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BSG Urteil v. - B 3 KR 8/23 R

Krankenversicherung - Arzneimittelversorgung - Vergütungsanspruch der Apotheke - Einzelverträge zwischen Krankenkasse und Apotheken zur Versorgung mit Zytostatika - Open-House-Verfahren - Exklusivwirkung

Gesetze: § 129 Abs 1 SGB 5, § 129 Abs 2 SGB 5, § 129 Abs 5 S 3 SGB 5 vom , § 129 Abs 5c S 1 SGB 5

Instanzenzug: Sächsisches Landessozialgericht Az: L 1 KR 208/21 Urteilvorgehend SG Dresden Az: S 18 KR 1353/18 Urteil

Tatbestand

1Im Streit steht der Anspruch auf Vergütung für die Abgabe von Arzneimitteln.

2Der klagende Apotheker gab vom 1.10. bis auf vertragsärztliche Verordnungen von ihm ordnungsgemäß hergestellte parenterale Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten (Zytostatika) für Versicherte der beklagten Krankenkasse ab, rechnete diese ab und erhielt sie von der Beklagten zunächst vergütet. Die Abgaben durch den Kläger erfolgten in einer Versorgungsregion, in der (auch) die Beklagte mit anderen Apotheken Verträge nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V (in der bis geltenden Fassung) über die Versorgung mit Zytostatika geschlossen hatte. Diese Apotheken waren im sog Open-House-Verfahren gesucht worden und dem angebotenen Vertrag für das Gebiet des Regionalloses beigetreten. Der Kläger trat dem ihm bekannten Vertragsangebot nicht bei. Nach dem Open-House-Vertrag gewährten die beigetretenen Apotheken den vertragsschließenden Krankenkassen - zusätzlich zum Vertrag über die Preisbildung für Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen (Hilfstaxe) - Preisabschläge und waren nur Apotheken, welche den Vertrag geschlossen hatten, berechtigt, Zytostatika an Versicherte dieser Krankenkassen in den Vertragsregionen abzugeben und abzurechnen. Die Beklagte beanstandete im August 2017 nach Prüfung die vergüteten streitigen Abrechnungen (Retaxation) verfahrensrechtlich wie rechnerisch korrekt und rechnete in 2018 die beanstandeten Abrechnungen gegen spätere unstreitige Vergütungsforderungen des Klägers auf. Dieser sei mangels Vertragsbeitritts nicht abgabeberechtigt gewesen.

3Das SG hat die auf Zahlung einbehaltener Vergütung von 44 180,29 Euro nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom ). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Dem Kläger habe für die streitigen Abrechnungen kein Vergütungsanspruch zugestanden. Er sei zur Abgabe der Zytostatika nicht berechtigt gewesen, weil die Beklagte berechtigt gewesen sei, die Versorgung ihrer Versicherten mit Zytostatika durch einen Open-House-Vertrag zu regeln, nach dem die Berechtigung zur Abgabe von Zytostatika in einem bestimmten Versorgungsgebiet den Beitritt der Apotheke zum Vertrag vorausgesetzt habe, den der Kläger - anders als andere Apotheker - nicht erklärt habe. Dass den geschlossenen Verträgen Exklusivität gegenüber den Apotheken zugekommen sei, die nicht beigetreten gewesen seien, folge aus § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der im streitigen Abgabezeitraum geltenden Fassung und dem hierzu ergangenen - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11). Anderes folge hier nicht daraus, dass der Ausschluss des Klägers auf im Wege des Open-House-Verfahrens geschlossenen Verträgen und nicht auf einem im Wege des Vergabeverfahrens nach Ausschreibung geschlossenen Einzelvertrag beruhe (Urteil vom ).

4Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger insbesondere die Verletzung von § 129 SGB V und § 31 SGB V. Die Vorinstanzen hätten diese Vorschriften fehlerhaft, nämlich in der vom BSG seinem Urteil vom zugrunde gelegten Auslegung angewandt. Entgegen dieser Entscheidung habe weder Einzelverträgen nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V noch Verträgen im Open-House-Verfahren eine Exklusivität innegewohnt und sei das Apothekenwahlrecht der Versicherten nach § 31 Abs 1 Satz 5 SGB V im Bereich der Zytostatikaversorgung nicht ausgeschlossen gewesen. Für eine anderslautende Auslegung sei jedenfalls seit der Aufhebung von § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V zum kein Raum mehr.

