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BVerfG Urteil v. - 1 BvR 2136/24

Stattgebender Kammerbeschluss: Überspannte Anforderungen an die Darlegung eines Revisionszulassungsgrundes im Verfahren der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung verletzt Art 19 Abs 4 GG - Gegenstandswertfestsetzung

Gesetze: Art 19 Abs 4 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 133 VwGO, § 135 VwGO, § 1 Abs 1 S 1 VwRehaG, § 1 Abs 2 VwRehaG, § 2 Abs 2 VwRehaG, § 16 Abs 1 S 3 VwRehaG

Instanzenzug: Az: 8 B 59/23 Beschlussvorgehend Az: 9 K 40/23 Urteil

Gründe

1Der Beschwerdeführer verfolgt mit seiner Verfassungsbeschwerde seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung.

I.

21. Das Gesetz über die Aufhebung rechtsstaatswidriger Verwaltungsentscheidungen im Beitrittsgebiet und die daran anknüpfenden Folgeansprüche (Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz − VwRehaG) ist die Grundlage für die Aufhebung hoheitlicher Maßnahmen der DDR, die mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaates schlechthin unvereinbar sind und deren Folgen noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken (vgl. § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG). Das Gesetz ist durch das Zweite SED-Unrechtbereinigungsgesetz (2. SED-UnBerG) vom (BGBl I S. 1311) eingeführt worden und begründet Ausnahmen zu dem Grundsatz des Art. 19 Satz 1 des Einigungsvertrages, dass verwaltungsrechtliche Entscheidungen der DDR bestandskräftig bleiben.

3In § 1 Abs. 2 VwRehaG hat der Gesetzgeber als besonderes Indiz (vgl. BTDrucks 12/4994, S. 18) für einen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze Maßnahmen zur politischen Verfolgung oder Willkürakte im Einzelfall erfasst. Solche Maßnahmen fanden ihre Gestalt auch in den sogenannten Zersetzungsmaßnahmen zur Einwirkung auf Einstellungen der DDR-Bürgerinnen und DDR-Bürger. Nach Ziff. 2.6.2. Abs. 2 der vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR im Jahr 1976 in Kraft gesetzten Richtlinie Nummer 1/76 zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge gehörten zur Zersetzung ausdrücklich die systematische Diskreditierung des öffentlichen Ansehens, die systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens Einzelner, die zielstrebige Untergrabung von Überzeugungen auch von Vorbildern oder das Verstärken von Rivalitäten durch Ausnutzen persönlicher Schwächen. Über die in der Richtlinie benannten Maßnahmen hinaus ging das Ministerium für Staatssicherheit von der Unbegrenztheit operativer Zersetzungsmethoden aus (vgl. Pingel-Schliemann, NJ-Beilage 2021, S. 19 <21>). Zur Durchführung solcher Maßnahmen kamen sogenannte Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit zum Einsatz. Sogenannte Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit setzte das Ministerium insbesondere auf der Leitungsebene unterschiedlicher Staats- und Parteiorganisationen ein. Die Zersetzung kam einer Bestrafung ohne Urteil mit dem Ziel der Repression gleich, erzielte ohne äußere Gewalt eine unmenschliche, grausame und erniedrigende Behandlung und hatte durch ihre intensiven Wirkungen meist verheerende Folgen für die Betroffenen (vgl. Weberling/Kowalczyk, NJ 2023, S. 16 <17>). Die Zersetzung war perfide Zermürbung (vgl. BVerwGE 181, 173 <177 f. Rn. 21> mit Wiedergabe von BTDrucks 19/14427, S. 26).

42. Die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers betrifft die fachgerichtliche Beurteilung der Frage nach einem Ausschluss seiner Ansprüche nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz. Im Dezember 1978 zeigte der Beschwerdeführer seinen geplanten Fluchtversuch aus der DDR bei der Polizei selbst an. In der allein mit ihm und ohne Rechts- oder anderweitigen Beistand geführten polizeilichen Vernehmung nannte der Beschwerdeführer auch die Namen zweier am Fluchtplan Beteiligter. Der Beschwerdeführer war in diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt, hatte seine Ausbildung als Gas-Wasser-Installateur abgeschlossen, war jedoch als Schlosser am Berliner Ensemble tätig.

