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BVerfG Beschluss v. - 2 BvE 3/20

Unzulässige Organklage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag zu Fragen der Beschlussfähigkeit des Bundestags - ua Verfristung bzw mangelnde Darlegungen zur beanstandeten Maßnahme

Gesetze: § 23 Abs 1 S 2 BVerfGG, § 26 Abs 1 S 1 BVerfGG, § 64 Abs 1 BVerfGG, § 64 Abs 2 BVerfGG, § 64 Abs 3 BVerfGG, § 45 Abs 2 BTGO 1980

Gründe

A.

1Das Organstreitverfahren betrifft Fragen der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages, nachdem die Antragstellerin, eine Fraktion des Bundestages, diese bezweifelt hat.

I.

2Die Antragstellerin bezweifelte in der 107. und 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages dessen Beschlussfähigkeit.

31. Vor diesen beiden Sitzungen des Deutschen Bundestages hatte die Antragstellerin bereits in vier Plenarsitzungen zwischen Januar 2018 und Anfang Juni 2019 dessen Beschlussfähigkeit bezweifelt. Dies geschah zum Teil ausdrücklich in Reaktion darauf, dass kurz zuvor eines ihrer Mitglieder nicht in eine parlamentarische Position gewählt worden war, für die der Antragstellerin das Vorschlagsrecht zustand.

4In der 7. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am ging dem Bezweifeln der Beschlussfähigkeit die Wahl der Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums voraus, bei der der Kandidat der Antragstellerin nicht die erforderliche Stimmenzahl erhielt (vgl. BTPlenProt 19/7, S. 508<B>, 530<D>). Um 22.38 Uhr bezweifelte die Antragstellerin bei der Abstimmung über die Überweisung eines Gesetzentwurfs an Ausschüsse des Bundestages dessen Beschlussfähigkeit (vgl. BTPlenProt 19/7, S. 619<B>). Die Abstimmung wurde nach § 51 Abs. 2 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (im Folgenden: GO-BT) als "Hammelsprung" durchgeführt. Infolge der Feststellung, dass lediglich 312 Abgeordnete daran teilgenommen hatten, wurde die Sitzung um 23.19 Uhr aufgehoben (vgl. BTPlenProt 19/7, S. 619<C>-621<D>).

5Auch in der 56. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am hatte das Bezweifeln der Beschlussfähigkeit seitens der Antragstellerin um 16.18 Uhr (vgl. BTPlenProt 19/56, S. 6239<B, C>) die Durchführung einer Abstimmung mit Zählung der Stimmen nach § 51 Abs. 2 GO-BT und mangels Beschlussfähigkeit die Aufhebung der Sitzung zur Folge (vgl. BTPlenProt 19/56, S. 6239<D>-6240<D>).

6In der 72. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am bezweifelte die Antragstellerin um 11.38 Uhr die Beschlussfähigkeit (vgl. BTPlenProt 19/72, S. 8472<B>), nachdem am Vortag die Wahl einer ihrer Abgeordneten zur Vizepräsidentin gescheitert war (vgl. BTPlenProt 19/71, S. 8254<A>, 8271<C>). Obwohl im Sitzungsprotokoll vermerkte Äußerungen von Abgeordneten darauf hinweisen, dass die Abgeordneten der Antragstellerin weit überwiegend an der Abstimmung, bei der die Beschlussfähigkeit bezweifelt worden war, nicht teilnahmen (vgl. BTPlenProt 19/72, S. 8472<B>), war mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages anwesend, sodass die Sitzung fortgesetzt wurde (vgl. BTPlenProt 19/72, S. 8474<B>).

7In der 104. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am scheiterte erneut die Wahl eines Mitglieds der Antragstellerin zum Vizepräsidenten (vgl. BTPlenProt 19/104, S. 12667<A>, 12680<B, C>). Auf das Bezweifeln der Beschlussfähigkeit durch die Antragstellerin um 20.40 Uhr (vgl. BTPlenProt 19/104, S. 12738<D>) antwortete der amtierende Präsident, dass sich der Sitzungsvorstand einig sei und die Beschlussfähigkeit nicht bezweifle. Er begründete dies "vor allen Dingen" damit, dass der Sitzungsvorstand wisse, dass er mehrere Hundert Abgeordnete, die nebenan auf dem Sommerfest der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft seien, herbeirufen könne (vgl. BTPlenProt 19/104, S. 12738<D>-12739<A>).

82. In der streitgegenständlichen 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages vom bezweifelte die Antragstellerin gegen 1.27 Uhr am die Beschlussfähigkeit, unmittelbar bevor es zur Abstimmung über die im Antrag zu 1. genannten Gesetzentwürfe in zweiter Lesung kommen sollte (vgl. BTPlenProt 19/107, S. 13294<D>). Die die Sitzung leitende Antragsgegnerin zu 2. erwiderte, der Sitzungsvorstand habe miteinander diskutiert und sei der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben sei (vgl. BTPlenProt 19/107, S. 13295<A>). Die Abstimmungen über die Gesetzentwürfe erfolgten sodann ohne Zählung der Stimmen sowohl in zweiter als auch im unmittelbaren Anschluss hieran in dritter Lesung (vgl. BTPlenProt 19/107, S. 13295<C>-13296<B>). Die Gesetzentwürfe erhielten die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ebenso wie ein später zur Abstimmung gestellter und gleichfalls im Antrag zu 1. genannter Gesetzentwurf (vgl. BTPlenProt 19/107, S. 13301<C, D>). Aufnahmen des Parlamentsfernsehens zeigen, dass nur wenige Abgeordnete zu diesem Zeitpunkt anwesend waren.