Gründe

7Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass er keinen Anspruch auf die Vergütung für die streitige Abgabe von Zytostatika hat, weshalb die von der Beklagten vorgenommene Retaxation und Aufrechnung rechtmäßig ist.

81. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens sind die Entscheidungen der Vorinstanzen und der vom Kläger geltend gemachte Vergütungsanspruch in Höhe von 44 180,29 Euro nebst Zinsen, dem die Beklagte im Wege der Retaxation einen Erstattungsanspruch in dieser Höhe wegen der vom Kläger vom 1.10. bis an ihre Versicherten abgegebenen Zytostatika entgegenhält. Sein Zahlungsbegehren hat der Kläger im Gleichordnungsverhältnis der Beteiligten zulässig mit der Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) geltend gemacht (stRspr; vgl zuletzt - vorgesehen für SozR 4, juris RdNr 8).

92. Die Rechtsgrundlagen für den Vergütungsanspruch des klagenden Apothekers für die Zubereitung und Abgabe von Zytostatika ergeben sich aus gesetzlichen, untergesetzlichen und vertraglichen Regelungen (vgl zum Vergütungsanspruch des Apothekers im Einzelnen - BSGE 135, 254 = SozR 4-2500 § 129 Nr 16, RdNr 9 f).

10Nach § 129 Abs 1 SGB V (§ 129 SGB V hier in der Normfassung des Gesetzes für sichere digitale Kommunikation und Anwendungen im Gesundheitswesen sowie zur Änderung weiterer Gesetze vom , BGBl I 2408) iVm den ergänzenden Vereinbarungen auf Bundes- und Landesebene (§ 129 Abs 2, Abs 5 Satz 1 SGB V sowie den nach § 129 Abs 5c Satz 1 SGB V getroffenen Vergütungsregelungen in der Hilfstaxe) sind die einbezogenen Apotheken nach Maßgabe der Verträge öffentlich-rechtlich zur Abgabe vertragsärztlich verordneter Arzneimittel an die Versicherten als Sachleistung im Rahmen der Krankenbehandlung berechtigt und verpflichtet, wofür sie im Gegenzug einen in § 129 SGB V vorausgesetzten unmittelbaren gesetzlichen Anspruch auf Vergütung gegen die Krankenkassen erwerben, der durch Normenverträge näher ausgestaltet ist; als Mitglied im Sächsischen Apothekerverband gilt das auch für den Kläger.

11Im Zeitraum der streitigen Zytostatikaabgaben sah § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V (in der bis geltenden Fassung des Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften vom , BGBl I 1990) vor: Die Versorgung mit in Apotheken hergestellten parenteralen Zubereitungen aus Fertigarzneimitteln in der Onkologie zur unmittelbaren ärztlichen Anwendung bei Patienten kann von der Krankenkasse durch Verträge mit Apotheken sichergestellt werden; dabei können Abschläge auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers und die Preise und Preisspannen der Apotheken vereinbart werden.

123. Dem Vergütungsanspruch des Klägers für die streitigen Abgaben vom 1.10. bis steht entgegen, dass die Beklagte in der vom Kläger versorgten Region mit anderen Apotheken über die Versorgung mit Zytostatika Verträge nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V geschlossen hatte, denen Exklusivitätswirkung gegenüber dem Kläger zukam und die dieser kannte. Der Kläger kam insoweit keiner öffentlich-rechtlichen Leistungspflicht nach und war nicht abgabeberechtigt.

13a) Der Senat hält für den streitigen Zeitraum an seiner Rechtsprechung zur Exklusivitätswirkung von Verträgen nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V fest ( - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11 zu Einzelverträgen nach Ausschreibung im Vergabeverfahren; ebenso für den Übergangszeitraum vom 13.5. bis - vorgesehen für SozR 4).

