Leitsatz
Zu den Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung bei unbekanntem Aufenthaltsort des Betroffenen (hier: Bescheid über den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet, Ausreisefrist und Abschiebungsandrohung).
Gesetze: § 10 Abs 1 S 1 Nr 1 VwZG, § 5 Abs 4 FreizügG/EU
Instanzenzug: Az: 53 T 18/21vorgehend Az: 46 XIV 52/21
Gründe
1I. Der Betroffene, ein polnischer Staatsangehöriger, reiste erstmals am nach Deutschland ein. Mangels festen Wohnsitzes im Inland wurde er am als nach unbekannt verzogen gemeldet. Am reiste er erneut in das Bundesgebiet ein und war anschließend ab dem erneut unbekannten Aufenthaltes. Seit dem hielt er sich im Stadtgebiet H (Niedersachsen), überwiegend rund um den Hauptbahnhof in der "Trinkerszene" auf. Im Laufe seines Aufenthalts in Deutschland beging er mehrere Straftaten, insbesondere Diebstähle. Zwischen dem 19. Januar und dem verbüßte er eine Ersatzfreiheitsstrafe in B. Mit Bescheid vom stellte die beteiligte Behörde gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (im Folgenden: Freizügigkeitsgesetz/EU oder FreizügG/EU) den Verlust des Rechts des Betroffenen auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU fest und setzte ihm eine Ausreisefrist von einem Monat. Für den Fall der Nichtausreise wurde ihm die Abschiebung unter anderem nach Polen angedroht. Die sofortige Wirksamkeit der Feststellung wurde angeordnet. Der Bescheid sollte dem Betroffenen durch öffentliche Bekanntmachung in H zugestellt werden und wurde ausweislich des amtlichen Vermerks über den Aushang am ausgehängt und am abgenommen. Am wurde der Betroffene wegen des Verdachts des Diebstahls in H vorläufig festgenommen.
2Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der Abschiebung nach Polen bis längstens zum Ablauf des angeordnet. Die dagegen vom Betroffenen eingelegte und nach seiner Abschiebung am mit dem Feststellungsantrag weiterverfolgte Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde.
3II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.
41. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, es liege ein zulässiger Haftantrag der beteiligten Behörde vor. Der Betroffene sei vollziehbar ausreisepflichtig, weil sein Aufenthaltsrecht nach dem Freizügigkeitsgesetz nicht mehr bestehe, nachdem die beteiligte Behörde mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU den Verlust seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt, dem Betroffenen eine Ausreisefrist von einem Monat gesetzt und für den Fall der Nichtausreise die Abschiebung angedroht sowie die sofortige Wirksamkeit angeordnet habe. Die Verfügung sei wirksam öffentlich zugestellt worden, sodass im Zeitpunkt der Haftanordnung die Ausreisefrist abgelaufen gewesen sei. Beim Betroffenen habe bei Vornahme einer Gesamtwürdigung aller Umstände der Haftgrund der Fluchtgefahr vorgelegen, da er keinen Aufenthaltsort gehabt habe, an dem er sich überwiegend aufgehalten habe, keiner geregelten Arbeit nachgegangen sei, sich im Bereich des Hauptbahnhofs bewege und zahlreiche Straftaten begangen habe. Die angeordnete Haftdauer von etwa vier Wochen sei nicht zu beanstanden, weil sie auf den kürzest möglichen Zeitraum beschränkt gewesen sei.
52. Dies hält rechtlicher Nachprüfung stand.
6a) Das Beschwerdegericht ist zu Recht vom Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ausgegangen.
7aa) Die Zulässigkeit des Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zu den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung gehören unter anderem Darlegungen zur notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG) und zur Durchführbarkeit der Abschiebung (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 5 FamFG). Diese Darlegungen dürfen zwar knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte ansprechen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8; vom - XIII ZB 5/19, InfAuslR 2020, 165 Rn. 8; vom - XIII ZB 74/19, juris Rn. 7; vom - XIII ZB 116/19, NVwZ 2023, 1523 Rn. 7). Dazu müssen die Darlegungen auf den konkreten Fall bezogen sein und dürfen sich nicht in Leerformeln erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschlüsse vom - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 13; NVwZ 2023, 1523 Rn. 7 mwN; vom - XIII ZB 40/20, juris Rn. 7).
8bb) Diesen Maßgaben entspricht der Haftantrag.