9Noch im Laufe des befasste sich der Ältestenrat auf Antrag der Antragstellerin mit der Entscheidung des Sitzungsvorstandes, keinen "Hammelsprung" nach § 51 Abs. 2 GO-BT zur Stimmzählung durchzuführen. Der Präsident des Deutschen Bundestages erklärte in einer Pressemitteilung, das Präsidium des Bundestages sei einhellig der Auffassung, dass der Sitzungsvorstand die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewendet habe.

10Am beantragte die Antragstellerin beim Bundesverfassungsgericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung, die dem Bundespräsidenten bis zur endgültigen Klärung der Rechtslage untersagen sollte, die drei im Antrag zu 1. genannten Gesetze gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Mit Beschluss vom 17. September2019 lehnte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts diesen Eilantrag ab (BVerfGE 152, 55 - Beschlussfähigkeit des Bundestages II).

113. In der ebenfalls streitgegenständlichen 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am verfehlte zunächst ein Abgeordneter der Antragstellerin erneut die für die Wahl zum Vizepräsidenten erforderliche Mehrheit (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15347<A>, 15352<D>). Gegen 1.45 Uhr am rief der amtierende Präsident, der Antragsgegner zu 3., zur Abstimmung über einen von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf auf. Ein Abgeordneter der Antragstellerin zweifelte für seine Fraktion die Beschlussfähigkeit des Bundestages an (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<B>). Der Antragsgegner zu 3. antwortete hierauf: "Es sieht aber ganz gut aus. - Also, wir sind im Präsidium der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist" (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<B>).

12Daraufhin wandte ein weiterer Abgeordneter der Antragstellerin ein, dass laut der Geschäftsordnung eine Fraktion bis zum Beginn der Abstimmung eine namentliche Abstimmung beantragen könne und die Antragstellerin dies hiermit tue (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<C>). Das Protokoll vermerkt hierzu den Zwischenruf eines Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion: "Nein! Wir sind in der Abstimmung!" (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<C>). Der Antragsgegner zu 3. antwortete dem Abgeordneten der Antragstellerin, dass man eine namentliche Abstimmung durchführen werde. Zuvor unterbreche er jedoch kurz die Sitzung, weil einige technische Vorkehrungen getroffen und die personelle Ausstattung sichergestellt werden müssten (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<C, D>).

13Nach drei Minuten setzte der Antragsgegner zu 3. die Sitzung fort. Dabei ließ er zunächst über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf in der Fassung der Beschlussempfehlung des Ausschusses in zweiter Lesung durch Handzeichen mit Gegenprobe abstimmen und stellte anschließend fest, dass der Gesetzentwurf in der zweiten Beratung mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen von AfD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion der Linken angenommen sei (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<D>). Sodann rief er die dritte Beratung dieses Gesetzentwurfs und die Schlussabstimmung hierzu auf und führte diese dem Antrag der Antragstellerin entsprechend als namentliche Abstimmung nach § 52 GO-BT durch. Die Auszählung ergab 133 abgegebene Stimmen. Daraufhin stellte der Antragsgegner zu 3. die Beschlussunfähigkeit des Bundestages fest und hob die Sitzung auf (vgl. BTPlenProt 19/124, S. 15475<D>-15476<C>).

II.

14Mit Schriftsatz vom , eingegangen am selben Tag, hat die Antragstellerin ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht eingeleitet, mit dem sie die im Rubrum aufgeführten Feststellungen begehrt.

151. Sie trägt vor, sie habe bereits im Vorfeld der 107. und 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages mehrfach dessen Beschlussunfähigkeit gerügt, namentlich in der 7. Sitzung am und in der 72. Sitzung am . In diesen Sitzungen sei dem Geschäftsordnungsrecht entsprechend ein "Hammelsprung" durchgeführt worden. In einem Fall sei daraufhin die Beschlussunfähigkeit festgestellt worden, im anderen Fall dagegen die Beschlussfähigkeit.

16a) Unter den sitzungsleitenden Vizepräsidenten habe man im Anschluss an diese beiden Sitzungen offenbar nach Methoden gesucht, den Rekurs der Antragstellerin auf das Geschäftsordnungsrecht grundsätzlich und effektiv zu unterbinden. Es sei offensichtlich innerhalb des Präsidiums, dem Antragsgegner zu 4., eine Vereinbarung geschlossen worden, wonach künftige "Bezweiflungen der Beschlussunfähigkeit" durch die Antragstellerin durch ein einmütiges Bejahen der Beschlussfähigkeit seitens des Sitzungsvorstandes ins Leere laufen sollten. Ob der Präsident des Deutschen Bundestages eingeweiht gewesen sei, wisse sie nicht.

17In der Folge habe der Sitzungsvorstand der 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages unter Leitung der Antragsgegnerin zu 2. die Beschlussfähigkeit einmütig festgestellt, obwohl diese bei etwa 90 anwesenden Abgeordneten ganz offensichtlich nicht bestanden habe. Eine interne Diskussion über die Beschlussfähigkeit sei innerhalb des Sitzungsvorstandes nicht erkennbar gewesen. Schon zeitlich hätten zwischen der Rüge und deren Ablehnung nur einige Sekunden gelegen. Das lasse darauf schließen, dass die Schriftführer vorab über den Inhalt der Vereinbarung, die unter den Mitgliedern des Antragsgegners zu 4. getroffen worden sei, entsprechend instruiert worden seien. Der Deutsche Bundestag, der Antragsgegner zu 1., habe infolgedessen die im Antrag zu 1. genannten Gesetze beschlossen, ohne beschlussfähig zu sein.

18Die Vorgänge hätten sich in der 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages unter Leitung des Antragsgegners zu 3. wiederholt. Erneut habe der Sitzungsvorstand ein auf den ersten Blick erkennbar nicht beschlussfähiges Plenum für beschlussfähig gehalten. Dabei hätten weder der Antragsgegner zu 3. noch die übrigen Mitglieder des Sitzungsvorstandes überhaupt versucht, die Zahl der anwesenden Abgeordneten zu ermitteln oder abzuschätzen. Erst der Antrag auf namentliche Abstimmung habe den Versuch vereitelt, Gesetze durch einen offensichtlich nicht beschlussfähigen Bundestag beschließen zu lassen.

