Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 273 – Art. 49 Abs. 3 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Kumulierung von strafrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Sanktionen für ein und dieselbe Zuwiderhandlung – Finanzielle Sanktion und Versiegelung eines Geschäftsraums – Vorläufige Vollstreckung der Versiegelung – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Leitsatz
Art. 325 AEUV, Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine finanzielle Sanktion gegen einen Steuerpflichtigen verhängt wird, weil er keine Kassenbelege für getätigte Verkäufe ausgestellt hat, wenn diese Zuwiderhandlung bereits zur Verhängung der Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des Geschäftsraums, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde, verbunden mit einem Verbot des Zutritts dazu, geführt hat.
Art. 273 der Richtlinie 2006/112 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die als Verwaltungssanktion eine hohe finanzielle Sanktion vorsieht, ohne dass das mit einer Anfechtung dieser Maßnahme befasste Gericht die verfahrensrechtliche Möglichkeit hätte, einen niedrigeren als den in dieser Regelung vorgesehenen Betrag oder eine andere mildere Strafe zu verhängen.
Gesetze: AEUV Art. 325, EUGrdRCh Art. 49 Abs. 3, EUGrdRCh Art. 50, RL 2006/112/EU Art. 2 Abs. 1 Buchst. a, RL 2006/112/EU Art. 273
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von erstens Art. 325 AEUV, zweitens Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie drittens Art. 47 Abs. 1, Art. 48 Abs. 1, Art. 49 Abs. 3 und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Handelsgesellschaft „Beach and bar management“ EOOD und dem Nachalnik na otdel „Operativni deynosti“ – Burgas pri Direktsia „Operativni deynosti“ pri Tsentralno upravlenie na Natsionalna agentsia za prihodite (Leiter der Abteilung „Operative Tätigkeiten“ – Burgas in der Direktion „Operative Tätigkeiten“ bei der Direktion der Nationalen Agentur für Einnahmen, Bulgarien) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen einer Verwaltungszwangsmaßnahme, die infolge der Feststellung verwaltungsrechtlicher Zuwiderhandlungen verhängt wurde, für die auch finanzielle Sanktionen kumulativ zu dieser Maßnahme verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
AEU-Vertrag
3 In Art. 325 AEUV heißt es:
„(1) Die [Europäische] Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.
(2) Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.
(3) Die Mitgliedstaaten koordinieren unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge ihre Tätigkeit zum Schutz der finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien. Sie sorgen zu diesem Zweck zusammen mit der [Europäischen] Kommission für eine enge, regelmäßige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden.
(4) Zur Gewährleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union beschließen das Europäische Parlament und der Rat [der Europäischen Union] gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des [Europäischen] Rechnungshofs die erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten.
(5) Die Kommission legt in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten dem Europäischen Parlament und dem Rat jährlich einen Bericht über die Maßnahmen vor, die zur Durchführung dieses Artikels getroffen wurden.“
Charta
4 Art. 49 Abs. 3 der Charta lautet:
„Das Strafmaß darf zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein.“
5 Art. 50 der Charta bestimmt:
„Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden.“
6 Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.
7 Art. 273 dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.
Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“
Bulgarisches Recht
Mehrwertsteuergesetz
8 Art. 118 Abs. 1 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz) (DV Nr. 63 vom ) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) bestimmt:
„Jede nach diesem Gesetz registrierte oder nicht registrierte Person ist verpflichtet, die von ihr in Geschäftsräumen getätigten Lieferungen/Verkäufe zu registrieren und aufzuzeichnen, indem sie einen Fiskalkassenbeleg mittels eines fiskalischen Aufzeichnungsgeräts (Fiskalbon) oder einen Kassenbeleg, der von einem integrierten automatischen Geschäftsverwaltungssystem erstellt wird (Systembon), ausstellt. Der Empfänger muss den Fiskalbon oder den Systembon erhalten und so lange aufbewahren, bis er den Geschäftsraum verlassen hat.“
9 Art. 185 Abs. 1 und 2 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
„(1) Gegen eine Person, die keinen Beleg nach Art. 118 Abs. 1 ausstellt, wird, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 100 bis 500 [Lewa (BGN)] [(etwa 50 bis 250 Euro)] oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine finanzielle Sanktion in Höhe von 500 bis 2.000 BGN [(etwa 250 bis 1.000 Euro)] verhängt.
