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EuGH Urteil v. - C-808/23

Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 72 – Normalwert – Art. 80 – Neubewertung der Steuerbemessungsgrundlage – Muttergesellschaft, die im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften Dienstleistungen für diese erbringt – Bestimmung des Normalwerts

Leitsatz

Die Art. 72 und 80 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

sind dahin auszulegen, dass

sie dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die von einer Muttergesellschaft im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften für diese erbrachten Dienstleistungen in allen Fällen als einheitliche, die Bestimmung ihres Normalwerts nach der in Art. 72 Satz 1 der Richtlinie vorgesehenen Vergleichsmethode ausschließende Leistung ansieht.

Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 72, RL 2006/112/EG Art. 80

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 72 und 80 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Högkullen AB und dem Skatteverk (Finanzbehörde, Schweden; im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Bestimmung des Normalwerts der von Högkullen im Jahr 2016 für ihre Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen.

 

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 In Art. 1 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.

…“

4 Art. 72 dieser Richtlinie bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt als ‚Normalwert‘ der gesamte Betrag, den ein Empfänger einer Lieferung oder ein Dienstleistungsempfänger auf derselben Absatzstufe, auf der die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung erfolgt, an einen selbständigen Lieferer oder Dienstleistungserbringer in dem Mitgliedstaat, in dem der Umsatz steuerpflichtig ist, zahlen müsste, um die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten.

Kann keine vergleichbare Lieferung von Gegenständen oder Erbringung von Dienstleistungen ermittelt werden, ist der Normalwert wie folgt zu bestimmen:

(1)

bei Gegenständen, ein Betrag nicht unter dem Einkaufspreis der Gegenstände oder gleichartiger Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises nicht unter dem Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden;

(2)

bei Dienstleistungen, ein Betrag nicht unter dem Betrag der Ausgaben des Steuerpflichtigen für die Erbringung der Dienstleistung.“

5 Art. 73 der Richtlinie lautet:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

6 Art. 80 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Zur Vorbeugung gegen Steuerhinterziehung oder ‑umgehung können die Mitgliedstaaten in jedem der folgenden Fälle Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass die Steuerbemessungsgrundlage für die Lieferungen von Gegenständen oder für Dienstleistungen, an Empfänger, zu denen familiäre oder andere enge persönliche Bindungen, Bindungen aufgrund von Leitungsfunktionen oder Mitgliedschaften, sowie eigentumsrechtliche, finanzielle oder rechtliche Bindungen, gemäß der Definition des Mitgliedstaats, bestehen, der Normalwert ist:

a)

sofern die Gegenleistung niedriger als der Normalwert ist und der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger nicht zum vollen Vorsteuerabzug gemäß den Artikeln 167 bis 171 sowie 173 bis 177 berechtigt ist;

…“

Schwedisches Recht

7 Auf den Ausgangsrechtsstreit sind in zeitlicher Hinsicht die Bestimmungen des Mervärdeskattelag (1994:200) (Mehrwertsteuergesetz [1994:200]) anwendbar. Die Art. 72, 73 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie wurden durch Kapitel 1 § 9 Abs. 1 sowie Kapitel 7 §§ 2, 3 und 3a dieses Gesetzes in schwedisches Recht umgesetzt.

 

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8 Högkullen ist die Muttergesellschaft eines Immobilienverwaltungskonzerns und nimmt aktiv an der Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften teil. In diesem Zusammenhang erbrachte die Muttergesellschaft für die Tochtergesellschaften im Jahr 2016 Dienstleistungen in den Bereichen Unternehmensführung, Wirtschaft, Immobilienverwaltung, Investitionen, IT und Personalverwaltung, für die sie insgesamt 2,3 Mio. Schwedische Kronen (SEK) (rund 204.200 Euro) in Rechnung stellte und dafür die Mehrwertsteuer auswies.

