Suchen Barrierefrei
BAG Beschluss v. - 4 ABR 35/23

Tarifkollision - Feststellung des Mehrheitstarifvertrags

Leitsatz

Die in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG angeordnete Verdrängung eines Minderheitstarifvertrags tritt im Fall einer Tarifkollision unmittelbar - ohne rechtskräftigen Beschluss nach § 99 Abs. 3 ArbGG - kraft Gesetzes ein.

Instanzenzug: Az: 14 BV 314/21 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht München Az: 2 TaBV 22/23 Beschluss

Gründe

1A. Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach § 99 ArbGG über nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbare Tarifverträge.

2Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL, Beteiligte zu 1.) und die zu 2. beteiligte Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vereinbarten jeweils mit dem Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister e.V. (AGV MOVE, Beteiligter zu 3.) eine Vielzahl von Tarifverträgen für Unternehmen des Konzerns der Deutschen Bahn AG (DB AG). Die zu 4. beteiligte DB Regio AG ist ein Tochterunternehmen der DB AG und Mitglied des AGV MOVE. Bei ihr besteht der Wahlbetrieb R.1.6. Oberbayern (Wahlbetrieb).

3Bis zum wandte die DB Regio AG in dem Wahlbetrieb die von beiden Gewerkschaften geschlossenen Tarifverträge nebeneinander an, seither nur noch diejenigen der EVG. Dem ging ein Schreiben der DB an die Beschäftigten des Wahlbetriebs voraus, in welchem sie diese darüber informierte, dass die Umsetzung des Tarifeinheitsgesetzes geplant sei und nach ihrer Auffassung die EVG im Wahlbetrieb die Mehrheit der Mitglieder organisiere.

4Die GDL und der AGV MOVE einigten sich im September 2021 auf zahlreiche Tarifverträge, die zu Beginn des Jahres 2022 unterzeichnet wurden. Im Oktober 2021 schlossen die EVG und der AGV MOVE ein neues Tarifwerk ab. Die von der EVG unterzeichneten Tarifverträge gingen dem AGV MOVE, der diese bereits zuvor unterzeichnet hatte, am zu. Die DB Regio AG wandte nunmehr allein diese Tarifverträge im Wahlbetrieb an.

5Die GDL hat geltend gemacht, zum als maßgebendem Kollisionszeitpunkt hätten im Wahlbetrieb mehr Mitglieder der GDL als der EVG in einem Arbeitsverhältnis gestanden. Daher handele es sich bei den mit ihr geschlossenen Tarifverträgen um die Mehrheitstarifverträge iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG, deren Rechtsnormen allein anwendbar seien.

6Die GDL hat im Beschwerdeverfahren - soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung - zuletzt sinngemäß beantragt,

7Die weiteren Beteiligten haben die Zurückweisung der Anträge beantragt und den Standpunkt eingenommen, die GDL habe keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vorgetragen, sie sei zum maßgebenden Zeitpunkt die Mehrheitsgewerkschaft iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG gewesen.

8Das Arbeitsgericht hat den - erstinstanzlich allein verfahrensgegenständlichen - Antrag zu I. abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Beschwerde der GDL, nachdem diese das Verfahren um den Antrag zu II. erweitert hat, mit Beschluss vom zurückgewiesen.

9In der Rechtsbeschwerdeinstanz hat die GDL ihre Anträge im Hinblick auf den Abschluss neuer Tarifverträge zwischen der EVG und dem AGV MOVE am geändert. Mit den ursprünglichen Anträgen hat sie die Feststellung lediglich noch bis zum und zugleich die entsprechenden Feststellungen antragserweiternd auch für die Zeit ab dem begehrt. Mit weiterem Schriftsatz vom hat die GDL unter Hinweis auf den Neuabschluss „wesentlicher Tarifverträge“ mit dem AGV MOVE am die in der Rechtsbeschwerdeinstanz antragserweiternd erhobenen Feststellungsanträge auf die Zeit bis zum begrenzt und für den anschließenden Zeitraum weitere Feststellungsanträge hinsichtlich der betreffenden Tarifverträge gestellt.