(2) Mit Ausnahme der Fälle nach Abs. 1 wird gegen eine Person, die eine Zuwiderhandlung gegen Art. 118 oder eine Vorschrift zu dessen Durchführung begeht oder duldet, wenn sie eine natürliche Person und nicht Gewerbetreibender ist, eine Geldbuße in Höhe von 300 bis 1.000 BGN [(etwa 150 bis 500 Euro)] oder, wenn sie eine juristische Person oder ein Einzelkaufmann ist, eine finanzielle Sanktion in Höhe von 3.000 bis 10.0000 BGN [(etwa 1.500 bis 5.000 Euro)] verhängt. Führt die Zuwiderhandlung nicht zur Nichtangabe von Einnahmen, werden die Sanktionen nach Abs. 1 verhängt.“
10 In Art. 186 des Mehrwertsteuergesetzes in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung heißt es:
„(1) Die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung von Geschäftsräumen für eine Dauer bis zu 30 Tagen wird unabhängig von den vorgesehenen Geldbußen und finanziellen Sanktionen gegen eine Person angeordnet, die
es unterlässt, das Verfahren oder die Art und Weise in Bezug auf Folgendes zu beachten:
einen Verkaufsbeleg gemäß Art. 118 auszustellen.
…
(3) Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Abs. 1 wird durch eine mit Gründen versehene Anordnung der Finanzbehörde oder durch einen von dieser Behörde ermächtigten Beamten angeordnet.
(4) Gegen die Anordnung nach Abs. 3 kann ein Rechtsbehelf nach dem im [Administrativnoprotsesualen kodeks (Verwaltungsprozessordnung) (DV Nr. 30 vom ) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung] vorgesehenen Verfahren eingelegt werden.“
11 Art. 187 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes lautet:
„Im Fall der Anordnung der Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 wird auch der Zutritt zu dem Geschäftsraum oder den Geschäftsräumen der Person verboten, und die in diesen Räumlichkeiten und den dazugehörigen Lagern befindlichen Vermögensgegenstände werden von der Person oder ihrem Bevollmächtigten entfernt. Die Maßnahme gilt für den Geschäftsraum oder die Geschäftsräume, in denen die Zuwiderhandlungen festgestellt wurden, auch im Fall der Verwaltung des Raumes oder der Räumlichkeiten durch einen Dritten zum Zeitpunkt der Versiegelung, wenn diesem Dritten bekannt ist, dass der Raum versiegelt wird. Die Nationale Agentur für Einnahmen veröffentlicht auf ihrer Internetseite die Listen der zu versiegelnden Geschäftsräume und deren Standorte. Es wird davon ausgegangen, dass der Person die Versiegelung des Geschäftsraums bekannt ist, wenn an dem Raum dauerhaft ein Hinweis auf die Versiegelung angebracht ist oder wenn auf der Internetseite der Finanzverwaltung die Information über den zu versiegelnden Geschäftsraum und dessen Standort veröffentlicht wird.“
12 Art. 188 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung sieht vor:
„Die Verwaltungszwangsmaßnahme nach Art. 186 Abs. 1 ist unter den in Art. 60 Abs. 1 bis 7 [der Verwaltungsprozessordnung] vorgesehenen Bedingungen vorläufig vollstreckbar.“
Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen
13 Art. 22 des Zakon za administrativnite narushenia i nakazania (Gesetz über verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen und Verwaltungssanktionen) (DV Nr. 92 vom ) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung bestimmt:
„Verwaltungsrechtliche Zwangsmaßnahmen können angewandt werden, um verwaltungsrechtliche Zuwiderhandlungen zu vermeiden oder zu beenden sowie um deren nachteilige Folgen zu vermeiden bzw. zu beseitigen.“
14 In Art. 27 Abs. 1, 2, 4 und 5 dieses Gesetzes heißt es:
„(1) Die Verwaltungssanktion wird gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes innerhalb der für die begangene Zuwiderhandlung vorgesehenen Grenzen festgesetzt.