9 Diese Gegenleistung wurde durch Anwendung einer sogenannten „Cost-Plus-Methode“ (Kostenaufschlagsmethode) bestimmt und setzte sich aus einem Betrag zusammen, der den Kosten für den Erwerb und die Erbringung der Dienstleistungen durch Högkullen zuzüglich eines Gewinnaufschlags entsprach. Högkullen wandte insoweit einen Verteilerschlüssel an, in dem ein bestimmter prozentueller Anteil ihrer Kosten für Unternehmensführung sowie für Räumlichkeiten, Telefon, IT, Vertretung und Reisetätigkeit als auf die für die Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen entfallend angesehen wurden. Dagegen standen die „Aktionärskosten“, wie etwa Kosten für Buchführung, Revision und Hauptversammlung, und die Kosten für die Kapitalbeschaffung nach ihrer Auffassung in keinem Zusammenhang mit den erbrachten Dienstleistungen. Diese Kosten wurden daher bei der Berechnung der Gegenleistung ebenso wenig berücksichtigt wie die Kosten für eine geplante Ausgabe neuer Aktien und für die Börsenzulassung.

10 Für Högkullen beliefen sich im Jahr 2016 die Gesamtkosten auf rund 28 Mio. SEK (etwa 2.484.000 Euro). Rund die Hälfte des Betrags betraf mehrwertsteuerpflichtige Kosten, während der verbleibende Teil von der Mehrwertsteuer befreite Anschaffungskosten und andere mehrwertsteuerfreie Kosten wie Lohnkosten betraf. Die Gesellschaft brachte die gesamte Vorsteuer für die von ihr getragenen Kosten, für die ihr Mehrwertsteuer, d.h. auch die Mehrwertsteuer auf „Aktionärskosten“, in Rechnung gestellt worden war, zum Abzug.

11 Nach Auffassung der Finanzverwaltung wurde für die von Högkullen für ihre Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen ein Preis unter dem Normalwert in Rechnung gestellt. Da es nach Ansicht der Finanzverwaltung keine vergleichbaren auf dem freien Markt angebotenen Dienstleistungen gab, legte sie die Steuerbemessungsgrundlage auf einen Betrag fest, der sämtlichen von dieser Gesellschaft im Jahr 2016 getragenen Kosten entsprach.

12 Nachdem das Kammarrätt i Göteborg (Oberverwaltungsgericht Göteborg, Schweden) mit einem Urteil vom in zweiter Instanz die Entscheidung der Finanzverwaltung über die Neubewertung der Steuerbemessungsgrundlage von Högkullen bestätigt hatte, legte diese beim Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein.

13 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach Art. 80 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie Maßnahmen getroffen werden können, damit die Steuerbemessungsgrundlage dem Normalwert entspricht, wenn Bindungen aufgrund von Leitungsfunktionen oder Mitgliedschaften zwischen den beteiligten Steuerpflichtigen bestehen, wenn die Gegenleistung niedriger als der Normalwert ist und wenn der Leistungsempfänger nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt ist. Während im vorliegenden Fall die erste und die dritte Voraussetzung erfüllt seien, bestünden Zweifel daran, was unter „Normalwert“ zu verstehen sei.

14 So hätten die Parteien des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die Regelung in Art. 72 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bei der Bestimmung des Normalwerts von Dienstleistungen, die eine Muttergesellschaft für ihre Tochtergesellschaften erbringt, angewandt werden könne. Aus dieser Vorschrift ergebe sich u.a., dass der Begriff „Normalwert“ den gesamten Betrag betreffe, den ein Empfänger an einen selbständigen Dienstleistungserbringer zahlen müsste, um die fraglichen Dienstleistungen unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten.

15 Högkullen ist insoweit der Auffassung, dass die verschiedenen von einer Muttergesellschaft für ihre Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen jede für sich beurteilt werden müssten, und dass entsprechende Dienstleistungen auf dem freien Markt zu erhalten seien. Dagegen meint die Finanzverwaltung, dass die aktive Verwaltung der Tochtergesellschaften durch die Muttergesellschaft eine einzige zusammenhängende Dienstleistung sei, die zwischen selbständigen Parteien auf dem freien Markt keine Entsprechung finde. Da es sich um eigene Leistungen des aus der Muttergesellschaft und ihren Tochtergesellschaften bestehenden Konzerns handele, könne der Normalwert nicht gemäß den Bestimmungen von Art. 72 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt werden, sondern müsse auf der Grundlage der Bestimmungen von Satz 2 dieses Art. 72 erfolgen.