10Die GDL ist der Auffassung, die zeitliche Befristung der ursprünglich unbefristeten Anträge sei als Antragsbeschränkung nach § 264 Nr. 2 ZPO in der Rechtsbeschwerdeinstanz zulässig. An das Feststellungsinteresse für einen abgelaufenen Zeitraum seien bei einem Antrag nach § 99 ArbGG aufgrund des Gebots des effektiven Rechtsschutzes keine hohen Anforderungen zu stellen. Der Abschluss weiterer Tarifverträge vor Beendigung eines Verfahrens nach § 99 ArbGG stelle einen typischen Verfahrensablauf dar. Es bestehe die Gefahr, dass die DB Regio AG - ein Unternehmen in staatlicher Hand - auch zukünftig ohne verlässliche Tatsachenbasis die Tarifverträge der GDL unangewendet lasse. Zudem könnten sowohl bestimmte Arbeitnehmer als auch sie selbst noch Rechte aus diesen Zeiträumen ableiten. Beschwert sei die GDL jedenfalls insoweit, als vier der genannten Tarifverträge seit Beginn des Verfahrens unverändert geblieben seien. Die Zulässigkeit der Antragserweiterungen ergebe sich aus § 264 Nr. 3 ZPO.

11Die GDL hat in der Rechtsbeschwerdeinstanz zuletzt sinngemäß beantragt,

12Die weiteren Beteiligten haben die Ansicht vertreten, die GDL habe nicht ausreichend konkret zu ihrem Interesse an einer vergangenheitsbezogenen Feststellung vorgetragen und die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde beantragt.

13B. Die zulässige Rechtsbeschwerde der GDL ist unbegründet. Die von ihr in der Rechtsbeschwerdeinstanz gestellten Anträge beruhen auf unzulässigen Antragsänderungen sowie Antragserweiterungen und fallen dem Senat daher nicht zur Entscheidung an (unter B II, Rn. 20 ff.). Der ursprüngliche Antrag zu I., über den daher zu entscheiden ist, ist unzulässig. Der dazu vormalig hilfsweise gestellte Antrag zu II. ist nicht zur Entscheidung angefallen (unter B III, Rn. 45 ff.).

14I. Im vorliegenden Beschlussverfahren sind neben der antragstellenden GDL und dem AGV MOVE die EVG sowie die DB Regio AG beteiligt. Arbeitnehmer des Wahlbetriebs und der hierfür gebildete Betriebsrat sind hingegen nicht zu hören.

151. Nach § 99 Abs. 2 ArbGG gelten die Vorschriften des Beschlussverfahrens hinsichtlich der Beteiligung entsprechend (BT-Drs. 18/4062 S. 16). Nach § 83 Abs. 3 ArbGG haben in einem Beschlussverfahren neben der Antragsstellerin diejenigen Personen, Vereinigungen oder Stellen ein Recht auf Anhörung, die durch die Entscheidung in einem Beschlussverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 6 ArbGG unmittelbar in eigenen Rechten betroffen sein können (vgl.  - Rn. 26 mwN, BAGE 180, 290).

162. Danach sind neben der antragstellenden GDL alle weiteren Vertragsparteien der kollidierenden Tarifverträge beteiligt. Im Falle einer stattgebenden Entscheidung steht in den Grenzen des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG als kontradiktorisches Gegenteil auch die Verdrängung der Tarifverträge der Minderheitsgewerkschaft fest (vgl. Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 461; GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 32).

173. Beteiligt ist ferner die DB Regio AG als Inhaberin des Wahlbetriebs (vgl. GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 18a; NK-GA/Bepler 2. Aufl. TVG § 4a Rn. 69; aA Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 454; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4a Rn. 280). Diese ist an beide Tarifwerke gebunden (§ 4 Abs. 1 Satz 1 TVG) und wird durch eine stattgebende Entscheidung unmittelbar in ihrer materiell-rechtlichen Stellung berührt (sh. auch ua. - Rn. 108).