(2) Bei der Bestimmung der Sanktion werden die Schwere und die Gründe der Zuwiderhandlung sowie andere mildernde und erschwerende Umstände sowie die Vermögensverhältnisse des Zuwiderhandelnden berücksichtigt.
…
(4) Außer in den in Art. 15 Abs. 2 vorgesehenen Fällen dürfen die Sanktionen, mit denen die Zuwiderhandlungen belegt sind, nicht durch mildere Sanktionen ersetzt werden.
(5) Ebenso wenig ist es zulässig, eine Sanktion unterhalb der vorgesehenen Mindestsanktion festzusetzen, gleichviel, ob es sich um eine Geldbuße oder einen zeitlich begrenzten Entzug des Rechts zur Ausübung eines bestimmten Berufs oder einer bestimmten Tätigkeit handelt.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
15 Beach and bar management ist eine juristische Person bulgarischen Rechts, die einen Geschäftsraum mit einer Bar und einem Restaurant betreibt.
16 Am stellten Inspektoren der Nationalen Agentur für Einnahmen bei einer Prüfung in diesem Geschäftsraum fest, dass Beach and bar management 85 Verkäufe nicht mit Fiskalkassenbelegen registriert hatte, die daher den Kunden nicht ausgehändigt worden waren. Hierauf ergingen insgesamt 85 Bescheide zur Feststellung von verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlungen gegen das Mehrwertsteuergesetz.
17 Am erließ die Steuerverwaltung eine Anordnung, mit der die Verwaltungszwangsmaßnahme „Versiegelung des Geschäftsraums und Verbot des Zutritts dazu“ für 14 Tage verhängt wurde. Diese Maßnahme wurde von einer Verfügung begleitet, mit der ihre vorläufige Vollstreckung gestattet wurde.
18 Die Versiegelungsmaßnahme sowie die Verfügung der vorläufigen Vollstreckung, die in der Anordnung selbst enthalten war, waren im Rahmen von zwei getrennten Verfahren Gegenstand von Klagen vor dem Administrativen sad Burgas (Verwaltungsgericht Burgas, Bulgarien). Diese Klagen wurden abgewiesen. Die Maßnahme der Versiegelung und des Zutrittsverbots für 14 Tage wurde vollstreckt.
19 Außerdem wurde für jede der 85 von Beach and bar management begangenen Zuwiderhandlungen eine finanzielle Sanktion in Höhe von 500 BGN (etwa 250 Euro) verhängt. Somit belief sich die Gesamtsanktion für alle diese Zuwiderhandlungen auf 42.500 BGN (etwa 21.250 Euro), während sich der Gesamtbetrag der Mehrwertsteuer, die infolge der Nichtausstellung von Kassenbelegen für alle diesen Zuwiderhandlungen entsprechenden Zahlungen über eine Registrierkasse hinterzogen wurde, auf 268,02 BGN (etwa 134 Euro) belief.
20 Wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, wurde vor dem Rayonen sad Burgas (Rayongericht Burgas, Bulgarien) die Rechtswidrigkeit der 85 finanziellen Sanktionen geltend gemacht. Das Gericht wies die Klagen in Bezug auf diese Maßnahmen ab, bevor das Urteil vom , MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371), verkündet wurde. In den Begründungen seiner Entscheidungen trug das Gericht weder dem Umstand Rechnung, dass infolge der Anordnung, mit der die Verwaltungszwangsmaßnahme für alle 85 Zuwiderhandlungen verhängt worden war, und der Verfügung der vorläufigen Vollstreckung dieser Maßnahme die Versiegelung des betreffenden Geschäftsraums und das Verbot des Zutritts dazu für einen Zeitraum von 14 Tagen vollstreckt worden waren, noch prüfte und berücksichtigte es die rechtlichen Wirkungen dieser Vollstreckung für das Verfahren zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der parallel verhängten finanziellen Sanktionen.
21 Gegen alle 85 Entscheidungen dieses Gerichts wurden beim Administrativen sad Burgas (Verwaltungsgericht Burgas), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel eingelegt.