14Nach dieser Rechtsprechung können, soweit Einzelverträge zwischen einer Krankenkasse und einer Apotheke nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V geschlossen werden, hiervon abweichende Regelungen des Rahmenvertrags nach § 129 Abs 2 SGB V und der ergänzenden Verträge nach § 129 Abs 5 Satz 1 SGB V keine Anwendung mehr finden. Dies hat zur Folge, dass im Umfang des vorrangigen Einzelvertrags die grundsätzliche Leistungsberechtigung und -verpflichtung anderer Apotheken zur Durchsetzung des Wirtschaftlichkeitsgebots entfällt, weil jede Leistung nur einmal erbracht werden kann (vgl im Einzelnen - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11, RdNr 19 ff).

15b) Der an dieser Rechtsprechung geäußerten Kritik folgt der Senat für die hier noch geltende Gesetzeslage nicht (vgl aus der Literatur etwa Altenburger, MedR 2016, 393; Kieser, SGb 2017, 226; Penner/Büscher/Niemer/Reimer, GuP 2017, 15, 22 f; Wesser, A&R 2016, 51). § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der Auslegung des Senats bot für die Exklusivitätswirkung von Einzelverträgen eine verfassungsrechtlich hinreichende Rechtsgrundlage.

164. Dem Ausschluss eines Vergütungsanspruchs aufgrund fehlender Abgabeberechtigung steht nicht entgegen, dass die Apotheken, mit denen die Beklagte Verträge geschlossen hatte, nicht im Wege der Ausschreibung, sondern im Open-House-Verfahren gesucht worden und dem angebotenen Vertrag für das Gebiet des Regionalloses, anders als der Kläger, beigetreten waren. Stellt eine Krankenkasse die Zytostatikaversorgung in der Weise sicher, dass sie nach dem bis geltenden Recht im Open-House-Verfahren gebietsbezogene Einzelverträge anbietet, sind nur dem Vertrag beigetretene Apotheken zur Leistungserbringung berechtigt und alle anderen wie bei Einzelverträgen nach Ausschreibung im Vergabeverfahren insoweit von der Leistungserbringung ausgeschlossen.

17a) Zwar ist durch den Beitritt mehrerer Apotheken zu einem Open-House-Vertrag in einem bestimmten Gebiet dessen Exklusivitätswirkung im Vergleich zu einem Einzelvertrag mit einer Apotheke in einem Gebiet nach Ausschreibung im Vergabeverfahren eingeschränkt. Jedoch schließt auch der Open-House-Vertrag alle nicht beigetretenen Apotheken von der Versorgung mit Zytostatika zulasten der vertragsschließenden Krankenkasse in diesem Gebiet aus. Eine zumindest prinzipielle Exklusivität der Lieferbeziehungen als Anreiz für Abschläge gegenüber den sonst geltenden Preisen gehört nach § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der bis geltenden Fassung zu den Essentialia eines Einzelvertrags ebenso wie eines Open-House-Vertrags.

18Gerade die Einräumung von Versorgungsexklusivität ist für die Verhandlungsposition einer Krankenkasse beim Vertragsschluss mit einem oder mehreren Leistungserbringern von zentraler Bedeutung und kann durch Liefervereinbarungen mit exklusiver Wirkung sowohl mit einem einzigen als auch mit mehreren Leistungserbringern erreicht werden. Maßgeblich ist insofern die Ausschlusswirkung gegenüber den nicht am Vertrag beteiligten Leistungserbringern (vgl dazu auch Mattes, Exklusivvereinbarungen zwischen gesetzlichen Krankenkassen und Leistungserbringern, 2020, S 30, 32 f).

19b) Vorliegend hat die Krankenkasse auf der Grundlage der Entscheidung des - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11) im Open-House-Modell die Beitrittslösung angeboten und die potentiellen Vertragspartner gingen auf dieser Grundlage zutreffend von einer vertraglich vorgesehenen verdrängenden Wirkung und der daraus folgenden regionalen Abrechnungsbegrenzung aus. Auch der Kläger war aufgrund der Vertragspartnersuche im Open-House-Verfahren über die den Verträgen innewohnende exklusive Wirkung informiert. Aus seinem fehlenden Beitritt zum Open-House-Vertrag folgt seine fehlende Abgabeberechtigung.