184. Die tarifgebundenen betriebsangehörigen Arbeitnehmer sind nicht beteiligt (iE ebenso Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 454; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4a Rn. 280). Diese sind zwar ebenso wie die Arbeitgeberin betroffen. Die Begründung oder Beendigung von Arbeitsverhältnissen und eine Veränderung der Tarifgebundenheit einzelner Arbeitnehmer im Laufe eines Verfahrens nach § 99 ArbGG würden aber zu einem kaum überschaubaren Wechsel der anzuhörenden Personen führen. Das steht einem rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Verfahrensabschluss entgegen (zu diesem Gesichtspunkt im Verfahren nach § 97 ArbGG  - Rn. 60, BAGE 136, 302). Weiterhin müsste bereits für die Durchführung des Beschlussverfahrens ermittelt werden, welche Arbeitnehmer tarifgebunden sind. Das würde der in § 58 Abs. 3 ArbGG zum Ausdruck gebrachten Intention des Gesetzgebers zuwiderlaufen, die Gewerkschaftszugehörigkeit möglichst nicht offenzulegen (GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 19).

195. Nicht zu beteiligen ist schließlich der im Wahlbetrieb gebildete Betriebsrat. Dieser kann von einer Entscheidung im Verfahren nach § 99 ArbGG allenfalls mittelbar betroffen sein (allg. Auff., sh. nur Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 455).

20II. Die Revision ist unzulässig, soweit die GDL ihren ursprünglich unbeschränkten Feststellungsantrag, der den Zeitraum ab dem betraf, geändert und die weiteren Anträge zu III. und zu V. gestellt hat. Die Anträge zu II., zu IV. und zu VI. fallen nicht zur Entscheidung an.

211. Antragserweiterungen und sonstige Antragsänderungen sind im Rechtsbeschwerdeverfahren nach § 559 Abs. 1 ZPO grundsätzlich unzulässig. Der Schluss der Anhörung in zweiter Instanz bildet nicht nur bezüglich des tatsächlichen Vorbringens, sondern auch hinsichtlich der Anträge der Beteiligten die Entscheidungsgrundlage für das Rechtsbeschwerdegericht. Antragsänderungen oder -erweiterungen können in der Rechtsbeschwerdeinstanz nur ausnahmsweise aus prozessökonomischen Gründen zugelassen werden, wenn es sich dabei um Fälle des § 264 Nr. 2 ZPO handelt, der neue Sachantrag sich auf den in der Beschwerdeinstanz festgestellten oder von den Beteiligten übereinstimmend vorgetragenen Sachverhalt stützen kann, sich das rechtliche Prüfprogramm nicht wesentlich ändert und die Verfahrensrechte der anderen Beteiligten durch eine Sachentscheidung nicht verkürzt werden ( - Rn. 12 mwN).

222. Diese Voraussetzungen liegen hinsichtlich des in der Rechtsbeschwerdeinstanz gestellten Antrags zu I., mit dem nicht mehr eine gegenwartsbezogene, sondern ausschließlich eine vergangenheitsbezogene Feststellung über die nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifverträge begehrt wird, nicht vor. Hierdurch würde das für die Sachentscheidung erforderliche Prüfprogramm erweitert. Für die Zulässigkeit einer rein vergangenheitsbezogenen Feststellung ist zusätzlich ein besonderes Rechtsschutzinteresse erforderlich, dessen Darlegung weitere Feststellungen erfordert. Dies ergibt sich aus Wirkung und Zweck des Verfahrens nach § 99 ArbGG.

23a) Das besondere Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG dient dem Zweck, den sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Schutz der Tarifvertragsparteien auf Anwendung der von ihnen geschlossenen Tarifverträge zu flankieren, indem diesen eine Möglichkeit eröffnet wird, im Falle einer Tarifkollision mit Wirkung erga omnes feststellen zu lassen, welcher Tarifvertrag in einem bestimmten Betrieb anzuwenden ist.