53. Nachdem sein im Jahr 2015 gestellter Antrag auch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung schon wegen Nichtvorliegens rechtsstaatswidriger Maßnahmen abgelehnt worden war, erhob der Beschwerdeführer Verpflichtungsklage.

6a) Das Verwaltungsgericht Berlin wies die Klage mit seinem Urteil vom ab. Auf die Revision des Beschwerdeführers hob das Bundesverwaltungsgericht mit seinem Urteil vom die erstinstanzliche Entscheidung auf, soweit darin die verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen Überwachung des Beschwerdeführers durch Mitarbeiter und Informelle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit während des Grundwehrdienstes, wegen dreier Festnahmen durch Sicherheitsbehörden der DDR im Jahr 1987 sowie wegen des mit der Haftandrohung verbundenen Verbotes zweier Fotoausstellungen in den Jahren 1987 und 1989 abgelehnt worden war. Die letzte Fotoausstellung betraf die polnische Gewerkschaft Solidarność und ihre Bewegung. Die Aufhebung der Klageabweisung erstreckte sich umgekehrt nicht auf die vom Beschwerdeführer ebenfalls als politisch motiviert geltend gemachte Benachteiligung durch Nichtdelegation zu einem Hochschulstudium. Sie war im Mai 1987 mit der Aufhebung des Arbeitsverhältnisses des damals als Hilfserzieher tätigen Beschwerdeführers einhergegangen und offiziell mit einer Nichterfüllung der sachlichen Anforderungen an den Erzieherberuf begründet worden.

7Zur Begründung der Zurückverweisung des Verfahrens an das Verwaltungsgericht Berlin führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass es trotz der teilweisen Urteilsaufhebung nicht abschließend beurteilen könne, ob eine Rehabilitierung hinsichtlich der festgestellten rechtsstaatswidrigen Maßnahmen nach § 2 Abs. 2 VwRehaG ausgeschlossen sei. Das wäre der Fall, wenn der Beschwerdeführer gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen hätte, was vorliege, wenn Betroffene freiwillig und gezielt Informationen über Mitbürgerinnen und Mitbürger gesammelt und an den Staatssicherheitsdienst der DDR weitergegeben haben. Die Freiwilligkeit sei jedoch zu verneinen, wenn die Tätigkeit unter Zwang aufgenommen oder fortgesetzt worden sei. Der Beschwerdeführer habe anlässlich der Selbstanzeige gemeinschaftlicher Fluchtvorbereitungen gegenüber der Polizei zwei weitere DDR-Bürger namentlich benannt. Vor diesem Hintergrund erscheine die Annahme eines Ausschließungsgrundes möglich.

8b) Nach Fortsetzung des Verfahrens wies das Verwaltungsgericht Berlin die Klage mit Urteil vom ab. Der Beschwerdeführer habe die beiden Namen freiwillig genannt, um hieraus einen Vorteil zu erlangen. Auf das Bekanntsein negativer Maßnahmen gegen die beiden DDR-Bürger komme es nicht an. Der Beschwerdeführer habe freiwillig gehandelt, weil für einen entsprechenden Zwang zur Nennung der Namen nichts ersichtlich sei. Er habe nur pauschal geschildert, dass seine Freundin wegen ihres Kummers, dass er mit einem falschen Pass die DDR habe verlassen wollen, dies ihren Eltern erzählt habe. Ferner habe der Beschwerdeführer angegeben, dass ihr Stiefvater, Parteifunktionär der SED beim Berliner Ensemble, gesagt habe, entweder stelle sich der Beschwerdeführer sofort der Polizei oder der Stiefvater mache eine Anzeige. Diesen Vortrag sah das Verwaltungsgericht als nicht glaubhaft an, weil er nicht ansatzweise mit den Angaben aus der Selbstanzeige in Einklang zu bringen und auch nicht mit einem Gedächtnisprotokoll des Beschwerdeführers aus dem Jahr 2023 kohärent sei. Es ergebe sich ein Widerspruch zu Angaben des Beschwerdeführers, dass seine Mutter und seine damalige Freundin seine Ausschleusung verhindert hätten. Diese Angaben hatte im Jahr 1986 ein sogenannter Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit festgehalten. Diese Widersprüche − so das Verwaltungsgericht weiter − habe der Beschwerdeführer nicht ansatzweise aufklären können. Ferner überzeuge es nicht, dass er nun geltend mache, er habe auch einer Anzeige seiner Mitstreiter durch den SED-Parteifunktionär, den Stiefvater seiner Freundin, zuvorkommen müssen.