16 Das vorlegende Gericht hält es für erforderlich, durch den Gerichtshof die Frage klären zu lassen, ob mit der Finanzverwaltung davon ausgegangen werden kann, dass auf dem freien Markt keine den in Rede stehenden Dienstleistungen vergleichbaren Leistungen angeboten würden und dass es daher mit den Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar sei, in diesem Fall den Normalwert immer unter Zugrundelegung der alternativen Regel in Art. 72 Satz 2 der Richtlinie zu bestimmen.

17 Auch in Bezug auf diesen Art. 72 Satz 2 bestünden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Parteien des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits. Nach dieser Bestimmung verstehe man unter dem Normalwert einen Betrag nicht unter dem Betrag der Ausgaben des Steuerpflichtigen für die Erbringung der Dienstleistung. Högkullen vertritt die Auffassung, dass die von ihr bei der Berechnung der in Rede stehenden Gegenleistung angewandte Cost-Plus-Methode (Kostenaufschlagsmethode) dazu führe, dass diese mindestens den von ihr für die Erbringung der Dienstleistungen getragenen Kosten entspreche. Dagegen vertritt die Finanzverwaltung die Auffassung, dass es sich bei sämtlichen Kosten der Muttergesellschaft um Kosten für die den Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen handele.

18 Das vorlegende Gericht möchte also wissen, ob es mit den Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar ist, falls die einzige Tätigkeit einer Muttergesellschaft in der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften besteht und die Muttergesellschaft in Bezug auf ihre Kosten sämtliche Vorsteuern abgezogen hat, davon auszugehen, dass die gesamten Kosten der Muttergesellschaft, einschließlich der Aktionärskosten, Kosten dieser Gesellschaft für die Erbringung von Dienstleistungen für die Tochtergesellschaft darstellen.

19 Unter diesen Umständen hat der Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist es mit den Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar, die nationalen Regelungen zur Neubewertung der Steuerbemessungsgrundlage so anzuwenden, dass es sich, wenn eine Muttergesellschaft an ihre Tochtergesellschaften Dienstleistungen der im vorliegenden Rechtsstreit in Rede stehenden Art erbringt, immer um dem Konzern eigene Dienstleistungen handelt, deren Normalwert nicht durch einen Vergleich, wie er in Art. 72 Satz 1 dieser Richtlinie vorgesehen ist, bestimmbar ist?

2.

Ist es mit den Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar, die nationalen Regelungen zur Neubewertung der Steuerbemessungsgrundlage so anzuwenden, dass die gesamten Kosten einer Muttergesellschaft, einschließlich Kapitalbeschaffungs- und Aktionärskosten, die Kosten der Gesellschaft für die ihren Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen ausmachen, wenn die einzige Tätigkeit der Muttergesellschaft darin besteht, die Tochtergesellschaften aktiv zu verwalten, und die Muttergesellschaft die gesamte Vorsteuer auf ihre Erwerbe abgezogen hat?

 

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

20 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die von einer Muttergesellschaft im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften für diese erbrachten Dienstleistungen in allen Fällen als einheitliche, die Bestimmung ihres Normalwerts nach der in Art. 72 Satz 1 der Richtlinie vorgesehenen Vergleichsmethode ausschließende Leistung ansieht.

21 Zur Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass nach der in Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten allgemeinen Regel die Steuerbemessungsgrundlage bei Lieferungen von Gegenständen und bei Dienstleistungen, die nicht unter die Art. 74 bis 77 dieser Richtlinie fallen, alles umfasst, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen. Es handelt sich also um die zwischen den Parteien vereinbarte und vom Steuerpflichtigen tatsächlich empfangene Gegenleistung und nicht um einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert wie den Marktwert oder einen von der Finanzverwaltung bestimmten Referenzwert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Tulică und Plavoşin, C‑249/12 und C‑250/12, EU:C:2013:722, Rn. 33, sowie vom , Amper Metal, C‑334/20, EU:C:2021:961, Rn. 28).