24aa) Die nach § 99 Abs. 1 ArbGG antragsbefugten Tarifvertragsparteien werden durch das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG hinsichtlich ihrer koalitionsspezifischen Verhaltensweisen geschützt. Dies umfasst insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke steht. Das Aushandeln von Tarifverträgen ist ein wesentlicher Zweck der Koalitionen. Geschützt ist insbesondere der Abschluss von Tarifverträgen. Dies schließt den Bestand und die Anwendung abgeschlossener Tarifverträge ein ( ua. - Rn. 131, BVerfGE 146, 71; - 1 BvR 1109/21 ua. - Rn. 138). Geschützt ist auch die Anwendung der Tarifverträge in den von ihnen erfassten Individualarbeitsverhältnissen. Die von Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie umfasst die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge für alle Tarifgebundenen ( ua. - Rn. 108).

25bb) Mit der Anordnung der Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geht eine Beeinträchtigung mit der Wirkung eines Eingriffs in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Koalitionsfreiheit einher. Dieser ist bei der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung und Handhabung der Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes grundsätzlich gerechtfertigt (vgl. ua. - Rn. 135, 141, BVerfGE 146, 71).

26cc) Die in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG angeordnete Verdrängung des Minderheitstarifvertrags setzt keine Entscheidung im Beschlussverfahren nach § 99 Abs. 1 ArbGG voraus. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit dem Verfahren nach § 99 ArbGG den Tarifvertragsparteien die Möglichkeit eingeräumt, unter Geltung des eingeschränkten Amtsermittlungs- bzw. Untersuchungsgrundsatzes (§ 99 Abs. 2 iVm. § 83 Abs. 1 Satz 1 ArbGG) mit erga-omnes-Wirkung positiv feststellen zu lassen, ob ein mit ihnen geschlossener Tarifvertrag im jeweiligen Betrieb als Mehrheitstarifvertrag iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anzuwenden ist (Berg/Kocher/Schumann-Berg Tarifvertragsgesetz und Arbeitskampfrecht 7. Aufl. § 4a TVG Rn. 37; GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 4a; HWK/Henssler 11. Aufl. § 4a TVG Rn. 37; Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 301; Giesen RdA 2022, 323, 325; Ubber RdA 2016, 361, 365; aA Bepler RdA 2022, 189, 198; MHdB ArbR/Klumpp 6. Aufl. § 256 Rn. 51; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4a Rn. 253 ff.).

27(1) Hierfür sprechen sowohl der Wortlaut von § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG als auch derjenige von § 99 ArbGG.

28(a) Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 TVG „sind“ - soweit sich die Geltungsbereiche nicht inhaltsgleicher Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften überschneiden (kollidierende Tarifverträge) - im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifvertrags derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des zuletzt abgeschlossenen kollidierenden Tarifvertrags im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat (Mehrheitstarifvertrag), soweit sich aus § 4a Abs. 2 Satz 2 Halbs. 2 TVG nichts anderes ergibt. Hätte der Gesetzgeber die Verdrängungswirkung von einem Beschluss nach § 99 ArbGG abhängig machen wollen, wäre die Aufnahme eines solchen Erfordernisses in § 4a TVG zu erwarten gewesen. Ferner spricht der Umstand, dass der Gesetzgeber als maßgebenden Zeitpunkt der Kollision in § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG auf den Abschluss des kollidierenden Tarifvertrags abgestellt hat, dafür, auch die Verdrängungswirkung auf diesen Zeitpunkt zu beziehen ( ua. - Rn. 176, BVerfGE 146, 71).

29(b) Ein solches Verständnis legt auch der Wortlaut von § 99 Abs. 3 ArbGG nahe. Danach wirkt der Beschluss über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG „anwendbaren“ Tarifvertrag für und gegen jedermann. Durch diese Formulierung hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG der Entscheidung hierüber zeitlich vorgelagert ist.