9c) Die gegen die Nichtzulassung der Revision erhobene Beschwerde des Beschwerdeführers wies das zurück. Nicht klärungsfähig sei die vom Beschwerdeführer zur grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache aufgeworfene Frage, ob jemand gegen die Grundsätze der Menschlichkeit bereits durch eine Selbstanzeige wegen schwerer Republikflucht verstoße, bei der er auch zwei andere Personen namentlich genannt habe, wenn er mit der Selbstanzeige einer angekündigten Anzeige einer dritten Person zuvorgekommen sei. Das Bundesverwaltungsgericht stellte darauf ab, dass das Verwaltungsgericht nicht festgestellt habe, dass der Beschwerdeführer mit seiner Selbstanzeige der angekündigten Anzeige einer dritten Person zuvorgekommen sei. Er habe seinen diesbezüglichen Vortrag, der Stiefvater seiner Freundin hätte auch seine beiden Mitstreiter angezeigt, zum einen für nicht glaubhaft gehalten. Zum anderen habe es angenommen, dass dieser Vortrag - selbst bei Wahrunterstellung - nicht zur Annahme eines Zwangs zur Benennung der beiden DDR-Bürger geführt habe.

10Nicht klärungsbedürftig sei die weitere Frage, ob der für Inoffizielle Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit entwickelte Maßstab an die Freiwilligkeit auch bei einem Antragsteller anzuwenden sei, der sich ausdrücklich einer Zusammenarbeit verweigert habe. Denn der Maßstab, die Freiwilligkeit einer Betätigung zu verneinen, sei nicht auf solche Mitarbeiter beschränkt. Vielmehr beruhe er auf einem allgemeinen Rechtsgrundsatz.

11Schließlich leide das Urteil nicht unter dem Verfahrensmangel einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes. Das Verwaltungsgericht habe den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit keinen exklusiven Beweiswert beigemessen und habe sämtliche Tatsachen gewürdigt. Mit dem Einwand nicht im Kern, sondern nur in Details voneinander abweichender Ereignisse könne ein Verfahrensmangel nicht begründet werden.

II.

121. Mit seiner am erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung seines Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz und stützt sich hierfür auf Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Zudem rügt er eine Verletzung des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG.

13Der Zugang zu einer eröffneten Verfahrensinstanz dürfe nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden. Die erfolgte Ablehnung der Zulassung der Revision sei nicht nachvollziehbar. Die grundsätzliche Bedeutung liege auf der Hand. Das Verwaltungsgericht sei von einer Selbstanzeige des Beschwerdeführers wegen Republikflucht ausgegangen. Zu behandeln sei die Frage nach einer Vorwerfbarkeit, wenn man sich selbst anzeige und damit weitere Beteiligte in Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung bringe. Die reine Kooperation in einem Strafverfahren sei in der Regel nicht als Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit anzusehen. Zudem sei das Verwaltungsgericht seiner Amtsermittlungspflicht nicht nachgekommen, indem es die fehlende Glaubhaftigkeit der Angaben zum Zwang einer Selbstanzeige auf zwei kurze Stasi-Berichte gestützt habe, ohne sich mit ihnen kritisch auseinanderzusetzen, obwohl gerade diese Unterlagen kritisch zu prüfen seien. Die Abweichungen zwischen den Erklärungen des Beschwerdeführers im Verlauf der Jahre seien kleine Nuancen.

