorgenommen hätte.

33 Die in Art. 146 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung soll nämlich die Besteuerung der betreffenden Lieferungen von Gegenständen an deren Bestimmungsort sicherstellen, d.h. an dem Ort, an dem die ausgeführten Erzeugnisse verbraucht werden (Urteil vom , Vinš, C‑275/18, EU:C:2019:265, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34 Sind somit die materiellen Voraussetzungen erfüllt, erfordert der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, dass die Mehrwertsteuerbefreiung gewährt wird, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formalen Anforderungen nicht genügt hat (Urteil vom , BAKATI PLUS, C‑656/19, EU:C:2020:1045, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass die Einstufung eines Umsatzes als „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne von Art. 146 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht deshalb abgelehnt werden kann, weil der Versand oder die Beförderung außerhalb der Union ohne Wissen des Lieferers vorgenommen und von den Steuerbehörden und nicht vom Lieferer selbst festgestellt wurde.

36 Die polnische Regierung wendet ein, die im Mehrwertsteuergesetz vorgesehene Voraussetzung, dass der steuerpflichtige Lieferer ein Dokument erhalten müsse, das die Ausfuhr der Gegenstände nach Orten außerhalb der Union bestätige, sei insbesondere der Notwendigkeit geschuldet, Steuerhinterziehungen zu verhindern. Da Ausfuhrumsätze unter eine Präferenzregelung im Bereich der Mehrwertsteuer fielen, d.h. unter Beibehaltung des Rechts auf Vorsteuerabzug von dieser Steuer befreit seien und daher nach dem Mehrwertsteuergesetz in den Genuss eines Mehrwertsteuersatzes von 0 % kämen, bestehe die erhebliche Gefahr, dass Wirtschaftsteilnehmer versuchten, diesen Vorteil für Umsätze zu nutzen, bei denen die Gegenstände in Wirklichkeit nicht nach Orten außerhalb der Union ausgeführt worden seien.

37 Es ist zwar Sache der Mitgliedstaaten, gemäß Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung dieser Befreiungen und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung oder Missbrauch die Bedingungen festzulegen, unter denen sie Ausfuhrumsätze befreien. Die Mitgliedstaaten müssen bei der Ausübung ihrer Befugnisse gleichwohl die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Unionsrechtsordnung sind und zu denen u.a. der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zählt (Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 26).

38 In Bezug auf diesen Grundsatz ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Maßnahme dann über das hinausgeht, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, wenn sie das Recht auf Mehrwertsteuerbefreiung im Wesentlichen von der Einhaltung formaler Pflichten abhängig macht, ohne dass die materiellen Voraussetzungen berücksichtigt würden und insbesondere ohne dass in Betracht zu ziehen wäre, ob diese erfüllt sind. Die Umsätze sind nämlich unter Berücksichtigung ihrer objektiven Merkmale zu besteuern (Urteil vom , BAKATI PLUS, C‑656/19, EU:C:2020:1045, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39 Wie die Europäische Kommission geltend macht, können die Mitgliedstaaten zwar nach Art. 131 der Mehrwertsteuerrichtlinie formelle Anforderungen stellen, doch dürfen diese Bedingungen den Anwendungsbereich der in der Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen nicht ändern. Es wäre unverhältnismäßig, die Steuerbefreiung bei einer Ausfuhr allein deshalb zu versagen, weil der Steuerpflichtige nicht über die richtigen Ausfuhrdokumente verfügt, wenn die Steuerbehörden wie im vorliegenden Fall sicher sind, dass die Gegenstände ausgeführt wurden. Eine solche Versagung würde über das hinausgehen, was erforderlich ist, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, da die Mehrwertsteuerbefreiung von übermäßigen formellen Anforderungen abhängig gemacht würde, ohne dass geprüft würde, ob die materiellen Kriterien für die Steuerbefreiung tatsächlich erfüllt sind.

40 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gibt es nur zwei Fälle, in denen die Nichteinhaltung einer formellen Anforderung den Verlust des Rechts auf Mehrwertsteuerbefreiung nach sich ziehen kann (Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41 Zum einen kann der Verstoß gegen eine formelle Anforderung zur Versagung der Mehrwertsteuerbefreiung führen, wenn er den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 Jedoch ist dies im Ausgangsverfahren, in dem – wie in den Rn. 23 bis 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt – alle materiellen Voraussetzungen von Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt sind, offensichtlich nicht der Fall.

43 Zum anderen kann sich ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt hat, für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verstößt es nicht gegen das Unionsrecht, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt. Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diese zu verhindern, müsste ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (Urteil vom , Unitel, C‑653/18, EU:C:2019:876, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44 Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht jedoch darauf hingewiesen, dass die Steuerbehörden nicht behaupten, dass es in der Lieferkette zu einer Steuerhinterziehung oder einem Missbrauch durch den Lieferer gekommen wäre. Außerdem ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten kein Hinweis auf ein betrügerisches Verhalten.

45 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass dann, wenn die Voraussetzungen der Steuerbefreiung bei der Ausfuhr nach Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie, u.a. die Verbringung der betroffenen Gegenstände aus dem Zollgebiet der Union, nachgewiesen sind, für eine solche Lieferung keine Mehrwertsteuer geschuldet wird und grundsätzlich keine Gefahr eines Steuerbetrugs oder finanzieller Verluste mehr besteht, die die Besteuerung des betroffenen Umsatzes rechtfertigen kann (Urteil vom , BAKATI PLUS, C‑656/19, EU:C:2020:1045, Rn. 82 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass eine ursprünglich vom Lieferer als innergemeinschaftliche Lieferung angemeldete Lieferung von Gegenständen, die der Erwerber ohne dessen Wissen nach Orten außerhalb der Union vorgenommen hat, unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung fällt, wenn die in Rede stehende Ausfuhr von den Steuerbehörden anhand von Zolldokumenten festgestellt wurde.

Kosten

47 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 146 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

ist dahin auszulegen, dass

eine ursprünglich vom Lieferer als innergemeinschaftliche Lieferung angemeldete Lieferung von Gegenständen, die der Erwerber ohne dessen Wissen nach Orten außerhalb der Europäischen Union vorgenommen hat, unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Steuerbefreiung fällt, wenn die in Rede stehende Ausfuhr von den Steuerbehörden anhand von Zolldokumenten festgestellt wurde.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:627

Fundstelle(n):
NAAAJ-97016