30(2) Sinn und Zweck des Tarifeinheitsgesetzes bestätigen diese Sichtweise. Das Gesetz dient dazu, die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie durch die Auflösung von Tarifkollisionen zu sichern. Hierzu hat der Gesetzgeber die Sanktion der Verdrängung eines Tarifvertrags bei Überschneidungen normiert, um die Gewerkschaften zur Kooperation zu bewegen und es so gar nicht erst zu Tarifkollisionen kommen zu lassen ( ua. - Rn. 160, BVerfGE 146, 71). Diese Funktion kann die Verdrängungswirkung nur dann effektiv erfüllen, wenn sie im Kollisionsfall ipso iure und nicht erst nach rechtskräftigem Abschluss eines Verfahrens nach § 99 ArbGG eingreift. Würde die Kollisionsregel letzteres voraussetzen, käme sie faktisch nur selten zum Tragen. Das entspräche erkennbar nicht dem Willen des Gesetzgebers (Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 303; GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 4a). Der Gesetzgeber hat - anders als etwa bei der Besetzung der Einigungsstelle nach § 100 ArbGG - davon abgesehen, spezifisch verfahrensbeschleunigende Vorschriften zu normieren. Es ist deswegen im regulären Instanzenzug nicht gesichert, dass bei überschaubaren Laufzeiten eines Tarifvertrags die Anwendbarkeit kollidierender Tarifverträge während dessen Laufzeit festgestellt wird ( ua. - Rn. 213, aaO).

31(3) Eine abweichende Auslegung dahin, die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG setze einen Beschluss nach § 99 ArbGG voraus, ist auch nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten (aA Sondervotum der Richterin Baer und des Richters Paulus Rn. 17 zur Entscheidung des ua. - BVerfGE 146, 71). Neben der Vermeidung einer Verdrängung durch den Abschluss gleichlautender Tarifverträge haben die Tarifvertragsparteien die Möglichkeit, § 4a TVG einvernehmlich abzubedingen ( ua. - Rn. 177 ff., aaO;  - Rn. 48, BAGE 180, 55). Außerdem haben sie Einfluss auf die Laufzeiten der Tarifverträge sowie ein Antragsrecht im Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG und können so den Rechtsschutz selbst beeinflussen (vgl. ua. - Rn. 213, aaO). Zudem ist es den Parteien eines Individualprozesses - trotz der fehlenden Antragsbefugnis im Verfahren nach § 99 ArbGG - nicht verwehrt, sich auf die Wirkung des § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG zu berufen, die ihnen bekannten, für die Anwendbarkeit eines Tarifvertrags relevanten Umstände zu substantiieren und entsprechende Beweisanträge zu stellen (vgl. ua. - Rn. 214, aaO). Von einer Aussetzungspflicht hat der Gesetzgeber in § 99 ArbGG - anders als in § 97 Abs. 5 ArbGG und § 98 Abs. 6 ArbGG - abgesehen.

32b) Im Beschlussverfahren nach § 99 ArbGG ist im Rahmen der Zulässigkeit - neben der Bestimmtheit des Antrags - grundsätzlich lediglich das Vorliegen der Antragsbefugnis zu prüfen. Ob sich diese allein aus § 99 Abs. 1 ArbGG ergibt oder im Fall des Antrags einer Gewerkschaft - mit Rücksicht auf Sinn und Zweck des Verfahrens (oben Rn. 23 ff.) - zudem erforderlich ist, dass der Arbeitgeber einen von dieser geschlossenen - kollidierenden - Tarifvertrag im Betrieb nicht kraft normativer Bindung auf deren Mitglieder anwendet, obwohl die allgemeinen Geltungsvoraussetzungen des § 4 Abs. 1 TVG erfüllt sind (dafür etwa GK-ArbGG/Ahrendt Stand Januar 2025 § 99 Rn. 13; Germelmann/Matthes/Prütting/Schlewing/Günther-Gräff ArbGG 10. Aufl. § 99 Rn. 9, jeweils mwN), bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

33Jedenfalls setzt die Zulässigkeit eines Antrags, der auf die Feststellung des gegenwärtig nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifvertrags abzielt, kein darüber hinausgehendes Rechtsschutzinteresse der Antragstellerin voraus. Dieses ergibt sich für die Zeit bis zum nächsten Kollisionszeitpunkt vielmehr ohne Weiteres aus dem vom Gesetzgeber in § 99 Abs. 1 ArbGG anerkannten Bedürfnis der Tarifvertragsparteien nach Klärung, welcher Tarifvertrag der Mehrheitstarifvertrag iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG ist.