14Die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts erscheine willkürlich. Der Beschwerdeführer habe zur Aufforderung des SED-Parteifunktionärs, sich sofort bei der Polizei selbst anzuzeigen, vorgetragen. Deswegen sei der Beschwerdeführer zur Selbstanzeige gezwungen gewesen, was er am nächsten Tag auf dem Polizeirevier auch getan habe. Am darauffolgenden Tag sei er von der Arbeit durch Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit abgeholt und verhört worden. Der geforderten Zusammenarbeit mit der Stasi und Fortführung des Fluchtversuchs zum Schein habe er sich verweigert. Das Verwaltungsgericht habe die im Einzelfall erforderliche Abwägung des Vorliegens schwerwiegender Vorwürfe nicht vorgenommen. Hier liege das entscheidende Vernehmungsprotokoll nicht vor. Die Indizien sprächen hingegen gegen einen Verstoß gegen die Menschlichkeit. Die Selbstanzeige nur auf sich selbst zu beziehen, sei keine Alternative gewesen. Die Entscheidung einer umfassenden Selbstanzeige sei aus Strafverteidigersicht die richtige Wahl gewesen. In subjektiver Hinsicht habe der Beschwerdeführer damit gerade repressive Maßnahmen gegen die Betroffenen verhindern wollen.

152. Gelegenheit zur Stellungnahme im Rahmen der Zustellung nach § 94 Abs. 2 BVerfGG haben das Bundesministerium der Justiz und die Senatsverwaltung für Justiz und Verbraucherschutz des Landes Berlin erhalten.

163. Der Kammer haben die Akten des fachgerichtlichen Ausgangsverfahrens vorgelegen.

III.

17Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen einer stattgebenden Kammerentscheidung nach § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG liegen vor. Die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet.

18Der verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG. Darin sind die Anforderungen an die Darlegung eines Revisionszulassungsgrundes im vorliegenden Fall überspannt worden (1.), worauf die Zurückweisung der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin beruht (2.).

191. An die gerichtliche Handhabung des Rechtsmittelrechts ergeben sich Anforderungen, die in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem allgemeinen Justizgewährungsanspruch nach Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) folgen (vgl. BVerfGE 82, 126 <155>; 93, 99 <107>; 107, 395 <401, 408>) und für das vorliegende verwaltungsgerichtliche Verfahren auf dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes beruhen (vgl. BVerfGE 74, 228 <234>; 88, 118 <123 f.>).

20Zwar gewährleistet Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG keinen Anspruch auf die Errichtung eines Instanzenzuges (vgl. BVerfGE 104, 220 <231>; 125, 104 <136>). Hat der Gesetzgeber jedoch mehrere Instanzen geschaffen und gibt das Prozessrecht - hier mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nach § 16 Abs. 1 Satz 3 VwRehaG in Verbindung mit §§ 135, 133 VwGO - den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, die Zulassung eines Rechtsmittels zu erstreiten, darf der Zugang zu ihm nicht in unzumutbarer und durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigender Weise und damit objektiv willkürlich erschwert werden. Dies gilt sowohl für die gerichtliche Handhabung der Anforderungen an die Darlegung der gesetzlich vorgesehenen Zulassungsgründe als auch für die Handhabung der Anforderungen an das Vorliegen von Zulassungsgründen (vgl. BVerfGE 125, 104 <137>; 134, 106 <117 f. Rn. 34>; 151, 173 <184 Rn. 27 f.>).

21Diesen Maßstäben wird der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht gerecht. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch seine Handhabung der Zulassungsanforderungen im konkreten Fall den Zugang zur Revisionsinstanz mit Blick auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise erschwert. Nicht nachzuvollziehen ist seine Begründung zur fehlenden Klärungsfähigkeit der als grundsätzlich bedeutsam aufgeworfenen Frage, ob jemand gegen die Grundsätze der Menschlichkeit bereits durch eine Selbstanzeige wegen schwerer Republikflucht verstößt, bei der er auch zwei andere Personen namentlich genannt hat, wenn er mit der Selbstanzeige einer angekündigten Anzeige einer dritten Person zuvorgekommen ist.

22a) Von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne der §§ 135, 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache nach der verfassungsrechtlich unbedenklichen (vgl. BVerfGE 151, 173 <186 Rn. 33>) Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stets aber nur dann, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlich klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts zu erwarten ist (vgl. schon BVerwGE 13, 90 <91 f.>).

