Suchen
BGH Beschluss v. - 3 StR 603/24

Instanzenzug: LG Kleve Az: 120 KLs 13/24

Gründe

1Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils des Diebstahls in 17 Fällen schuldig gesprochen. Den Angeklagten K.         hat es mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren, den Angeklagten M.              mit einer solchen von drei Jahren und sechs Monaten belegt. Gegen das Urteil wenden sich die Angeklagten mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung formellen Rechts und die allgemeine Sachbeschwerde gestützten Revisionen. Das Rechtsmittel des Angeklagten K.          ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO). Die Revision des Angeklagten M.                führt zur Aufhebung des Urteils, soweit die Strafkammer von einer Anordnung der Unterbringung dieses Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB abgesehen hat; im Übrigen ist es gleichfalls unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

I.

2Die Revision des Angeklagten K.         bleibt ohne Erfolg. Seine Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und daher unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die auf die Sachrüge veranlasste umfassende materiellrechtliche Überprüfung des Urteils hat aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts dargelegten Gründen keinen Rechtsmangel zum Nachteil dieses Angeklagten ergeben. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen tragen den Schuldspruch. Auch der Strafausspruch ist frei von Rechtsmängeln zu Ungunsten des Angeklagten.

II.

3Das Rechtsmittel des Angeklagten M.               deckt zum ihn betreffenden Schuld- und Strafausspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil auf. Dagegen dringt die von ihm zulässig erhobene Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO durch und führt zur Aufhebung des Urteils, soweit das Landgericht die Anordnung einer Unterbringung dieses Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt hat. Die Strafkammer hat zu Unrecht davon abgesehen, zur Frage des Vorliegens der Voraussetzungen einer Unterbringung nach § 64 StGB einen Sachverständigen hinzuzuziehen.

41. Die Verfahrensrüge ist statthaft. Da der Angeklagte mit seiner Revision, die auch auf die allgemeine Sachrüge gestützt ist, angesichts der Regelung des § 358 Abs. 2 Satz 3 StPO grundsätzlich eine ihn in rechtlicher Hinsicht belastende – gleichwohl aber von ihm erstrebte – Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt erreichen kann, sein Rechtsmittel also die Möglichkeit eröffnet, die Nichtanordnung der Unterbringung revisionsrechtlich zu überprüfen (vgl. , NStZ 2009, 261; Urteil vom – 1 StR 9/90, BGHSt 37, 5, 7 ff.), ist es ihm auch möglich, mit der Formalrüge einer Verletzung des § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO das Verfahren hinsichtlich der Entscheidung über die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu beanstanden (so auch BGH, Beschlüsse vom – 6 StR 63/22, NStZ 2022, 432 Rn. 4; vom – 2 StR 255/13, BGHSt 59, 1 Rn. 6; vom – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464). Dies gilt unabhängig davon, dass er durch die Nichtanordnung der Unterbringung und damit auch das Unterbleiben einer Hinzuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO in rechtlicher Hinsicht nicht beschwert ist. Die Verfahrensrüge ist mithin nicht mangels „Rügebeschwer“ unstatthaft (insofern kritisch allerdings , juris).

52. Die zulässige Verfahrensrüge ist auch begründet.

6a) Das Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte M.                seit etwa 20 Jahren Rauschgift konsumiert und vor etwa fünf Jahren wegen einer drogeninduzierten Psychose stationär psychiatrisch behandelt wurde. Eine Arbeitsstelle als Bauarbeiter verlor er wegen Drogenmissbrauchs. Die urteilsgegenständlichen Taten beging er unter anderem, um seinen Rauschmittelkonsum zu finanzieren.

7Eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt hat die Strafkammer ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen abgelehnt, weil seine Angaben zum Rauschmittelkonsum auch auf Nachfrage vage geblieben seien, so dass hinreichend sichere Feststellungen zum Vorliegen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB mangels Ausführungen zu Art und Menge des Drogenkonsums sowie dessen Auswirkungen auf seine Lebensgestaltung nicht möglich gewesen seien. Wegen des Fehlens von Anknüpfungstatsachen wäre es auch einem Sachverständigen nicht möglich gewesen, zu einem Befund zu gelangen. Zudem habe nicht feststellt werden können, dass die urteilsgegenständlichen Taten überwiegend auf einen etwaigen Hang des Angeklagten zurückgingen, weil er durch die Diebstahlstaten auch seinen allgemeinen Lebensunterhalt finanzierte und er in der Hauptverhandlung keine näheren Angaben zur Verwendung der Taterlöse gemacht habe. Schließlich sei die Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu verneinen. Insofern habe die Strafkammer aufgrund langjähriger Tätigkeit der Berufsrichter als Mitglieder einer Strafvollstreckungskammer hinreichende eigene Sachkunde, so dass es für die Beurteilung keines Sachverständigen bedurft habe. Der Angeklagte habe sich bislang weder um eine Drogentherapie bemüht noch über eine solche informiert, weshalb eine Verhaltensänderung sehr unwahrscheinlich sei.

8b) Mit diesen Erwägungen hat die Strafkammer von der Vernehmung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO zum Vorliegen der Voraussetzungen für eine Maßregelunterbringung nach § 64 StGB nicht absehen dürfen.

9aa) Gemäß § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO ist das Tatgericht verpflichtet, einen Sachverständigen zu vernehmen, wenn nach den Umständen des Einzelfalls eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt tatsächlich in Betracht kommt und deshalb eine Anordnung dieser Maßregel konkret zu erwägen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 182/17, NStZ 2018, 334; vom – 2 StR 355/13, BGHSt 59, 1, 3; vom – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464; BeckOK StPO/Berg, 54. Ed., § 246a Rn. 2 f.; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 7). Der Zuziehung eines Sachverständigen bedarf es jedoch nicht, wenn die Voraussetzungen eines Hangs im Sinne des § 64 StGB evident nicht gegeben sind oder das Fehlen einer hinreichenden Erfolgsaussicht klar auf der Hand liegt (vgl. , NStZ 2022, 432 Rn. 6 m. zust. Anm. Schneider; , juris Rn. 3; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 246a Rn. 2; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 246a Rn. 3; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 10). Jenseits solcher Evidenzfälle ist das Tatgericht von der Pflicht zu einer Sachverständigenvernehmung nur befreit, wenn es die Maßregel nach § 64 StGB allein in Ausübung seines Ermessens nicht anordnen will und diese Entscheidung von sachverständigen Feststellungen unabhängig ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 1 StR 432/21, juris Rn. 11; vom – 3 StR 182/17, NStZ 2018, 334; vom – 2 StR 255/13, BGHSt 59, 1 Rn. 10; vom – 4 StR 434/11, NStZ 2012, 463, 464; KK-StPO/Krehl, 9. Aufl., § 246a Rn. 2; MüKoStPO/Trüg/Habetha, 2. Aufl., § 246a Rn. 8).

10bb) Das Landgericht hat eine Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt im Einzelnen erörtert und damit ersichtlich konkret in Erwägung gezogen. Hierzu ist es aufgrund des langjährigen Drogenkonsums des Angeklagten mit negativen Folgen für seine Gesundheit und berufliche Leistungsfähigkeit auch gehalten gewesen. Die ablehnende Entscheidung basiert weder auf einem evidenten Fehlen der Anordnungsvoraussetzungen noch ausschließlich auf der Ausübung von Ermessen. Damit hat es der Anhörung eines Sachverständigen bedurft.