9(1) Die beteiligte Behörde hat darin ausgeführt, für den Betroffenen sei eine Landabschiebung nach Polen vorgesehen. Bei einer solchen Rückführung stelle das Fehlen von Ausweispapieren kein Abschiebungshindernis dar. Rückzuführende polnische Staatsangehörige würden mit einer Vorlaufzeit von einer Woche bei den polnischen Grenzbehörden für eine Landabschiebung angekündigt und nach dortiger Bestätigung der konkrete Abschiebungstermin mitgeteilt, sodass die Abschiebung unmittelbar aus der Abschiebungshaft erfolgen könne. Ein konkreter Termin könne erst festgelegt werden, wenn das vollständige Abschiebungsersuchen bei der Landesaufnahmebehörde vorliege. Des Weiteren müsse die Zuführung von der Justizvollzugsanstalt mit der Landesaufnahmebehörde organisiert werden. Für den Betroffenen könne nach telefonischer Rücksprache eine Landabschiebung in der 26. Kalenderwoche gebucht werden. Da Landabschiebungen nach Polen (nur) freitags durchgeführt würden, sei für den Betroffenen eine Terminierung auf den möglich. Die Haft solle vorsorglich für den Fall, dass mangels Kapazitäten die Abschiebung erst am stattfinden könne, um eine Woche länger angeordnet werden.
10(2) Diese Angaben ermöglichten es dem Haftrichter abzuschätzen, dass einerseits angesichts der organisatorischen Rahmenbedingungen und der erforderlichen Schritte eine Abschiebung des Betroffenen zwar vor dem nicht möglich sein, aber voraussichtlich am , spätestens am stattfinden können würde, sodass die Rückführung innerhalb der beantragten Haftdauer voraussichtlich durchführbar sein würde. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde ist nicht zu beanstanden, dass sich die beteiligte Behörde für die Darstellung der vorzunehmenden Einzelschritte und des dafür zu veranschlagenden Zeitbedarfs auf ihre Erfahrungswerte mit Landabschiebungen nach Polen bezogen hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht es für die konkrete Darlegung der Durchführbarkeit der Abschiebung des Betroffenen innerhalb der beantragten Haftdauer aus, wenn angegeben wird, ob und innerhalb welchen Zeitraums Abschiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt und ob diese im konkreten Fall vorliegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom - V ZB 246/11, InfAuslR 2012, 328 Rn. 9; vom - XIII ZB 124/19, juris Rn. 7 mwN). Soweit die Rechtsbeschwerde meint, die Vorlaufzeit von einer Woche hätte näher begründet werden müssen, kann dem schon deshalb nicht gefolgt werden, weil es sich dabei offensichtlich um die von den polnischen Behörden üblicherweise in Anspruch genommene Bearbeitungszeit handelt, auf welche die deutschen Behörden keinen Einfluss haben. Angesichts des den Ausländerbehörden bei der Umsetzung von Abschiebungen zustehenden organisatorischen Spielraums (vgl. nur , NVwZ 2023, 1523 Rn. 11) bedurfte es aber auch keiner weitergehenden Erläuterung der Dauer der verwaltungsinternen Bearbeitungs- und Abstimmungszeit von maximal zwei weiteren Wochen oder der Gründe dafür, dass Landabschiebungen nach Polen nicht auch an anderen Wochentagen stattfinden können, zumal Letzteres auch von den aufnehmenden polnischen Behörden abhängt.
11(3) Ferner hat die beteiligte Behörde im Haftantrag dargelegt, dass für alle vom Betroffenen begangenen und verfolgten Straftaten das nach § 72 Abs. 4 AufenthG erforderliche Einvernehmen der Staatsanwaltschaft vorlag, sodass das Amtsgericht davon ausgehen konnte, dass insofern kein Abschiebungshindernis bestand.
12b) Das Beschwerdegericht hat zu Recht angenommen, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Haftanordnung aufgrund der Verfügung der beteiligten Behörde vom vollziehbar ausreisepflichtig und ihm die Abschiebung angedroht worden war. Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde bestehen gegen die Wirksamkeit der öffentlichen Zustellung dieser Verfügung keine Bedenken; insbesondere lagen die Voraussetzungen für eine Zustellung im Wege der öffentlichen Bekanntmachung in H vor.
13aa) Gemäß § 1 Abs. 1 des Niedersächsischen Verwaltungszustellungsgesetzes finden auf das Zustellungsverfahren der Behörden des Landes Niedersachsen die Vorschriften der §§ 2 bis 10 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom (BGBl. I S. 2354) in der jeweils geltenden Fassung (im Folgenden: VwZG) Anwendung. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VwZG in der 2021 geltenden Fassung kann die Zustellung eines Dokuments durch öffentliche Bekanntmachung erfolgen, wenn der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt ist und eine Zustellung an einen Vertreter oder Zustellungsbevollmächtigten nicht möglich ist.