23b) Das Bundesverwaltungsgericht hat der ersten vom Beschwerdeführer als grundsätzlich bedeutend angesehenen Frage die Klärungsfähigkeit abgesprochen, weil sie sich in dem angestrebten Revisionsverfahren nicht stelle. Das Verwaltungsgericht habe nicht festgestellt, dass der Beschwerdeführer mit seiner Selbstanzeige der angekündigten Anzeige einer dritten Person zuvorgekommen sei. Zum einen habe das Verwaltungsgericht für nicht glaubhaft gehalten, dass der Stiefvater der Freundin des Beschwerdeführers auch seine beiden Mitstreiter angezeigt hätte. Zum anderen habe es angenommen, dass dieser Vortrag nicht zur Annahme eines Zwangs zur Benennung der Mitstreiter führe.

24c) Diese Begründung lässt einen entscheidenden Anwendungsfall der vom Beschwerdeführer konkret zu dem revisiblen Bundesrecht des § 2 Abs. 2 VwRehaG aufgeworfenen Frage außer Acht.

25Das Bundesverwaltungsgericht betrachtet die Erheblichkeit der Frage anhand des Sachverhalts, soweit ihn das Verwaltungsgericht dazu festgestellt hat, dass die Anzeige der dritten Person, der die Selbstanzeige zuvorkommen soll, auch die Mitstreiter betroffen hätte. Eine Beschränkung auf diese Fallkonstellation ist allerdings weder der Formulierung der als grundsätzlich bedeutend vorgebrachten Frage zu entnehmen noch lässt sie sich aus der hierzu angeführten Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde des Beschwerdeführers vom ableiten.

26Der Wortlaut der Frage bezieht sich allein auf das Zuvorkommen mit Blick auf die angekündigte Anzeige eines Dritten. Der Bezugspunkt der Ankündigung wird hingegen nicht eingegrenzt. Vielmehr ist die Frage dahingehend offen formuliert, dass sie sich auf die Ankündigung einer Anzeige sowohl des sich später selbst Anzeigenden als auch zusätzlich seiner Mitstreiter beziehen kann.

27Eine Einengung der aufgeworfenen Grundsatzfrage auf einen der beiden Sachverhalte folgt auch nicht aus der Berücksichtigung der hierzu vom Beschwerdeführer im Zulassungsverfahren gegebenen Begründung. Sie bezieht sich in der Überschrift dieses Begründungsteils nur allgemein auf den Druck der Fremdanzeige. Die unter dieser Überschrift zu findenden Ausführungen gehen zunächst auf den Anlass geständiger Einlassungen nicht ein und stellen im Weiteren nur darauf ab, dass der Beschwerdeführer gezwungen gewesen sei, sich und die weiteren beteiligten Personen anzuzeigen. Dass dies zumindest auch den Fall meint, dass ausschließlich der sich selbst Anzeigende von der angedrohten Anzeige der dritten Person betroffen gewesen wäre, zeigen schon die einleitenden Begründungselemente auf, die der Beschwerdeführer zur grundsätzlichen Bedeutung vor Formulierung der Frage vorgebracht hat. Darin stellt er darauf ab, dass er jedenfalls nach seiner Ansicht nur durch Nennung der Mitstreiter zugleich wirksam strafbefreiend von einer unterlassenen Strafanzeige habe zurücktreten können. Anhaltspunkte für eine Begrenzung der aufgeworfenen Frage auf eine Ankündigung zugleich der Anzeige der Mitstreiter lassen sich an der Nichtzulassungsbegründung hingegen nicht festmachen.

28Fehlt den Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts mithin die Auseinandersetzung mit einer wesentlichen Sachverhaltskonstellation, entfernt sich die aus dem Beschluss hervorgehende Begründung in nicht mehr sachlich gerechtfertigter Weise von den für die Beurteilung des Vorliegens eines Zulassungsgrundes wesentlichen Gesichtspunkten.

292. Die Zurückweisung der Beschwerde durch das Bundesverwaltungsgericht beruht nach verfassungsrechtlichen Maßstäben tragend auf der als im vorliegenden Fall verfassungswidrig anzusehenden Handhabung des Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung.