34c) Ist ein Antrag hingegen auf die Feststellung des nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifvertrags in einem abgeschlossenen Zeitraum gerichtet, der vor dem letzten Kollisionszeitpunkt liegt, setzt dessen Zulässigkeit voraus, dass an der begehrten Feststellung noch ein besonderes Rechtsschutzinteresse seitens der Antragstellerin besteht.

35aa) Nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG führt jeder Abschluss eines Tarifvertrags einer Gewerkschaft, dessen Geltungsbereich sich mit demjenigen eines bereits bestehenden, nicht inhaltsgleichen Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft überschneidet, zu einer (neuen) Tarifkollision. Dies hat zur Folge, dass im Betrieb nur die Rechtsnormen des Tarifwerks der Gewerkschaft anwendbar sind, die im Kollisionszeitpunkt im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hatte. Die Kollisionsregel setzt nicht voraus, dass sich die Regelungsgegenstände der sich überschneidenden Tarifverträge decken (Wiedemann/Jacobs TVG 9. Aufl. § 4a Rn. 141 f.; Däubler/Zwanziger/Däubler TVG 5. Aufl. § 4a Rn. 45; Löwisch/Rieble TVG 4. Aufl. § 4a Rn. 133). Vielmehr gilt der Grundsatz der Tarifeinheit auch dann, wenn die Tarifverträge unterschiedliche Regelungsgegenstände enthalten, sofern es nicht dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspricht, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Vereinbarungen mit konkurrierenden Gewerkschaften zuzulassen (BT-Drs. 18/4062 S. 13). Das zeigt der Vergleich mit § 4a Abs. 3 TVG, der eine inhaltliche Überschneidung fordert, und mit § 4a Abs. 4 Satz 2 TVG, der eine Überschneidung von Geltungsbereichen und Rechtsnormen voraussetzt, wohingegen § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG nur die Überschneidung im „Geltungsbereich“ erwähnt ( ua. - Rn. 181, BVerfGE 146, 71). Jede neue Tarifkollision führt daher - in den Grenzen der Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG (vgl. dazu  ua. -Rn. 181 ff., aaO) - zu einer Verdrängung des gesamten Tarifwerks derjenigen Gewerkschaft, die nicht den Mehrheitstarifvertrag iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG geschlossen hat.

36bb) Die danach mit jedem neuen Kollisionsfall einhergehende rechtserhebliche Zäsur führt nicht dazu, dass ein Antrag nach § 99 ArbGG, der auf die Feststellung des nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifvertrags in einer Zeit gerichtet ist, die vor der letzten Tarifkollision liegt, zwangsläufig unzulässig ist.

37(1) Der Wortlaut von § 99 ArbGG steht der Zulässigkeit einer solchen vergangenheitsbezogenen Feststellung nicht entgegen. Der Gesetzgeber hat davon abgesehen, eine eindeutige zeitliche Festlegung zu treffen. Mit dem „anwendbaren“ (§ 99 Abs. 3 ArbGG) und dem „kollidierenden“ (§ 99 Abs. 1 ArbGG) Tarifvertrag sind auch vormalige Tarifverträge erfasst.

38(2) Jedoch eröffnet § 99 ArbGG nicht die Möglichkeit, eine rein theoretische Rechtsfrage klären zu lassen und hierzu ein gerichtliches Rechtsgutachten einzuholen. Vielmehr muss der Streit über den nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifvertrag im Zeitpunkt der Entscheidung noch eine praktische Bedeutung haben. Dies gilt gerade auch deshalb, weil das Verfahren nach § 99 ArbGG selbst eine Beeinträchtigung der koalitionsspezifischen Betätigungsfreiheit darstellen kann. Mit ihm geht das Risiko einher, die Zahl der Mitglieder und damit die Kampfstärke in dem Betrieb offenlegen zu müssen ( ua. - Rn. 170, BVerfGE 146, 71). Eine vergangenheitsbezogene Feststellung des nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG anwendbaren Tarifvertrags in der Zeit vor der letzten Tarifkollision ist daher nur dann zulässig, wenn sich hieraus - bei unterstellter Feststellung der Anwendbarkeit des von der antragstellenden Tarifvertragspartei geschlossenen Tarifvertrags - für diese gegenwärtig noch konkrete Beeinträchtigungen des durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Rechts der Tarifvertragsparteien, insbesondere auf Anwendung der Tarifverträge in den von ihnen erfassten Individualarbeitsverhältnissen, ergeben. Dies ist im Einzelfall anhand der konkreten tarifvertraglichen Regelungen sowie unter Berücksichtigung der noch bestehenden Durchsetzbarkeit von Ansprüchen zu beurteilen.