19Es sei ausgeschlossen, dass die Antragsgegner zu 2. und 3. in der 107. und 124. Sitzung ernstlich davon ausgegangen seien, dass jeweils mehr als 355 Parlamentarier anwesend seien. Ebenso sei ausgeschlossen, dass sie übereinstimmend der Rechtsauffassung gewesen seien, ihnen stehe die Befugnis zu, die Beschlussfähigkeit schlicht zu fingieren, wenn diese nachweislich nicht bestehe. Das identische, geradezu einstudiert wirkende Verhalten der Antragsgegner zu 2. und 3. könne kein Zufall sein. Es sei Folge einer "Unrechtsvereinbarung", die die Mitglieder des Antragsgegners zu 4. zu einem unbekannten Zeitpunkt nach dem getroffen hätten und in die auch diejenigen Schriftführer eingeweiht gewesen sein müssten, die nicht der Antragstellerin angehörten. Nach dieser Vereinbarung habe der jeweilige Sitzungsvorstand auf entsprechende Rügen der Antragstellerin ohne Rücksicht auf die wahren Tatsachen und ohne weitere Prüfung einmütig die Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages ausrufen sollen. Über den genauen Inhalt der heimlichen Vereinbarung sei durch das Bundesverfassungsgericht Beweis durch Vernehmung der Mitglieder des Antragsgegners zu 4. und der jeweiligen Schriftführer als Zeugen zu erheben. Ebenso sei über die genauen Vorkommnisse in der 107. und 124. Sitzung Beweis zu erheben.

20b) § 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT berechtige den jeweiligen Sitzungsvorstand nicht dazu, die Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages "kontrafaktisch" auszurufen, obwohl diese objektiv und unstreitig nicht im Sinne von § 45 Abs. 1 GO-BT bestehe. Die Bestimmung des § 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT diene lediglich dem Schutz vor missbräuchlichen Rügen der Beschlussunfähigkeit, die allein zu dem Zweck erhoben würden, das Gesetzgebungsverfahren sinnlos zu verzögern. In solchen Fällen, in denen die Beschlussfähigkeit offensichtlich gegeben sei, könne der Sitzungsvorstand sie einmütig bejahen. Die Vorschrift stelle hingegen keine Ermächtigung dar, eine offensichtlich nicht gegebene Beschlussfähigkeit zu fingieren. Dieses Ergebnis werde durch einen Vergleich mit der Vorschrift des § 51 Abs. 1 GO-BT gestützt. Danach könne eine Auszählung der abgegebenen Stimmen unterbleiben, wenn der Sitzungsvorstand über das Ergebnis einer Abstimmung einig sei. Es sei indes offenkundig, dass der Sitzungsvorstand über das Ergebnis einer parlamentarischen Abstimmung nicht einmütig abweichend befinden könne. Nichts anderes könne bei der Anwendung des § 45 Abs. 2 Satz 1 GO-BT gelten.

212. Die Antragstellerin hält ihre Anträge für zulässig.

22a) Zur Beteiligtenfähigkeit der Antragsgegner zu 2. bis 4. führt die Antragstellerin aus, dass diese als Organteile des Deutschen Bundestages nach § 63 BVerfGG Beteiligte eines Organstreitverfahrens sein könnten. Die Antragsgegner zu 2. und 3. seien als Vizepräsidenten durch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages mit eigenen Rechten ausgestattet und daher jedenfalls sonstige Beteiligte im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG a.F. Sollte der Antragsgegner zu 4., der als Präsidium ein Organteil des Deutschen Bundestages sei, nicht durch die Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet und damit nicht organstreitfähig sein, so seien dies zumindest der Präsident und die Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages.

23b) Die vier Anträge beträfen jeweils taugliche Antragsgegenstände.

24Die Zurückweisung ihrer Rüge der fehlenden Beschlussfähigkeit in der 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages durch die Antragsgegnerin zu 2. stelle als Entscheidung einer Rechtsangelegenheit eine rechtlich erhebliche Maßnahme und damit einen tauglichen Antragsgegenstand dar. Gleiches gelte für die anschließende Beschlussfassung über die im Antrag zu 1. genannten Gesetze durch den Antragsgegner zu 1.

25Als rechtserhebliche Maßnahme sei auch die sitzungsleitende Entscheidung des Antragsgegners zu 3. zu werten, die 124. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages trotz der von der Antragstellerin geäußerten Zweifel an der Beschlussfähigkeit fortzusetzen, ohne einen "Hammelsprung" durchzuführen. Die Rechtserheblichkeit der Maßnahme werde nicht dadurch infrage gestellt, dass das eigentliche politische Ziel der Maßnahme - nämlich die weitere Fortsetzung der Sitzung über geraume Zeit hinweg und der Beschluss weiterer Gesetze, speziell und unmittelbar des im Antrag zu 2. genannten Gesetzes - dann doch nicht erreicht worden sei, weil die Antragstellerin anschließend einen Antrag auf namentliche Abstimmung gemäß § 52 Satz 1 GO-BT gestellt und sich bei Durchführung derselben die Beschlussunfähigkeit erwiesen habe. Denn bei der Zurückweisung der Rüge der Beschlussunfähigkeit und der namentlichen Abstimmung handele es sich um verschiedene und voneinander getrennte Vorgänge.

26Einen tauglichen Antragsgegenstand stelle auch die geheime Vereinbarung unter den Mitgliedern des Antragsgegners zu 4. dar, in die diejenigen Schriftführer eingeweiht worden seien, die nicht der Antragstellerin angehörten. Dieser "Unrechtspakt" sei als "gemeinschaftliche Verabredung zur Rechtsbeugung" eine rechtserhebliche und nicht lediglich unverbindliche Maßnahme.