22 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Mehrwertsteuergesetz für den Fall eines Verstoßes gegen seinen Art. 118 Abs. 1 nicht nur in seinem Art. 185 die Verhängung einer finanziellen Sanktion, sondern in seinem Art. 186 auch die Verpflichtung vorsehe, wegen derselben Tat die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des betreffenden Raumes zu verhängen.
23 Die finanzielle Sanktion und die Versiegelung würden am Ende unterschiedlicher und eigenständiger Verfahren verhängt, und im Fall von Klagen gegen diese beiden Maßnahmen fielen sie in die erstinstanzliche Zuständigkeit verschiedener Gerichte, nämlich des Rayonen sad (Rayongericht) für die finanzielle Sanktion und des Administrativen sad (Verwaltungsgericht) für die Versiegelung; die bulgarischen Verfahrensvorschriften sähen nicht die Möglichkeit vor, das eine Verfahren bis zum Abschluss des jeweils anderen auszusetzen, so dass es keinen Koordinierungsmechanismus zwischen diesen Verfahren gebe. Außerdem habe der Gerichtshof in seinem Urteil vom , MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371), zwar festgestellt, dass die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung strafrechtlichen, repressiven Charakter habe, nach Ansicht des vorlegenden Gerichts überwiegt aber im vorliegenden Fall der präventive Charakter den repressiven Charakter dieser Maßnahme, die nur darauf abziele, das Ausmaß der für die finanziellen Interessen der Union nachteiligen Folgen zu begrenzen.
24 Schließlich könne die Begründung des Urteils vom , MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371), nicht auf die für 85 gesonderte Zuwiderhandlungen verhängte Sanktion angewandt werden, ohne Art. 325 AEUV und Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu verkennen, da aufgrund der fehlenden Individualisierung nicht überprüft werden könne, ob die erlassenen Maßnahmen eine tatsächlich abschreckende Wirkung hätten und einen effektiven Schutz bewirkten, um die Beitreibung des genauen Betrags der hinterzogenen Mehrwertsteuer zu gewährleisten und Steuerhinterziehung zu verhindern.
25 Vor diesem Hintergrund hat der Administrativen sad Burgas (Verwaltungsgericht Burgas) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 325 AEUV, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen, dass sie nationale Rechtsvorschriften zulassen, wonach für mehrfache Verletzungen steuerlicher Pflichten die gesamte Verwaltungszwangsmaßnahme „Versiegelung eines Geschäftsraums und Verbot des Zutritts dazu“ angeordnet werden kann, wenn diese ausschließlich die Begrenzung der nachteiligen Auswirkungen, einschließlich des Ausmaßes der Schädigungen der finanziellen Interessen der Europäischen Union, aber keine Bestrafung des Rechtsverletzers bezweckt, ohne dass diese Maßnahme die Möglichkeit beschränkt, ein eigenständiges Verfahren mit repressivem Charakter für jede dieser Zuwiderhandlungen gegen denselben Rechtsverletzer durchzuführen, in dem gegen den Steuerpflichtigen eine Strafe in Form einer finanziellen Sanktion verhängt werden soll, wobei der nationale Richter verpflichtet ist, in jedem Einzelfall zu prüfen und festzustellen, welches der beiden Ziele mit der angeordneten unechten Gesamtsanktion, der Verwaltungszwangsmaßnahme „Versiegelung eines Geschäftsraums und Verbot des Zutritts dazu“, verfolgt wird – ein vorbeugend-begrenzendes oder ein repressives?
Sind Art. 325 AEUV, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass sie eine Sanktionsregelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht zulassen, die unabhängig von der Art und der Schwere der Zuwiderhandlungen eine beträchtliche Untergrenze für die Sanktion in Gestalt einer finanziellen Sanktion festlegt, ohne die Möglichkeit vorzusehen, dass eine Sanktion unter dem gesetzlichen Mindestmaß verhängt oder die Strafe durch eine mildere ersetzt wird?