14bb) Diese Voraussetzung hat das Beschwerdegericht im Streitfall zutreffend als erfüllt angesehen. Der Betroffene, der über keinen festen Wohnsitz verfügte, war nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt in B am unbekannten Aufenthalts. Die beteiligte Behörde ging aufgrund des bisherigen Verhaltens des Betroffenen nachvollziehbarerweise davon aus, er halte sich mutmaßlich wieder in der "Trinkerszene" am Hauptbahnhof in H auf. Dies begründet indes entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde keinen bekannten Aufenthalt des Betroffenen, da es sich bei einer solchen "Szene" bereits nicht um einen festen Ort handelt. Die beteiligte Behörde war auch nicht gehalten, den Betroffenen im Bereich des Hauptbahnhofs in H zu suchen oder abzuwarten, bis er wegen erneuter Straftaten festgenommen wird, um eine persönliche Übergabe der Verfügung herbeizuführen. Zwar sind Behörden aufgrund der besonderen Bedeutung der Zustellung für die Gewährung rechtlichen Gehörs nach allgemeiner Auffassung verpflichtet, alle der Sache nach geeigneten und zumutbaren Nachforschungen anzustellen, um den Aufenthalt des Zustellungsadressaten zu ermitteln. Jedoch dürfen die Anforderungen im Einzelfall nicht überspannt werden und sind grundsätzlich keine eingehenden Nachforschungen erforderlich, wenn der Betroffene selbst erklärt hat, keinen gewöhnlichen Aufenthaltsort zu haben (vgl. Ronellenfitsch in BeckOK VwVfG, 67. Ed. [Stand ], § 10 VwZG Rn. 10 f.).
15cc) Da die weiteren Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung nach § 10 VwZG, wie das Beschwerdegericht zutreffend ausführt, ebenfalls erfüllt waren, galt die Verfügung der beteiligten Behörde vom dem Betroffenen gemäß § 10 Abs. 2 Satz 6 VwZG nach Ablauf von zwei Wochen seit dem Tag der Bekanntmachung, also seit dem als zugestellt. Die dem Betroffenen gesetzte einmonatige Ausreisefrist war somit im Zeitpunkt der Haftanordnung verstrichen.
16c) Die Anordnung der Haft erweist sich jedenfalls bis zum Ende ihres Vollzugs am auch sonst als rechtmäßig; ob dies auch für den darüber hinausgehenden Zeitraum bis zum gilt, bedarf keiner Entscheidung.
17aa) Die Haftgerichte sind nach Art. 20 Abs. 3 und Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und nach § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Die Freiheitsgewährleistung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG setzt auch insoweit Maßstäbe für die Aufklärung des Sachverhalts und damit für die Anforderungen in Bezug auf die tatsächliche Grundlage der richterlichen Entscheidungen. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Der Richter hat nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG die Verantwortung für das Vorliegen der Voraussetzungen der von ihm angeordneten oder bestätigten Haft zu übernehmen. Dazu muss er die Tatsachen feststellen, die die Freiheitsentziehung rechtfertigen (BGH, Beschlüsse vom - V ZB 167/14, juris Rn. 9; vom - XIII ZB 14/19, juris Rn. 14).
18bb) Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass das Amtsgericht den Sachverhalt unzureichend ermittelt hätte. Es hat sich ausdrücklich auf den Haftantrag der beteiligten Behörde bezogen und die darin enthaltenen - wie oben (Rn. 10) ausgeführt - nachvollziehbaren und hinreichend konkreten - Sachverhaltsangaben seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt. Dass sich im Beschluss vom die Formulierung findet, es sei zu erwarten, dass die geplante Abschiebung des Betroffenen innerhalb der nächsten drei Monate, bis zum , durchgeführt werden könne, stellt entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde weder ein Indiz für die Verwendung eines (unpassenden) bloßen Textbausteins noch für eine unzureichende Prüfung des Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht durch das Amtsgericht dar. Die Angabe bezieht sich vielmehr auf die gesetzliche Höchstfrist des § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG, die in der 2021 geltenden Gesetzesfassung drei Monate betrug. Des ungeachtet würde aber auch die Verwendung einer einzelnen inhaltlich unpassenden Formulierung bei Fehlen weiterer konkreter Anhaltspunkte nicht den Schluss auf eine mangelhafte gerichtliche Sachaufklärung zulassen (vgl. zur wörtlichen Übernahme von Formulierungen des Haftantrags in den Haftanordnungsbeschluss , juris Rn. 8).
19cc) Der vom Amtsgericht festgestellte Sachverhalt rechtfertigt jedenfalls die Haftanordnung bis zum . Wie sich aus den Angaben der beteiligten Behörde ergibt, wollte diese die Abschiebung an jenem Tag durchführen, was auch tatsächlich geschehen ist. Anhaltspunkte dafür, dass eine Überstellung zu einem früheren Zeitpunkt möglich gewesen wäre, sind nach den von der beteiligten Behörde dargelegten organisatorischen Einzelschritten nicht ersichtlich.
20dd) Ob die Anordnung der über den hinausgehenden Haft, welche der Absicherung des von der beteiligten Behörde geplanten nächstmöglichen Auffangtermins am dienen sollte, als zulässiger zeitlicher Puffer für allfällige Verzögerungen und damit als rechtmäßig oder bereits als unzulässige Vorratshaft einzuordnen ist (vgl. zu dieser Abgrenzung , juris Rn. 13 mwN), bedarf im Streitfall keiner Entscheidung. Denn insoweit wurde die Haft nicht vollzogen und hat daher den Betroffenen nicht in seinen Rechten verletzt.
213. Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.
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ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:010725BXIIIZB61.21.0
Fundstelle(n):
AAAAJ-95542