11Dabei spielt keine Rolle, dass der Angeklagte in der Hauptverhandlung nur vage Angaben zu seinem Rauschmittelkonsum gemacht hat, die nach Auffassung der Strafkammer keine hinreichende Grundlage für die Beurteilung eines Hangs geboten haben. Denn insofern gilt: Kann über das Vorliegen der Voraussetzungen für eine im Raum stehende Maßregelanordnung nach § 64 StGB keine Klarheit gewonnen werden, weil die Erkenntnismöglichkeiten des Tatgerichts nicht ausreichen, ist die Zuziehung eines Sachverständigen nach § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO veranlasst. Dabei gehört es zu den Aufgaben des Sachverständigen, durch eine Befragung des Angeklagten im Rahmen der Exploration und die Auswertung von – gegebenenfalls noch herbeizuschaffendem – Aktenmaterial Defizite des Gerichts bei der Tatsachenfeststellung auszugleichen (vgl. , NStZ 2012, 463, 464). Entsprechendes gilt für die Feststellung eines symptomatischen Zusammenhangs zwischen der Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat(en) und dem Substanzkonsum des Angeklagten.

12Ohne sachverständige Hilfe hat das Landgericht zudem die Erfolgsaussicht einer Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nicht ablehnen dürfen. Denn fehlende Erfolgsaussicht liegt nach den Urteilsfeststellungen nicht auf der Hand, zumal die Begründung der Strafkammer, der Angeklagte habe sich bislang nicht selbst um eine Therapie bemüht oder auch nur über eine solche informiert, ohnehin nicht tragfähig ist. Denn Erfolgsaussicht kann desgleichen bestehen, wenn zu erwarten ist, dass eine genügende Therapiemotivation im Rahmen des Maßregelvollzugs geweckt werden kann (vgl. , juris Rn. 7 ff.). Das Fehlen bisheriger eigenständiger Bemühungen des Angeklagten um eine Drogentherapie kann überdies nicht mit einer verfestigten Therapieunwilligkeit gleichgesetzt werden. Im Übrigen kann eine bekundete Therapieunwilligkeit zwar im Einzelfall durchaus ein gewichtiges Indiz gegen eine Erfolgsaussicht sein (vgl. , juris Rn. 4), doch genügt sie nicht, um eine Ausnahme von der grundsätzlichen Begutachtungspflicht zu rechtfertigen (vgl. , juris Rn. 9; BeckOK StPO/Berg, 54. Ed., § 246a Rn. 2).

133. Die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt beruht auf dem aufgezeigten Rechtsfehler, der einen relativen Revisionsgrund (§ 337 StPO) darstellt (vgl. BeckOK StPO/Berg, 54. Ed., § 246a Rn. 16). Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Landgericht bei Vernehmung eines Sachverständigen die Unterbringungsvoraussetzungen bejaht hätte und zu einer Maßregelanordnung gelangt wäre.

144. Angesichts des Erfolgs der Verfahrensrüge kann dahingestellt bleiben, ob der Senat der Auffassung folgen könnte, der Verfahrensverstoß der unterbliebenen Zuziehung eines Sachverständigen stelle einen (auch) auf die Sachrüge hin beachtlichen Rechtsmangel dar, wenn sich – wie hier – der Verstoß gegen § 246a Abs. 1 Satz 2 StPO bereits aus den Urteilsgründen ergibt (so wohl , juris Rn. 11).

155. Über die Unterbringung des Angeklagten M.                in einer Entziehungsanstalt ist daher in einem zweiten Rechtsgang unter Heranziehung eines Sachverständigen erneut zu verhandeln und zu entscheiden. Der Nachholung einer – den Angeklagten in rechtlicher Hinsicht belastenden – Unterbringungsanordnung stünde gemäß § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO nicht entgegen, dass allein der Angeklagte Revision eingelegt hat; das Verschlechterungsverbot gilt insofern nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 3 StPO; vgl. BGH, Beschlüsse vom – 3 StR 260/24, juris Rn. 11; vom – 3 StR 182/17, NStZ 2018, 334, 335; vom – 3 StR 458/08, NStZ 2009, 261).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:190325B3STR603.24.0

Fundstelle(n):
OAAAJ-91781