27Der Antrag zu 4. beziehe sich auf die Vorschrift des § 67 Satz 3 BVerfGG. Das Bundesverfassungsgericht müsse in Ausübung des ihm zustehenden pflichtgemäßen Ermessens im Tenor der Entscheidung klarstellen, dass es sich bei der Beschlussfähigkeit des Deutschen Bundestages um eine im Verfassungsrecht vorausgesetzte äußere Tatsache handele, nicht aber um eine rein geschäftsordnungsrechtliche Dezision aufgrund irgendwelcher Geheimabreden.

28c) Die Antragstellerin sieht sich durch die Maßnahmen der Antragsgegner in ihren eigenen verfassungsmäßigen Rechten verletzt und führt hierzu weiter aus. Auch macht sie in Prozessstandschaft Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages an der Gesetzgebung geltend, die in der 107. Sitzung verletzt und in der 124. Sitzung unmittelbar gefährdet gewesen seien.

29d) Die Organklage sei insgesamt fristgemäß erhoben. Dies gelte auch für den Antrag zu 1. Wenngleich sich der zugrundeliegende Vorgang bereits am ereignet habe, sei dieser durch den "Unrechtspakt", den Gegenstand des Antrags zu 3., vorstrukturierend verklammert mit den Ereignissen vom , dem Gegenstand des Antrags zu 2. Die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG könne ohnehin erst dann zu laufen beginnen, wenn die Beteiligten des "Unrechtspaktes" dessen genauen Inhalt verschriftlicht hätten, sodass sich die Antragstellerin mit diesem näher auseinandersetzen könne. Daran gemessen sei die Frist zur Einreichung einer Organklage noch gar nicht in Gang gesetzt worden.

303. Die Anträge seien auch begründet. Die angegriffenen Maßnahmen verletzten den Grundsatz der parlamentarischen Demokratie und speziell die Rechte des Deutschen Bundestages bei der Gesetzgebung sowie die verfassungsrechtlichen Verfahrens-, Teilhabe- und Gleichbehandlungsrechte der Antragstellerin. Die Vorschriften der Art. 40 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 2 Satz 1 und Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG enthielten als Schutzvorschriften auch subjektiv-rechtliche Komponenten. Zudem sei das Gleichheitsrecht der in ihr organisierten Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, weil sie die fehlende Beschlussfähigkeit des Bundestages nicht mehr effektiv rügen könne. Auch zur Begründetheit ihrer Anträge führt die Antragstellerin weiter aus.

III.

31Der Senat hat den Organklageantrag den Antragsgegnern und der Präsidentin des Deutschen Bundestages sowie dem Bundespräsidenten, der Bundesregierung und dem Bundesrat zugestellt und Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.

321. Der Deutsche Bundestag hat als Antragsgegner zu 1. auf das Vorbringen der Antragstellerin erwidert. Er hält den Antrag für unzulässig und unbegründet. Hierbei führt er unter anderem aus, dass die Antragsgegner zu 2. bis 4. nicht Beteiligte eines Organstreitverfahrens sein könnten. Es genüge nicht, dass die Beteiligten in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages lediglich erwähnt würden. Ihnen müssten auch eigene organschaftliche Befugnisse verliehen werden. Solche fehlten jedoch für die Vizepräsidenten und das Präsidium. Nur der Präsident könne als ein mit eigenen Rechten ausgestatteter Organteil des Bundestages Antragsgegner sein. Er übe die Sitzungsleitung in eigener Verantwortung und unabhängig aus. Die beanstandeten sitzungsleitenden Maßnahmen seien daher weder dem Deutschen Bundestag noch den Vizepräsidenten noch dem Präsidium, sondern stets dem Präsidenten zuzurechnen.

332. Die Antragsgegner zu 2. und 3. haben sich der Erwiderung des Antragsgegners zu 1. angeschlossen. Der Antragsgegner zu 4. hat sich nicht geäußert.

IV.

34Die Antragstellerin hat auf die Antragserwiderung des Antragsgegners zu 1. hin weiter ausgeführt, ohne hierbei auf den Einwand einzugehen, die beanstandeten Maßnahmen müssten dem Präsidenten des Deutschen Bundestages zugerechnet und daher die Organklage gegen ihn gerichtet werden.

B.

35Die Anträge sind - soweit es sich nicht ohnehin um eine bloße Anregung handelt - unzulässig.

I.

36Der Antrag zu 1. ist verfristet.

371. Nach § 64 Abs. 3 BVerfGG muss der Antrag im Organstreitverfahren binnen sechs Monaten, nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist, gestellt werden. Die Vorschrift enthält eine gesetzliche Ausschlussfrist, nach deren Ablauf im Organstreitverfahren Rechtsverletzungen nicht mehr geltend gemacht werden können (vgl. BVerfGE 118, 277 <320>; 151, 191 <197 f. Rn. 17> - Bundesverfassungsrichterwahl II; 166, 93 <154 Rn. 164> - Finanzierung Desiderius-Erasmus-Stiftung).

38Mit dieser Ausschlussfrist sollen im Organstreitverfahren angreifbare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit im Interesse der Rechtssicherheit außer Streit gestellt werden (vgl. BVerfGE 80, 188 <210>; 92, 80 <89>; 114, 107 <116>; 140, 1 <22 Rn. 59>). Fristvorschriften sind formale Ordnungsvorschriften. Daher müssen Fristen aus dem Gesetzestext sofort, eindeutig und klar erkennbar sein. Sie können nicht erst aus Sinn und Zusammenhang der Gesetze durch eine ausdehnende Auslegung gefunden werden (vgl. BVerfGE 4, 31 <37>; vgl. auch BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2211/97 -, juris, Rn. 14).