Sind Art. 325 AEUV, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie Art. 47 Abs. 1, Art. 48 Abs. 1 und Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen, dass sie nationale Rechtsvorschriften nicht zulassen, wonach für mehrfache Verletzungen steuerlicher Pflichten eine Gesamtmaßnahme „Versiegelung eines Geschäftsraums und Verbot des Zutritts dazu“ angeordnet und – vor ihrer Bestandskraft – vorläufig vollstreckt werden kann, ohne dass dem Gericht und dem Rechtsverletzer selbst die Möglichkeit eingeräumt wird, ihre Verhältnismäßigkeit in Bezug auf die Schwere jeder einzelnen verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung zu prüfen?
Zu den Vorlagefragen
Zur Zulässigkeit
26 Nach Ansicht der bulgarischen Regierung sind die erste und die dritte Frage unzulässig, da sie in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stünden, soweit sie die Verhängung einer Verwaltungszwangsmaßnahme beträfen. Die erbetene Auslegung werde vom vorlegenden Gericht nicht benötigt, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden.
27 Außerdem hält Beach and bar management die dritte Frage für unzulässig, da das vorlegende Gericht nicht mit einem Rechtsbehelf gegen eine Verwaltungszwangsmaßnahme befasst sei.
28 Die Kommission ist der Ansicht, dass die erste Frage umformuliert werden könne, um zulässig zu werden, während die dritte Frage unzulässig sei.
29 Insoweit ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann die Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts nur dann ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, das Problem hypothetischer Natur ist oder er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom , Stadt Wuppertal, C‑130/24, EU:C:2025:340, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass der Ausgangsrechtsstreit keinen Rechtsbehelf gegen die Versiegelung des in Rede stehenden Geschäftsraums betrifft, bei der es sich um eine Verwaltungszwangsmaßnahme handelt. Folglich ist die dritte Vorlagefrage mangels Zusammenhangs mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits für offensichtlich unzulässig zu erklären.
31 Wie der Generalanwalt in Nr. 37 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht außerdem aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass das vorlegende Gericht mit seiner ersten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden finanziellen Sanktionen mit dem Unionsrecht vereinbar sind, und dass diese Frage offensichtlich die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts betrifft. Entsprechend umformuliert, ist die erste Frage als zulässig anzusehen.
Zur ersten Frage
32 Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 325 AEUV, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine finanzielle Sanktion gegen einen Steuerpflichtigen verhängt wird, weil er keine Kassenbelege für getätigte Verkäufe ausgestellt hat, wenn diese Zuwiderhandlung bereits zur Verhängung der Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des Geschäftsraums, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde, verbunden mit einem Verbot des Zutritts dazu, geführt hat.
33 Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nach Art. 50 der Charta sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs drei Kriterien maßgebend. Das erste Kriterium ist die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, das zweite betrifft die Art der Zuwiderhandlung, und das dritte bezieht sich auf den Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
34 Die Anwendung von Art. 50 der Charta beschränkt sich jedoch nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, sondern erstreckt sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die nach den beiden anderen in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind. Ein solcher Charakter kann sich nämlich aus der Art der betreffenden Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der Sanktionen ergeben, die sie nach sich ziehen kann (Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Versiegelung während eines Zeitraums von bis zu 30 Tagen insbesondere für einen Einzelhändler, der nur über einen einzigen Geschäftsraum verfügt, als schwerwiegend eingestuft werden kann, insbesondere da sie ihn an der Ausübung seiner Tätigkeit hindert und ihm somit seine Einkünfte entzieht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 47).
36 Was die finanzielle Sanktion betrifft, so zeugen zum einen der Umstand, dass sie für eine erste Zuwiderhandlung nicht weniger als 500 BGN (etwa 250 Euro) betragen darf und bis 2.000 BGN (ca. 1.000 Euro) betragen kann, und zum anderen die Tatsache, dass das Verhältnis zwischen der Mehrwertsteuer, die – infolge der Nichtausstellung von Kassenbelegen für alle Zahlungen, die den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zuwiderhandlungen entsprechen – hinterzogen wurde, nämlich insgesamt 268,02 BGN (etwa 134 Euro), und der verhängten Sanktion, die sich nach den Angaben des vorlegenden Gerichts auf 42.500 BGN (etwa 21.250 Euro) beläuft, besonders hoch erscheint, vom schwerwiegenden Charakter dieser Sanktion (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 48).