22 Art. 80 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie führt zur Vorbeugung gegen Steuerhinterziehung und ‑umgehung insofern eine Ausnahme von der in Art. 73 der Richtlinie vorgesehenen allgemeinen Regel ein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Amper Metal, C‑334/20, EU:C:2021:961, Rn. 29), als er es ermöglicht, den Normalwert des Umsatzes als Steuerbemessungsgrundlage anzusehen, wenn erstens es sich bei diesem Umsatz um eine Lieferung von Gegenständen an oder um Dienstleistungen für Empfänger handelt, zu denen familiäre oder andere enge persönliche Bindungen, Bindungen aufgrund von Leitungsfunktionen oder Mitgliedschaften sowie eigentumsrechtliche, finanzielle oder rechtliche Bindungen bestehen, zweitens die Gegenleistung niedriger als der Normalwert ist, und drittens der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger nicht zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt ist.

23 Was im vorliegenden Fall die Dienstleistungen angeht, die Högkullen für ihre Tochtergesellschaften erbracht hat, steht fest, dass die erste und die dritte der in der vorstehenden Randnummer genannten Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 80 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie erfüllt sind. Dagegen bestehen Zweifel in Bezug auf die Anwendung der den „Normalwert“ betreffenden zweiten Voraussetzung.

24 Dieser Begriff wird in Art. 72 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert als „der gesamte Betrag, den ein Empfänger einer Lieferung oder ein Dienstleistungsempfänger auf derselben Absatzstufe, auf der die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung erfolgt, an einen selbständigen Lieferer oder Dienstleistungserbringer in dem Mitgliedstaat, in dem der Umsatz steuerpflichtig ist, zahlen müsste, um die betreffenden Gegenstände oder Dienstleistungen zu diesem Zeitpunkt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs zu erhalten“.

25 Die Finanzverwaltung macht geltend, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens grundsätzlich nicht möglich sei, nach Art. 72 Satz 1 der Richtlinie einen Normalwert zu bestimmen, da die aktive Verwaltung der Tochtergesellschaften durch eine Muttergesellschaft eine einheitliche und zusammenhängende Dienstleistung sei, die zwischen selbständigen Parteien auf dem freien Markt keine Entsprechung finde.

26 Insoweit ist nach ständiger Rechtsprechung bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, um zu bestimmen, ob der fragliche Umsatz für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei oder mehr getrennte Leistungen oder eine einheitliche Leistung umfasst (Urteile vom , Companhia União de Crédito Popular, C‑89/23, EU:C:2024:333, Rn. 34, und vom , Digital Charging Solutions, C‑60/23, EU:C:2024:896, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

27 Insbesondere ergibt sich zwar aus Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass jeder Umsatz für die Zwecke der Mehrwertsteuer in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, doch darf ein Umsatz, der eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt, im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden. Eine einheitliche Leistung liegt dann vor, wenn mehrere Einzelleistungen oder Handlungen des Steuerpflichtigen für den Kunden so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre (Urteile vom , Companhia União de Crédito Popular, C‑89/23, EU:C:2024:333, Rn. 35, und vom , Digital Charging Solutions, C‑60/23, EU:C:2024:896, Rn. 47 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