30a) Eine andere den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügende Begründung zum Fehlen der grundsätzlichen Bedeutung der vorgenannten Frage ist dem Beschluss vom schon nicht zu entnehmen. Zudem bezieht sich die aufgeworfene Grundsatzfrage auf eine besondere Fallkonstellation der Nennung von Namen Dritter. Es handelt sich um eine Selbstanzeige. Situationen der Selbstbelastung werfen Rechtsfragen auf, die fachgerichtlich ersichtlich noch nicht differenziert geklärt sind. Hier kann Anlass zur Prüfung einer Differenzierung des Maßstabes eines Verstoßes gegen Grundsätze der Menschlichkeit (§ 2 Abs. 2 VwRehaG) bestehen - über die bisherigen Kriterien des Zwangs oder der Freiwilligkeit hinaus. Denn die Situation der Selbstbelastung kann sich von Informationsweitergaben an den Staatssicherheitsdienst, die durch Eigenbegünstigung oder Fremdschädigung motiviert sind, abheben.

31b) Außerdem entfällt das Beruhen der Verletzung effektiven Rechtsschutzes der Sache nach nicht mit Blick auf die Beschlussbegründung zum Zulassungsgrund eines Verfahrensfehlers in Gestalt einer Verletzung des Überzeugungsgrundsatzes nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

32Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer zur Beweiswürdigung vorgebrachte Rüge einer fehlenden Unterscheidung von Kern- und Detailvortrag einen Verfahrensmangel nicht begründe und das Verwaltungsgericht unter Würdigung sämtlicher Tatsachen zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die Handlung des Beschwerdeführers freiwillig gewesen sei. Das Verwaltungsgericht ist auch tatsächlich weitergehend zu dem Schluss gelangt, dass die Behauptung des Beschwerdeführers, zur Selbstanzeige gezwungen worden zu sein, (insgesamt) nicht glaubhaft sei. Damit würde sich vom Standpunkt des Verwaltungsgerichts von vornherein gerade nicht die als grundsätzlich bedeutend vorgebrachte Frage stellen, die daran anknüpft, mit der Selbstanzeige einer angekündigten Anzeige einer dritten Person zuvorzukommen. Allerdings hat die Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts in verfassungsrechtlich zu beanstandender Weise im vorliegenden Fall auf der Hand liegende und damit offensichtliche Umstände nicht zum Gegenstand der aus den Gründen ersichtlichen Überzeugungsbildung gemacht. Dies führt zur objektiven Willkürlichkeit des Vorgangs der erkennbaren Überzeugungsbildung und daher des konkret niedergelegten Ergebnisses der Beweiswürdigung. Der Beschwerdeführer hat diesen Verfahrensfehler im Zulassungsverfahren in der Sache gerügt und damit auch dort die Erheblichkeit für die Grundsatzfrage geltend gemacht.

33Für die verfassungsrechtliche Überprüfung der von den Fachgerichten vorgenommenen Beweiswürdigung und der von ihnen getroffenen tatsächlichen Feststellungen gilt der Maßstab des Willkürverbots (vgl. BVerfGE 4, 294 <297>; 34, 384 <397>; 96, 189 <203>). Dieses Verbot ist nicht bereits bei einem Verstoß gegen einfaches Recht, sondern dann verletzt, wenn eine Entscheidung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar ist (vgl. BVerfGE 87, 273 <278 f.>; 89, 1 <13 f.>; 96, 189 <203>; 112, 185 <215 f.>).

34Das Verwaltungsgericht hat sich formal auf die Feststellung von Widersprüchen zwischen unterschiedlichen Aussagen gestützt, ohne diese Aussagen in die jeweilige Zeit zu stellen und dem Hintergrund der jeweils Aussagenden zuzuordnen, obwohl diese Gesichtspunkte für eine Gesamtwürdigung im vorliegenden Fall unentbehrlich sind. Sie konnte das Verwaltungsgericht nicht in willkürfreier Weise außenvorlassen, wie dies jedenfalls der Urteilsbegründung nicht anders zu entnehmen ist.