39Die Wahrung der Frist ist für jeden einzelnen (Haupt- und/oder Hilfs-)Antrag gesondert festzustellen (vgl. BVerfGE 84, 304 <320>; 118, 277 <320>). Jede gerügte Rechtsverletzung muss jeweils innerhalb der Sechs-Monats-Frist im Organstreitverfahren angegriffen werden (vgl. BVerfGE 131, 152 <191 ff.>).

402. Nach diesen Maßstäben wahrt der Antrag zu 1. die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht (a). Daran vermag auch die von der Antragstellerin geltend gemachte Verklammerung des Geschehens mit späteren Ereignissen durch die - von ihr vermutete - heimliche Abrede nichts zu ändern (b).

41a) Mit dem Antrag zu 1. beanstandet die Antragstellerin das Vorgehen der Antragsgegnerin zu 2. als Vizepräsidentin in der 107. Sitzung des 19. Deutschen Bundestages am Freitag, den . Da die Antragstellerin hiervon unmittelbar Kenntnis erlangte, begann die sechsmonatige Ausschlussfrist insoweit am selben Tag, also am , zu laufen. Der entsprechende Antrag wurde indes erst am und damit nach Fristablauf gestellt.

42Auf die spätere Verkündung der im Antrag zu 1. genannten Gesetze am kommt es für den Beginn der Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht an. Zwar beginnt die Sechs-Monats-Frist erst mit der Verkündung des Gesetzes zu laufen, wenn sich der Antrag gegen den Erlass eines Gesetzes richtet (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 92, 80 <87>; 118, 277 <320 f.>; 140, 1 <22 Rn. 59>). Der Antrag zu 1. wendet sich jedoch nicht gegen den Erlass der darin bezeichneten Gesetze. Durch diese Gesetze sieht sich die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzt. Vielmehr beanstandet sie als Maßnahme im Sinne des § 64 Abs. 1 BVerfGG allein den Umgang mit den von ihr geäußerten Zweifeln an der Beschlussfähigkeit des Bundestages am durch die Antragsgegnerin zu 2., die, ohne die Beschlussfähigkeit feststellen zu lassen, die Sitzung fort- und eine Beschlussfassung durch den Antragsgegner zu 1. herbeiführte. Wird - wie hier - lediglich ein Einzelakt des mehrgliedrigen Normsetzungsverfahrens (vgl. BVerfGE 118, 277 <317>) beanstandet, spielt die spätere Verkündung des Gesetzes für den Fristlauf keine Rolle (vgl. Bethge, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 64 Rn. 132 <Jan. 2017>).

43b) An diesem Fristlauf vermag die Behauptung der Antragstellerin, unter den Mitgliedern des Antragsgegners zu 4. habe eine heimliche Abrede bestanden, die die Vorgänge in den Sitzungen am 27./ und 7./ verklammere, nichts zu ändern. Eine solche Abrede könnte - ihr Vorliegen unterstellt - nicht dazu führen, dass die mit den Anträgen zu 1. und 2. gerügten Vorgänge eine im Hinblick auf den Fristlauf einheitliche Maßnahme oder Unterlassung darstellen. Eine Gesamtbetrachtung beider Antragsgegenstände widerspräche schon dem Wesen der Fristvorschriften als formale Ordnungsvorschriften, die der Rechtssicherheit dienen (vgl. BVerfGE 4, 31 <37>). Konsequenterweise stellt die Antragstellerin auch zwei getrennte Anträge.

II.

44Der Antrag zu 2. genügt den Begründungsanforderungen nicht. Die Antragstellerin schildert weder ein Verhalten des Antragsgegners zu 3., das ein von ihr geltend gemachtes Recht verletzt haben könnte, noch legt sie dar, dass sich ihr Antrag gegen den richtigen Antragsgegner richtet.

451. Die Anforderungen an die Begründung eines Organklageantrags regeln § 64 Abs. 1 und 2 sowie § 23 Abs. 1 BVerfGG (a). Aus ihnen folgt, dass die Antragsschrift zu den Antragsvoraussetzungen hinreichend nachvollziehbare Darlegungen enthalten muss (b).

46a) Ein Antrag im Organstreitverfahren ist gemäß § 64 Abs. 1 BVerfGG nur zulässig, wenn der Antragsteller schlüssig behauptet (vgl. BVerfGE 129, 356 <365>), dass er oder das Organ, dem er angehört, durch eine Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners in seinen ihm durch das Grundgesetz übertragenen Rechten und Pflichten verletzt oder unmittelbar gefährdet ist. Schlüssig ist die Behauptung einer Rechtsverletzung, wenn sie nach dem vorgetragenen Sachverhalt möglich erscheint (vgl. BVerfGE 80, 188 <209>; 129, 356 <365>; für weitere Verfahrensarten vgl. BVerfGE 93, 195 <204>; 102, 224 <232>).

47Neben der Vorgabe des § 64 Abs. 2 BVerfGG, dass im Antrag die Bestimmung des Grundgesetzes zu bezeichnen ist, gegen die durch die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners verstoßen wird, gilt auch für das Organstreitverfahren die allgemeine Verfahrensvorschrift des § 23 Abs. 1 BVerfGG (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 157, 300 <310 Rn. 25> m.w.N. - Unterschriftenquoren Bundestagswahl). § 23 Abs. 1 und § 64 Abs. 1 und 2 BVerfGG regeln gemeinsam die Anforderungen an die Substantiierung des Antrags. Im Organstreit ist substantiiert darzulegen, dass ausgehend von der benannten Verfassungsbestimmung die Möglichkeit der behaupteten Rechtsverletzung besteht (vgl. BVerfGE 165, 270 <288 Rn. 55> - PartGuaÄndG 2018 - Organstreit). Dies verlangt eine über die bloße Bezeichnung der Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 64 BVerfGG hinausgehende nähere Substantiierung der Begründung (vgl. BVerfGE 24, 252 <258>; 157, 1 <20 Rn. 61> m.w.N. - CETA-Organstreit I).