28 Unter bestimmten Umständen sind ferner mehrere formal eigenständige Leistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, als einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht voneinander unabhängig sind (Urteile vom , Companhia União de Crédito Popular, C‑89/23, EU:C:2024:333, Rn. 36, und vom , Digital Charging Solutions, C‑60/23, EU:C:2024:896, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29 Das ist namentlich dann der Fall, wenn ein oder mehrere Teile als die Hauptleistung, andere Teile dagegen als eine oder mehrere Nebenleistungen anzusehen sind, die das steuerliche Schicksal der Hauptleistung teilen. Insoweit ist ein zu berücksichtigendes Kriterium, dass aus der Sicht des Durchschnittsverbrauchers ein eigenständiger Zweck der Leistung fehlt. So ist eine Leistung dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Dienstleisters unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (Urteile vom , Companhia União de Crédito Popular, C‑89/23, EU:C:2024:333, Rn. 37, und vom , Digital Charging Solutions, C‑60/23, EU:C:2024:896, Rn. 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Ob ein einheitlicher Preis berechnet wird oder vertraglich unterschiedliche Preise vorgesehen worden sind, hat in diesem Kontext keine entscheidende Bedeutung dafür, ob es sich um mehrere eigenständige und voneinander unabhängige Vorgänge oder um einen einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang handelt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , CPP, C‑349/96, EU:C:1999:93, Rn. 31, und vom , Everything Everywhere, C‑276/09, EU:C:2010:730, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

31 Im vorliegenden Fall waren die von Högkullen für ihre Tochtergesellschaften erbrachten Dienstleistungen insbesondere Dienstleistungen in den Bereichen Unternehmensführung, Wirtschaft, Immobilienverwaltung, Investitionen, IT und Personalverwaltung.

32 Im Hinblick auf die in den Rn. 26 bis 30 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung kann nicht davon ausgegangen werden, dass solche Dienstleistungen grundsätzlich so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige wirtschaftlich untrennbare Leistung und damit eine einheitliche Leistung bilden.

33 Wie nämlich von der Generalanwältin in den Nrn. 43 und 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt, haben diese Dienstleistungen zum einen, selbst wenn sie zusammen erbracht werden, offenbar jeweils einen eigenen und erkennbaren Charakter. Zum anderen kann die Tatsache, dass von jeder der Tochtergesellschaften für alle an sie von Högkullen erbrachten Leistungen ein Gesamtpreis an die Muttergesellschaft gezahlt wird, bei konzerninternen Leistungen nicht entscheidend sein, da es andernfalls der Konzern selbst in der Hand hätte, durch die vereinbarten Zahlungsmodalitäten die mehrwertsteuerrechtliche Beurteilung der Leistungen zu beeinflussen.

34 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Art. 72 und 80 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die von einer Muttergesellschaft im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften für diese erbrachten Dienstleistungen in allen Fällen als einheitliche, die Bestimmung ihres Normalwerts nach der in Art. 72 Satz 1 der Richtlinie vorgesehenen Vergleichsmethode ausschließende Leistung ansieht.

Zur zweiten Frage

35 Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht im Wesentlichen um eine Auslegung von Art. 72 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

36 Insoweit ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass diese Frage auf der Annahme beruht, dass bei einer aktiven Verwaltung von Tochtergesellschaften durch ihre Muttergesellschaft für die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie davon ausgegangen werden könne, dass keine vergleichbaren Leistungen auf dem freien Markt zu erhalten seien. Träfe diese Annahme zu, wäre sodann zu bestimmen, ob es mit der Richtlinie vereinbar ist, in diesem Fall den Normalwert unter Hinweis auf den einheitlichen Charakter der in Rede stehenden Dienstleistungen immer gemäß der in Art. 72 Satz 2 dieser Richtlinie vorgesehenen alternativen Regel zu ermitteln.

37 Wie sich aus den die Beantwortung der ersten Frage tragenden Gründen ergibt, kann der These, dass die von einer Muttergesellschaft im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften für diese erbrachten Dienstleistungen in allen Fällen eine einheitliche Leistung darstellen, nicht gefolgt werden.

38 Unter diesen Umständen erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten Vorlagefrage.

 

Kosten

39 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 72 und 80 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem

sind dahin auszulegen, dass

sie dem entgegenstehen, dass die Finanzverwaltung die von einer Muttergesellschaft im Rahmen der aktiven Verwaltung ihrer Tochtergesellschaften für diese erbrachten Dienstleistungen in allen Fällen als einheitliche, die Bestimmung ihres Normalwerts nach der in Art. 72 Satz 1 der Richtlinie vorgesehenen Vergleichsmethode ausschließende Leistung ansieht.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:516

Fundstelle(n):
KAAAJ-95368