20c) Aus der dennoch erfolgten Abgabe erwächst dem Kläger kein Vergütungsanspruch. Open-House-Verträgen nicht - und sei es (nur) unter Vorbehalt - beizutreten und schlicht zu versorgen, begründet keinen Vergütungsanspruch. Der vollständige Vergütungsausschluss ist zur Durchsetzung des im streitigen Zeitraum gesetzlich vorgesehenen Systems erforderlich (vgl - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11, RdNr 42).

21Die Möglichkeit, dem Open-House-Vertrag unter Inanspruchnahme von Rechtsschutz gegen Vertragsregelungen beizutreten, hat der Kläger nicht genutzt (vgl - vorgesehen für BSGE = SozR 4-2500 § 33 Nr 59, RdNr 22 ff zur Hilfsmittelversorgung).

225. Anderes folgt nicht daraus, dass der Gesetzgeber nach dem streitigen Zeitraum zum die gesetzliche Grundlage des § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V für Exklusivlieferverträge aufgehoben hat (AMVSG vom , BGBl I 1050).

23Aus den Gesetzesmaterialien zur Aufhebung des § 129 Abs 5 Satz 3 SGB V in der bis geltenden Fassung ergibt sich vielmehr, dass der Gesetzgeber die Exklusivität für das Kernelement der Verträge hielt, er diese gesetzliche Konzeption jedoch nicht fortsetzte und für die Zukunft durch eine andere ersetzte (Ausschussdrucksache BT-Drucks 18/11449 S 32, 36 f mit Änderung gegenüber dem Regierungsentwurf BT-Drucks 18/10208 S 25, 30 f). Der Gesetzgeber hat seine neue Konzeption - keine Exklusivität mehr - nach einem Übergangszeitraum nur für die Zukunft bestimmt, aber nicht den Fortbestand der Exklusivität für den hier streitigen Zeitraum aufgegeben. Der Rechtsprechung des Senats ist damit nicht rückwirkend die Grundlage entzogen worden (vgl zu deren bestätigender Inbezugnahme bereits - SozR 4-2500 § 129 Nr 14 RdNr 41; - vorgesehen für BSGE 137, 1 = SozR 4-2500 § 83 Nr 6, RdNr 35).

246. Der streitigen Retaxation auf Null aufgrund eines Verstoßes gegen Abgabebestimmungen wegen fehlender Abgabeberechtigung steht Verfassungsrecht nicht entgegen (vgl bereits - BSGE 120, 122 = SozR 4-2500 § 129 Nr 11, RdNr 43 unter Hinweis auf ua, juris).

25Die nachgelagerte Retaxation und Aufrechnung ist als Nachvollzug der fehlenden Abgabeberechtigung im Abgabezeitpunkt trotz zwischenzeitlicher Rechtsänderung auch nach wie vor geeignet, die Geltung des Leistungserbringungsrechts durchzusetzen sowie rechtswidrige Vermögensverschiebungen zulasten der Krankenkassen zu korrigieren, weil eine Änderung der Abgabebestimmungen nach dem Abgabezeitpunkt den wegen fehlender Abgabeberechtigung entstandenen Erstattungsanspruch nicht wegfallen lässt (vgl zum Vertragsarztrecht - BSGE 117, 149 = SozR 4-2500 § 106 Nr 48, RdNr 36 ff).

267. Zu Recht beansprucht die Beklagte danach mangels Vergütungsanspruchs des Klägers für die unberechtigte Abgabe der verordneten Zytostatika im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs die einbehaltene Vergütung für nicht im Streit stehende Versorgungen von Versicherten der Beklagten (vgl zur Aufrechnung einer Krankenkasse mit anderweitigen Vergütungsansprüchen nur - BSGE 135, 254 = SozR 4-2500 § 129 Nr 16, RdNr 18 mwN).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:130325UB3KR823R0

Fundstelle(n):
HAAAJ-94063