35aa) Für die Angaben aus der Selbstanzeige hat das Verwaltungsgericht zwar auf deren Ursprung aus dem Ministerium für Staatssicherheit abgestellt. Dessen Kerblochkarte beinhaltet jedoch nur eine Zusammenfassung aus der Hand des Staatssicherheitsdienstes als mittelbare und aufgabengefärbte Quelle über die polizeiliche Aussage des Beschwerdeführers vom , die ihrerseits dort protokolliert worden ist. Demgegenüber ist das polizeiliche Vernehmungsprotokoll als zumindest geschehensnähere Wiedergabe der umfänglicheren Aussage nicht mehr vorhanden. Zum Grund der Selbstanzeige liegt es zudem nahe, dass Angaben des Beschwerdeführers hierzu ohnehin nicht Gegenstand der Aussage vor der Polizei sein mussten und dann nicht Inhalt deren zusammenfassender Wiedergabe durch die Staatssicherheit sein konnten.

36Für den vom Verwaltungsgericht angenommenen Widerspruch zwischen dem dokumentierten zeitlichen Ablauf der Treffen der die Ausreise Planenden ( mit und bereits ohne den Beschwerdeführer) gegenüber der Angabe in dem Gedächtnisprotokoll vom , dass die Freundin − so wörtlich − wenige Tage vor der geplanten Ausreise informiert worden sei, bezieht die Beweiswürdigung den großen zeitlichen Abstand bei der Wiedergabe der Geschehnisse nicht ein, die die Schilderung eingeschätzter Zeitmomente beeinflussen kann.

37Den Widerspruch zu der Angabe, dass die Drohung einer Anzeige von der Mutter des Beschwerdeführers und seiner Freundin − und nicht von deren Stiefvater als SED-Parteifunktionär beim Berliner Ensemble − ausgegangen sei, stützt das Verwaltungsgericht auf Aufzeichnungen zu einem Gespräch mit einem sogenannten Gesellschaftlichen Mitarbeiter der Staatssicherheit vom . In seiner Begründung zur Überzeugungsbildung geht das Verwaltungsgericht indessen nicht auf die Perspektive der Drittdokumentation eines acht Jahre später geführten Gesprächs und auch nicht darauf ein, dass im Fokus dieser Dokumentation die familiären Verhältnisse und die Art der jeweiligen Beziehungen des Beschwerdeführers zu seinem Umfeld, nicht aber die näheren Umstände der Selbstanzeige des Beschwerdeführers standen.

38bb) Schließlich lässt die Urteilsbegründung des Verwaltungsgerichts nicht erkennen, dass in seine Überzeugungsbildung über das Vorliegen einer auf äußeren Druck zustande gekommenen Selbstanzeige die Umstände eingeflossen sind, die naheliegender Weise dagegensprechen, dass dem Verhalten des Beschwerdeführers eine eigene positive anstelle einer von Dritten negativ begründete Motivation zugrunde lag.

39Zum einen befand sich der Beschwerdeführer nach seinen schriftlichen Angaben aus dem Jahr 2023 in einer Verhörsituation als Straftäter ohne Beistand, der zwar mitgekommen, aber nicht zur Teilnahme zugelassen gewesen sei. Zum anderen dürfte die Namensnennung offenkundig nicht im Bestreben einer anschließenden Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden geschehen sein, um sich hieraus Vorteile zu verschaffen. Der Beschwerdeführer hat in seinen Angaben aus dem Jahr 2023 nicht nur die Ausschlagung des Anwerbeversuchs des Folgetages dargelegt, als er von der Arbeit mitgenommen und nun durch das Ministerium für Staatssicherheit verhört worden sei. Vielmehr ist das Verwaltungsgericht im Einklang mit den vorausgegangenen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts von mehreren später gegen den Beschwerdeführer gerichteten rechtsstaatswidrigen Maßnahmen ausgegangen.

IV.

40Nach § 93c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2, § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist der angegriffene aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an das Bundesverwaltungsgericht zurückzuverweisen.

41Die Anordnung der Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Mit ihr bedarf es einer Entscheidung über den Antrag des Beschwerdeführers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung seines Bevollmächtigten nicht mehr (vgl. BVerfGE 62, 392 <397>; 71, 122 <136 f.>; 105, 239 <252>; 151, 67 <97 Rn. 80>).

42Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).

43Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250630.1bvr213624

Fundstelle(n):
JAAAJ-94982