37 Unter diesen Umständen ist, da die in Rede stehenden finanziellen Sanktionen als Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter einzustufen sind, davon auszugehen, dass die Kumulierung dieser Sanktionen zu einer Einschränkung des in Art. 50 der Charta garantierten Grundrechts führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 49).
38 Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung, nach der gegen einen Steuerpflichtigen wegen ein und derselben Zuwiderhandlung gegen eine steuerliche Verpflichtung nach unterschiedlichen und eigenständigen Verfahren die Maßnahme einer finanziellen Sanktion und die Maßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums verhängt werden können, wobei gegen diese Maßnahmen vor unterschiedlichen Gerichten Klagen erhoben werden können, entgegenstehen, sofern diese Regelung keine Koordinierung der Verfahren, die es ermöglichen würde, die mit der Kumulierung der verhängten Maßnahmen verbundene zusätzliche Belastung auf das absolut Notwendige zu reduzieren, gewährleistet und es nicht ermöglicht, sicherzustellen, dass die Schwere aller dieser Maßnahmen zusammen der Schwere der betreffenden Zuwiderhandlungen entspricht (Urteil vom , MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 63).
39 Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts lässt sich die Lösung im Urteil vom , MV – 98 (C‑97/21, EU:C:2023:371), nicht zwangsläufig auf die Umstände des Ausgangsverfahrens übertragen, da im vorliegenden Fall mit einer einzigen Verwaltungszwangsmaßnahme 85 gesonderte Zuwiderhandlungen geahndet würden. Angesichts des wiederholten oder sogar „systematischen“ Charakters des geahndeten Verhaltens ziele diese Maßnahme nämlich nur darauf ab, das Ausmaß der für die finanziellen Interessen der Union nachteiligen Folgen zu begrenzen, so dass ihr präventiver Charakter ihren repressiven Charakter überwiegen könne.
40 Allerdings kann, wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dieser Beurteilung des vorlegenden Gerichts nicht gefolgt werden, da sich die präventive Komponente der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahme der Versiegelung des Geschäftsraums nicht in dem Maße durchsetzt, dass sie die repressive Komponente der Maßnahme verdrängen würde.
41 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation unter den Grundsatz fällt, dass der bloße Umstand, dass eine Sanktion mit repressiver Zielsetzung auch eine präventive Zielsetzung hat, ihr nicht ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion im Sinne von Art. 50 der Charta nehmen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 31).
42 In Anbetracht der Feststellung in Rn. 40 des vorliegenden Urteils folgt daraus, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zwangsmaßnahme ihre Einstufung als strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung nicht schon deshalb verlöre, weil sie auch eine präventive Zielsetzung hat.
43 Jedenfalls rechtfertigt, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die der Versiegelung eines Geschäftsraums innewohnende Schwere ihre strafrechtliche Einordnung und führt zur Anwendbarkeit von Art. 50 der Charta. Diese Schwere wird nicht dadurch abgemildert, dass, wie der Generalanwalt in den Nrn. 61 und 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die große Zahl der im vorliegenden Fall begangenen Zuwiderhandlungen sogar dazu hätte führen können, den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geschäftsraum für einen erheblich längeren Zeitraum zu versiegeln.
44 Somit behält die Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung eines Geschäftsraums und des Verbots des Zutritts dazu für 14 Tage ihren repressiven Charakter, unabhängig davon, ob sie als Reaktion auf eine einzige konkrete Zuwiderhandlung gegen das Mehrwertsteuergesetz oder infolge der Begehung von 85 Zuwiderhandlungen gegen dieses Gesetz während eines bestimmten Zeitraums insgesamt erlassen wird.
45 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 325 AEUV, Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 50 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine finanzielle Sanktion gegen einen Steuerpflichtigen verhängt wird, weil er keine Kassenbelege für getätigte Verkäufe ausgestellt hat, wenn diese Zuwiderhandlung bereits zur Verhängung der Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des Geschäftsraums, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde, verbunden mit einem Verbot des Zutritts dazu, geführt hat.
Zur zweiten Frage
46 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die als Verwaltungssanktion eine hohe finanzielle Sanktion vorsieht, ohne dass das mit einer Anfechtung dieser Maßnahme befasste Gericht die verfahrensrechtliche Möglichkeit hätte, einen niedrigeren als den in dieser Regelung vorgesehenen Betrag oder eine andere mildere Strafe zu verhängen.