48b) Der Antragsteller muss hierfür den die Rechtsverletzung enthaltenden Vorgang, also die rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung (aa), und die Verantwortlichkeit des Antragsgegners hierfür (bb) nachvollziehbar darlegen.

49aa) Im Organstreitverfahren muss die beanstandete Maßnahme beziehungsweise Unterlassung gemäß § 64 Abs. 2 BVerfGG hinreichend konkret bezeichnet werden (vgl. BVerfGE 118, 244 <255 ff.>; 139, 194 <220 Rn. 97>; 166, 93 <138 Rn. 127>), weil nur auf dieser Grundlage die Prüfung einer Verletzung der organschaftlichen Rechte möglich ist. Der Antragsteller muss konkrete Maßnahmen nachvollziehbar darlegen und sich mit deren Inhalt sowie Wirkungen näher auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 166, 93 <138 Rn. 127>).

50Die mögliche Rechtsverletzung, deren Feststellung der Antragsteller mit der Organklage begehrt, muss sich aus seinem Sachvortrag ergeben (vgl. BVerfGE 2, 347 <366>; 13, 123 <125>; 57, 1 <5>; 60, 374 <381>; 134, 141 <195 Rn. 161>). Handelt es sich um Verfahrensabläufe im Deutschen Bundestag, muss der Antragsteller den für den Antragsgegenstand relevanten Ablauf des parlamentarischen Geschehens entsprechend dem Sitzungsprotokoll vollständig und widerspruchsfrei darstellen, um sich auf dieser Grundlage mit der angegriffenen Maßnahme oder Unterlassung auseinandersetzen zu können.

51Zwar kann das Bundesverfassungsgericht gemäß § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG die zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweise erheben. Es gilt der Untersuchungsgrundsatz (vgl. Lenz/Hansel, BVerfGG, 4. Aufl. 2024, § 26 Rn. 1). Bei der Prüfung von Verfassungsbeschwerden ist das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht gehalten, sich den Sachverhalt durch langwieriges Recherchieren aus weiteren Unterlagen zu erschließen (vgl. BVerfGE 83, 216 <228>; 131, 66 <82>). Es ist nicht seine Aufgabe, aufgrund eines undifferenzierten Hinweises auf noch beizuziehende Akten, frühere Schriftsätze, auf Gutachten oder Stellungnahmen den dortigen Vortrag auf verfassungsrechtlich relevante Lebenssachverhalte hin zu untersuchen oder sich diese Unterlagen gar selbst zu beschaffen. Zumindest die tatsächlichen Umstände, aus denen die Grundrechtsverletzung abgeleitet wird, sind in der Beschwerdeschrift selbst zu nennen (vgl. BVerfGE 80, 257 <263>).

52Entsprechendes gilt auch im Organstreitverfahren (vgl. Barczak, in: ders., BVerfGG, 2018, § 64 Rn. 2). Zwar muss das Bundesverfassungsgericht in diesem Verfahren die streiterheblichen Tatsachen feststellen (vgl. Walter, in: Walter/Grünewald, BeckOK BVerfGG, § 26 Rn. 1 <Dez. 2024>). Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Antragsteller auf einen hinreichend konkreten und nachvollziehbaren Vortrag zu der angegriffenen Maßnahme oder Unterlassung verzichten könnte. Das Bundesverfassungsgericht muss aus der Antragsschrift heraus den Sachverhalt erkennen können, aus dem sich die behauptete Verletzung oder unmittelbare Gefährdung eines organschaftlichen Rechts nachvollziehbar ergibt (vgl. Schorkopf, in: Burkiczak/Dollinger/Schorkopf, BVerfGG, 2. Aufl. 2022, § 64 Rn. 32). Denn der Streitgegenstand wird nach § 64 Abs. 1 und 2 BVerfGG durch den Antragsteller bestimmt, indem er in seinem Antrag die Maßnahme oder Unterlassung sowie die Grundgesetzbestimmung bezeichnet, gegen die diese verstoßen haben soll. Das Bundesverfassungsgericht ist an diese Begrenzung des Streitstoffs gebunden (vgl. BVerfGE 2, 347 <367 f.>; 68, 1 <63>; 138, 102 <108 Rn. 23>; 162, 207 <224 f. Rn. 57> - Äußerungsbefugnisse der Bundeskanzlerin; 165, 270 <287 Rn. 54>; 166, 93 <145 Rn. 145>).

53bb) Ebenso muss das Antragsvorbringen darlegen, dass sich die Organklage gegen den richtigen Antragsgegner richtet. Gegen welche Person oder Institution der Antrag zu richten ist, hängt davon ab, wer die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung verursacht hat und rechtlich verantworten muss (vgl. BVerfGE 118, 277 <322>; 140, 115 <140 Rn. 61>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom - 2 BvE 1/20, 2 BvE 10/21 -, Rn. 77). Der Antragsteller muss schlüssig dartun, dass der Antragsgegner die Verantwortung für die Maßnahme oder Unterlassung trägt (vgl. BVerfGE 140, 115 <140 Rn. 61>; 143, 101 <131 Rn. 99 f.>).

542. Diesen Anforderungen genügt das Antragsvorbringen in Bezug auf den Antrag zu 2. nicht.

55Anders als der Antrag zu 1. greift der Antrag zu 2. nicht die Durchführung von Beschlussfassungen des Antragsgegners zu 1. an. Vielmehr wendet sich die Antragstellerin in Bezug auf die 124. Sitzung lediglich gegen die Reaktion des Antragsgegners zu 3. auf ihr Bezweifeln der Beschlussfähigkeit. Warum das von ihr geschilderte Verhalten des Antragsgegners zu 3. (möglicherweise) rechtsverletzend sein soll, erschließt sich aus ihrem Vorbringen nicht (a). Zudem fehlt substantiierter Vortrag dazu, dass sich der Antrag zu 2. gegen den richtigen Antragsgegner richtet (b).