39d) Der Senat ist danach an einer Entscheidung über den geänderten Antrag zu I. nach § 559 Abs. 1 ZPO gehindert. Nach den vorstehenden Maßstäben würde dessen zeitliche Begrenzung ein geändertes materiell-rechtliches Prüfprogramm bedingen. Neben der erforderlichen Antragsbefugnis (Rn. 32) wäre zu ermitteln, ob sich für die GDL gegenwärtig noch konkrete Rechtsbeeinträchtigungen ergeben, weil deren Tarifverträge in dem im Antrag genannten Zeitraum nicht angewendet wurden (Rn. 38). Hierzu liegen keine Feststellungen des Landesarbeitsgerichts vor.

40Etwas anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der GDL nicht im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Deren Argumentation, der Abschluss weiterer Tarifverträge vor Beendigung des Verfahrens nach § 99 ArbGG stelle einen typischen Verfahrensablauf dar, verfängt bereits deshalb nicht, weil ein vergangenheitsbezogener Feststellungsantrag nicht generell unzulässig ist und es jedenfalls nicht dem typischen Ablauf eines Verfahrens nach § 99 ArbGG entspricht, dass es erstmals in der Rechtsbeschwerde zu einem neuen Kollisionsfall kommt. Tritt ein solcher bereits in erster oder zweiter Instanz auf, unterliegt eine Antragsänderung anderen Voraussetzungen. Wird danach vom Landesarbeitsgericht über einen vergangenheitsbezogenen Antrag nach § 99 ArbGG entschieden, kann gegen diesen nach Maßgabe der hierfür geltenden Voraussetzungen Rechtsbeschwerde eingelegt werden. Sollte es danach im Rechtsbeschwerdeverfahren zu einem weiteren Kollisionsfall kommen, bedarf es insoweit keiner weiteren Antragsänderung.

413. Ebenfalls nicht zu entscheiden ist über die weiteren im Wege der Antragserweiterung in der Rechtsbeschwerde erstmals gestellten Anträge zu III. und zu V. Hierbei handelt es sich - entgegen der Auffassung der GDL - nicht um Fälle des § 264 Nr. 3 ZPO. Begehrt wird nicht ein Surrogat des ursprünglichen Gegenstands. Die Antragserweiterungen zielen vielmehr auf die Feststellung der Mehrheitsverhältnisse zu anderen - nach dem Abschluss der Beschwerdeinstanz liegenden - Kollisionszeitpunkten als der in der Beschwerdeinstanz gestellte, unbeschränkte Feststellungsantrag ab. Daher handelt es sich um in der Rechtsbeschwerdeinstanz nach § 559 Abs. 1 ZPO unzulässige Antragserweiterungen.

424. Die Anträge zu II., zu IV. und zu VI. fallen dem Senat - unbeschadet der Zulässigkeit einer Antragsänderung - aufgrund einer zulässigen innerprozessualen Bedingung nicht zur Entscheidung an.

43a) Ein Antrag kann unter einer innerprozessualen Bedingung gestellt werden, die nicht notwendigerweise das Unterliegen oder Obsiegen mit dem Hauptantrag zum Inhalt hat. Es ist ebenso zulässig, nur für den Fall eine Sachentscheidung zu begehren, dass das Gericht im Zusammenhang mit dem Hauptantrag eine Rechtsfrage in einer bestimmten Weise beurteilt ( - Rn. 18 mwN).