47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 49 Abs. 3 der Charta das Strafmaß nicht unverhältnismäßig zur Straftat sein darf. Ebenso hat der Gerichtshof entschieden, dass in Ermangelung gesetzgeberischer Maßnahmen auf Unionsebene auf dem Gebiet der Sanktionen die Mitgliedstaaten befugt sind, unter Beachtung insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die Art und Höhe dieser Sanktionen zu wählen (Urteil vom , G. ST. T. [Verhältnismäßigkeit der Strafe bei Markenfälschung], C‑655/21, EU:C:2023:791, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen gemäß letzterem Grundsatz die repressiven Maßnahmen, die nach den nationalen Rechtsvorschriften gestattet sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgten Ziele erforderlich ist. Die Härte der Sanktionen muss der Schwere der mit ihnen geahndeten Verstöße entsprechen, indem sie insbesondere eine wirklich abschreckende Wirkung gewährleistet, zugleich aber nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (Urteil vom , G. ST. T. [Verhältnismäßigkeit der Strafe bei Markenfälschung], C‑655/21, EU:C:2023:791, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Im Übrigen verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls sowohl bei der Bestimmung der Sanktion als auch bei der Festlegung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt werden (Urteil vom , G. ST. T. [Verhältnismäßigkeit der Strafe bei Markenfälschung], C‑655/21, EU:C:2023:791, Rn. 67).
50 Bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Sanktionen ist auch zu berücksichtigen, dass für das nationale Gericht die Möglichkeit besteht, die Einstufung gegenüber der in der Anklageschrift enthaltenen Einstufung zu ändern – was zur Anwendung einer milderen Sanktion führen kann – oder die Sanktion im Verhältnis zur Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung anzupassen (Urteil vom , G. ST. T. [Verhältnismäßigkeit der Strafe bei Markenfälschung], C‑655/21, EU:C:2023:791, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht scheint es in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung jedoch an der Möglichkeit zu fehlen, die Einstufung der in Rede stehenden Zuwiderhandlung zu ändern.
52 Angesichts des Umstands, dass die finanzielle Sanktion für eine erste Zuwiderhandlung nach dieser Regelung nicht weniger als 500 BGN (etwa 250 Euro) betragen darf und dieser Betrag fast 200-mal höher ist als der Betrag der hinterzogenen Mehrwertsteuer für jede einzelne im vorliegenden Fall begangene Zuwiderhandlung, d.h. 2,70 BGN (etwa 1,35 Euro), erscheint es außerdem äußerst schwierig, eine Sanktion festzulegen, deren Intensität nicht die Schwere der festgestellten Zuwiderhandlung übersteigt.
53 Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie und Art. 49 Abs. 3 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die als Verwaltungssanktion eine hohe finanzielle Sanktion vorsieht, ohne dass das mit einer Anfechtung dieser Maßnahme befasste Gericht die verfahrensrechtliche Möglichkeit hätte, einen niedrigeren als den in dieser Regelung vorgesehenen Betrag oder eine andere mildere Strafe zu verhängen.
Kosten
54 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 325 AEUV, Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der eine finanzielle Sanktion gegen einen Steuerpflichtigen verhängt wird, weil er keine Kassenbelege für getätigte Verkäufe ausgestellt hat, wenn diese Zuwiderhandlung bereits zur Verhängung der Verwaltungszwangsmaßnahme der Versiegelung des Geschäftsraums, in dem die Zuwiderhandlung begangen wurde, verbunden mit einem Verbot des Zutritts dazu, geführt hat.
Art. 273 der Richtlinie 2006/112 und Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte
sind dahin auszulegen, dass
sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die als Verwaltungssanktion eine hohe finanzielle Sanktion vorsieht, ohne dass das mit einer Anfechtung dieser Maßnahme befasste Gericht die verfahrensrechtliche Möglichkeit hätte, einen niedrigeren als den in dieser Regelung vorgesehenen Betrag oder eine andere mildere Strafe zu verhängen.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:515
Fundstelle(n):
OAAAJ-95747