56a) Die Antragstellerin legt den Gegenstand ihres Antrags nicht vollständig dar. Worin eine mögliche Rechtsverletzung oder unmittelbare Rechtsgefährdung liegen soll, ergibt sich aus ihrer Schilderung der Maßnahmen und Unterlassungen des Antragsgegners zu 3. nicht.

57aa) Der Begriff der Maßnahme umfasst hierbei nicht nur Rechts-, sondern auch Realakte (vgl. BVerfGE 44, 125 <137 f.>; 140, 115 <139 Rn. 59>). Die Maßnahme muss jedoch rechtserheblich sein, da sie nur dann geeignet ist, die Rechtsstellung des Antragstellers zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 140, 115 <139 f. Rn. 59>; 166, 93 <138 Rn. 126>). Zumindest muss sie sich zu einem die Rechtsstellung des Antragstellers beeinträchtigenden, rechtserheblichen Verhalten verdichten können (vgl. BVerfGE 57, 1 <5>; 60, 374 <381>; 97, 408 <414>; 120, 82 <96>; 138, 45 <59 f. Rn. 27>). Dies können auch parlamentsinterne Organisationsmaßnahmen sein, durch die verfassungsrechtliche Positionen der Antragsteller eines Organstreits betroffen sind (vgl. BVerfGE 70, 324 <350>; 80, 188 <209>; 140, 115 <139 f. Rn. 59>). In Betracht kommt etwa die konkrete Vorenthaltung geschäftsordnungsmäßiger Befugnisse (vgl. BVerfGE 70, 324 <350>; 84, 304 <317 f.>).

58bb) Die Antragstellerin macht zwar geltend, ihr seien geschäftsordnungsmäßige Befugnisse im Zusammenhang mit ihrem Bezweifeln der Beschlussfähigkeit vorenthalten worden. Sie trägt jedoch lediglich vor, der Antragsgegner zu 3. habe auf ihr Bezweifeln der Beschlussfähigkeit hin die Sitzung fortgesetzt, ohne einen "Hammelsprung" durchzuführen. Die vollständigen Abläufe im Einzelnen, insbesondere dass eine Abstimmung ohne Zählung der Stimmen erfolgte, schildert die Antragstellerin hingegen nicht.

59Dies wäre jedoch notwendig. Denn nach dem Vorbringen der Antragstellerin, die der Auffassung ist, ihr habe nach § 45 Abs. 2 GO-BT ein Recht auf Abstimmung mit Stimmzählung zugestanden, kann die rechtserhebliche Maßnahme des Antragsgegners zu 3. nur die Durchführung der Abstimmung ohne Stimmzählung sein. Allein die Fortsetzung einer Sitzung stellt noch keine rechtserhebliche Maßnahme des amtierenden Präsidenten dar. Rechtserheblich kann in diesem Zusammenhang nur das Unterlassen einer durch die Geschäftsordnung oder aus anderen Gründen gebotenen Maßnahme sein.

60Auch aus ihrem Vortrag zum weiteren Verlauf der streitgegenständlichen Sitzung erschließt sich nicht, welche rechtserhebliche Maßnahme oder Unterlassung konkret beanstandet wird. Die Antragstellerin trägt zum einen vor, die Zurückweisung ihrer Rüge der Beschlussunfähigkeit habe die Rechte des Bundestages gefährdet, weil der Bundestag ohne einen Antrag der Antragstellerin auf namentliche Abstimmung unverzüglich in die Abstimmungsphase übergegangen wäre. Zum anderen führt sie aus, die Verletzungshandlung in Bezug auf ihre Rechte sei bereits vollendet gewesen, weil die namentliche Abstimmung ein rechtlich neuer, unabhängiger Vorgang gewesen sei. Inwiefern sich aus diesem Vorgang, den die Antragstellerin mit ihrem Antrag auf namentliche Abstimmung selbst herbeigeführt hat, eine Rechtsverletzung ergeben soll, ist nicht ersichtlich. Eine widerspruchsfreie Darstellung der behaupteten Rechtsverletzung liegt damit nicht vor.

61b) Zudem ergibt sich aus dem Vortrag der Antragstellerin nicht, dass der Antrag zu 2. gegen den richtigen Antragsgegner gerichtet sein könnte.

62aa) Organstreitverfahren, die sitzungsleitende Entscheidungen im Rahmen der Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages zum Gegenstand haben, sind gegen den Präsidenten oder die Präsidentin des Deutschen Bundestages zu richten (vgl. zur Ausübung der Ordnungs- und Disziplinargewalt BVerfGE 60, 374 <378>; zur Zulassung eines Wahlvorschlags BVerfGE 160, 368 <377 Rn. 28> - Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages - Vorschlagsrecht).

63Der Präsident des Deutschen Bundestages ist dabei auch dann der richtige Antragsgegner, wenn es um die Maßnahme eines Stellvertreters geht, da die Stellvertreter als "amtierende Präsidenten" (§ 8 Abs. 1 GO-BT) an seiner Stelle handeln (vgl. BVerfGE 60, 374 <378>; 160, 368 <377 Rn. 28>). Das Handeln der Stellvertreter wird dem Präsidenten des Bundestages zugerechnet und von ihm verantwortet.

64bb) Dies zugrunde gelegt bleibt auch nach Würdigung des gesamten Vorbringens der Antragstellerin zweifelhaft, aus welchen Gründen es sich bei dem Antragsgegner zu 3. um den richtigen Antragsgegner handeln soll. Insbesondere setzt die Antragstellerin der Antragserwiderung, die ausdrücklich Zweifel an der passiven Prozessführungsbefugnis des Antragsgegners zu 3. geäußert hat, nichts entgegen. Der Hinweis der Antragstellerin darauf, dass sie nicht wisse, ob der Präsident des Deutschen Bundestages von der "heimlichen Abrede" wisse, die seine Stellvertreter im Präsidium getroffen haben sollen, lässt den Schluss auf eine eigene rechtliche Verantwortlichkeit der Vizepräsidenten nicht zu.