44b) Die GDL hat die Hilfsanträge nur für den Fall gestellt, dass die jeweiligen Hauptanträge mit der Begründung abgewiesen werden, ein Mehrheitstarifvertrag iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG könne nicht festgestellt werden. Diese innerprozessuale Bedingung ist nicht eingetreten.

45III. Der in der Beschwerdeinstanz gestellte, ursprünglich unbeschränkte Feststellungsantrag für die Zeit ab dem , der nicht wirksam zurückgenommen wurde (§ 269 Abs. 1 ZPO) und über den aufgrund der unzulässigen Antragsänderung (Rn. 20 ff.) zu entscheiden ist (vgl.  - Rn. 15; implizit auch  - Rn. 21), ist ohne Erfolg.

461. Der Antrag ist mangels Rechtsschutzinteresses unzulässig.

47a) Das Bestehen eines Rechtsschutzinteresses ist Zulässigkeitsvoraussetzung für eine Sachentscheidung des Gerichts und deshalb in jeder Lage des Verfahrens, auch noch in der Rechtsbeschwerdeinstanz, von Amts wegen zu prüfen. Einem Antrag auf gerichtlichen Rechtsschutz fehlt das Rechtsschutzbedürfnis ua. dann, wenn die Antragstellerin ihre Rechtsstellung mit der begehrten gerichtlichen Entscheidung nicht verbessern kann und die Inanspruchnahme des Gerichts deshalb für sie als nutzlos erscheint ( - Rn. 19).

48b) Der Antrag zielt auf die Feststellung ab, dass die genannten Tarifverträge gegenwärtig die Mehrheitstarifverträge iSv. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG sind, weil die GDL am im Wahlbetrieb mehr in einem Arbeitsverhältnis stehende Mitglieder hatte als die EVG. Die GDL hat allerdings durch ihre Antragstellung in der Rechtsbeschwerde deutlich gemacht, auch nach ihrer Ansicht stelle grundsätzlich jeder Kollisionsfall eine Zäsur dar, der eine neuerliche Mehrheitsfeststellung zu einem - dann anderen - maßgebenden Kollisionszeitpunkt erfordert. Darauf, ob einzelne Tarifverträge der GDL keine inhaltlichen Änderungen erfahren haben, kommt es - weil die Verdrängungswirkung nach § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG grundsätzlich das kollidierende Tarifwerk insgesamt erfasst (Rn. 35) - nicht an. Deshalb ist der - gegenwartsbezogene - Antrag im Hinblick auf die von ihr selbst vorgetragenen nachfolgenden Tarifkollisionen nach ihrer eigenen Auffassung unbegründet. An einer solchen gerichtlichen Feststellung besteht kein berechtigtes Interesse.

492. Der ursprünglich hilfsweise gestellte Antrag zu II. fällt nicht zur Entscheidung an. Nach dem Begehren und dem Vorbringen der GDL ist dieser - obwohl eine solche Einschränkung aus dem Wortlaut in der Beschwerdeinstanz nicht hervorgeht - dahin zu verstehen, dass er unter der zulässigen innerprozessualen Bedingung (Rn. 44) gestellt war, dass der Hauptantrag mit der Begründung abgewiesen wird, ein Mehrheitstarifvertrag iSd. § 4a Abs. 2 Satz 2 TVG könne nicht festgestellt werden. Dieses Verständnis hat die GDL durch die Formulierung der Hilfsanträge in der Rechtsbeschwerde klargestellt.

50In der Folge ist der Beschluss des Landesarbeitsgerichts wegen eines von Amts wegen zu beachtenden Verstoßes gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO rechtsfehlerhaft. Es hat über den Antrag zu II. entschieden und diesen als unbegründet abgewiesen. Damit hat es den Antragsgrundsatz nach § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO verletzt, weil es der GDL einen Anspruch aberkannt hat, den diese nicht zur Entscheidung gestellt hat. Die Beschwerdeentscheidung ist daher insoweit zu berichtigen, um eine sonst eintretende Rechtskraft zu verhindern, ohne dass es eines förmlichen Entscheidungsausspruchs bedurfte (st. Rspr., etwa  - Rn. 14 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:190325.B.4ABR35.23.1

Fundstelle(n):
KAAAJ-96810