III.

65Der Antrag zu 3. bezieht sich nicht auf einen tauglichen Antragsgegenstand.

661. Voraussetzung dafür, dass eine Maßnahme oder Unterlassung Gegenstand eines Organstreits nach § 64 Abs. 1 BVerfGG sein kann, ist nicht nur, dass sie rechtserheblich ist (vgl. oben Rn. 57). Erforderlich ist zudem, dass die gerügte Maßnahme oder Unterlassung objektiv vorliegt (vgl. BVerfGE 150, 163 <166 Rn. 11>). Andernfalls ist eine Rechtsverletzung nicht möglich.

67Hierzu muss der Antragsteller hinreichend vortragen. Dabei kann offenbleiben, ob ein Organklageantrag auch dann zulässig sein kann, wenn der Antragsteller von einer gerügten Maßnahme lediglich vom Hörensagen berichten kann (vgl. BVerfGE 140, 115 <142 f. Rn. 68>). Jedenfalls genügen bloße Vermutungen ins Blaue hinein nicht. Das Bundesverfassungsgericht ist lediglich bei hinreichend substantiiertem Vortrag zur Sachaufklärung gemäß § 26 Abs. 1 BVerfGG verpflichtet.

682. Die Antragstellerin trägt hinsichtlich des Antrags zu 3. lediglich vor, dass innerhalb des Präsidiums des Deutschen Bundestages (vgl. § 5 GO-BT), eine "heimliche Verabredung" getroffen worden sei, wonach die Beschlussfähigkeit in sämtlichen Fällen, in denen ihre Abgeordneten sie bezweifelten, einmütig durch den Sitzungsvorstand zu bejahen sei.

69a) Damit legt sie mehr als vage Anhaltspunkte für eine solche Abrede, auf denen die Vermutung der Antragstellerin gründet, nicht dar. Die Antragstellerin nimmt lediglich die gleichartigen Vorgehensweisen der Antragsgegner zu 2. und 3. als Stellvertreter des Präsidenten in der 107. und 124. Sitzung zum Anlass ihrer Vermutung. Dabei übergeht sie, dass das einmütige Bejahen der Beschlussfähigkeit durch den Sitzungsvorstand der 107. Sitzung im Ältestenrat, in dem auch die Antragstellerin mit drei Mitgliedern vertreten war, noch am Tage der Sitzung, dem , diskutiert und nach dem Vorbringen der Antragstellerin mehrheitlich gebilligt wurde. Der Präsident des Deutschen Bundestages hatte anschließend durch eine Pressemitteilung bekannt gemacht, dass das Präsidium des Bundestages einhellig der Auffassung sei, der Sitzungsvorstand habe die Vorschriften der Geschäftsordnung über die Feststellung der Beschlussfähigkeit korrekt angewandt. Vor diesem Hintergrund erschließt sich nicht, dass ein vergleichbares Vorgehen eines amtierenden Präsidenten in einem späteren vergleichbaren Fall nicht auf der Diskussion im Ältestenrat - in dem die Antragstellerin vertreten war - und der veröffentlichten Einschätzung des Präsidiums, sondern auf einer heimlichen Verabredung beruhen sollte.

70b) Zudem wäre eine Abrede, wie die Antragstellerin sie behauptet, nicht rechtserheblich. Gespräche insbesondere zur Abstimmung eines gemeinsamen Vorgehens gehören zu den notwendigen und gewöhnlichen Vorbereitungen parlamentarischen Handelns. Sie sind weder Teil des im Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung geregelten Gesetzgebungsverfahrens, noch stellen sie sonst eine parlamentsinterne Maßnahme dar. Insbesondere sind sie keine Beschlüsse des Bundestages oder seiner Organteile.

IV.

71Bei dem Antrag zu 4. handelt es sich lediglich um eine Anregung, das Bundesverfassungsgericht möge gemäß § 67 Satz 3 BVerfGG tenorieren.

72Mit dem Antrag zu 4. begehrt die Antragstellerin die Feststellung, die Beschlussfähigkeit des Bundestages dürfe durch den Sitzungsvorstand nicht "kontrafaktisch" ausgerufen werden, wenn sie offensichtlich nicht gegeben sei. In den Ausführungen hierzu bezieht sich die Antragstellerin ausdrücklich auf § 67 Satz 3 BVerfGG.

73Nach dieser Vorschrift kann das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung abhängt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt. Der Senat befindet insoweit nach freiem Ermessen von Amts wegen (vgl. BVerfGE 1, 144 <148>; 1, 372 <380>; 166, 93 <136 Rn. 119>). Tauglicher Gegenstand eines eigenständigen Antrags im Organstreitverfahren kann das insoweit geltend gemachte Begehren nicht sein, weil es sich bereits nicht auf eine Maßnahme oder Unterlassung im Sinne von § 64 Abs. 1 BVerfGG bezieht (vgl. BVerfGE 166, 93 <136 Rn. 119>).

C.

74Der Antrag auf Erstattung der notwendigen Auslagen ist abzulehnen. Die Auslagenerstattung richtet sich im Organstreitverfahren nach § 34a Abs. 3 BVerfGG. Sie kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn besondere Billigkeitsgründe vorliegen (vgl. BVerfGE 96, 66 <67>; 150, 194 <203 Rn. 29>; 154,320 <353 Rn. 97> - Seehofer-Interview auf der Homepage des BMI; 160, 411 <426 Rn. 46> - Wahl eines Vizepräsidenten des Bundestages). Solche Gründe sind hier nicht ersichtlich.

Diese Entscheidung steht in Bezug zu

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:es20250521.2bve000320

Fundstelle(n):
LAAAJ-94066