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BGH Beschluss v. - 4 StR 265/24

Instanzenzug: LG Essen Az: 32 Ks 5/23 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die hiergegen gerichtete, mit der Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts begründete Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

2Den Verfahrensbeanstandungen bleibt der Erfolg aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts genannten Gründen versagt. Ergänzend bemerkt der Senat insoweit:

3Die vom Beschwerdeführer erhobene Aufklärungsrüge, mit der er beanstandet, ein vom Geschädigten angefertigtes Dokument über seinen Krankheitsverlauf sei nicht förmlich verlesen und damit unter Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO nicht in seinem „exakten Wortlaut“, seiner „äußeren und inneren Ordnung“, „Diktion“, „Lexik“ und „Syntax“ in die Hauptverhandlung eingeführt worden, erweist sich bereits als unzulässig. Entgegen den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO hat die Revision nicht mitgeteilt, ob und in welchem Umfang der Inhalt der Urkunde – gegebenenfalls auf Vorhalt – Gegenstand der Einlassung des Angeklagten und der Vernehmung der beiden Sachverständigen war. Hierzu bestand insbesondere Anlass, weil die Urteilsgründe wiederholt auf das Schriftstück und seinen Inhalt Bezug nehmen. Da selbst der Beschwerdeführer lediglich das Unterlassen der förmlichen Verlesung als Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht beanstandet und nicht vorträgt, die Urkunde sei überhaupt nicht zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht worden, hätte er die erfolgte gerichtliche Aufklärung ihrem konkreten Umfang nach mitteilen müssen, um den Senat in die Lage zu versetzen, das Rügevorbringen defizitärer Amtsaufklärung umfassend zu prüfen (vgl. ).

II.

4Die auf die Sachrüge veranlasste Nachprüfung des Urteils hat keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Insbesondere ist – was allein der näheren Erörterung bedarf – der Schuldspruch wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft (§ 212, § 25 Abs. 1 Alternative 2 StGB) revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

51. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

6Der Angeklagte, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und vormals Oberarzt an einer Neurologischen Klinik, erstellte seit 2003 freiberuflich gegen Vergütung für auf dem Gebiet der Sterbehilfe tätige Vereine Gutachten zur Frage der Freiverantwortlichkeit von Suizidentscheidungen. Seit dem Jahr 2020 übte der Angeklagte diese gutachterliche Tätigkeit auch unabhängig von den Vereinen aus und übernahm zudem die Begleitung der Sterbewilligen bei der Lebensbeendigung, wofür er jeweils ein Entgelt verlangte.

7Der Geschädigte wandte sich am per E-Mail an den Angeklagten. Bei ihm war erstmals im Jahr 2007 eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert worden. Seit dem Jahr 2014 wurde er mehrmals stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt, teils infolge von Suizidankündigungen, wo später auch die Diagnose einer postschizophrenen Depression gestellt wurde. Nachdem der Geschädigte im Jahr 2018 die ihm verordnete neuroleptische Medikation eigenmächtig beendet hatte, verschlechterte sich sein Zustand wieder. Da er von der Möglichkeit der Behandlung schizophrener Symptome mit Kortison gelesen hatte, nahm er es ohne ärztliche Begleitung in hohen Dosen zu sich. Infolge der Selbstmedikation entwickelte er ein Augenleiden mit starker Sehbeeinträchtigung, worauf er mit erheblichen Selbstvorwürfen und einem massiv depressiven Schulderleben reagierte. In der Folgezeit unternahm er mehrere Suizidversuche und es kam zu weiteren Klinikaufenthalten. Den letzten dieser Aufenthalte beendete der Geschädigte gegen ärztlichen Rat, nachdem er sich in dem Krankenhaus infolge seines paranoiden Erlebens nicht sicher gefühlt und gefürchtet hatte, nachts von fremden Personen umgebracht zu werden. Bis zu seinem Tod am nahm der Geschädigte weder die ihm für seine psychische Erkrankung verordneten Medikamente ein noch folgte er der ärztlichen Empfehlung, eine ambulante psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung aufzunehmen. Ein rationaler Zugriff auf die tatsächliche Schwere und Bedeutung der Augenerkrankung war dem Geschädigten bedingt durch sein psychisches Leiden bis zu seinem Tod nicht möglich. Auch nachdem beide Augen erfolgreich operiert worden waren und sein Sehvermögen im Juni 2020 weitgehend wiederhergestellt war, ging er unverrückbar kontrafaktisch davon aus, fortschreitend zu erblinden.

8Dem Angeklagten teilte der Geschädigte im Rahmen des Erstkontakts mit, auf der Suche nach einem Gutachter zu sein, der ihm bescheinige, dass sein „Sterbewunsch ein wohl bilanzierter Entscheid“ sei, um eine Suizidbegleitung durch einen (bestimmten) Sterbehilfeverein erreichen zu können. Auf Bitte des Angeklagten übersandte der Geschädigte ihm am ein zweiseitiges, auf seinem Mobiltelefon getipptes Schreiben, in dem er seinen Werdegang und Krankheitsverlauf – einschließlich der infolge der Eigenbehandlung vermeintlich bleibenden Sehbeeinträchtigung – darstellte. Ferner übersandte er Arztbriefe stationärer Behandlungen aus den Jahren 2019 und 2020, welche u.a. übereinstimmend die Diagnosen „paranoide Schizophrenie“ (ICD-10: F 20.0) und „mittelgradige depressive Episode“ (ICD-10: F. 32.1) aufführten. Den Entlassungsbrief des letzten stationären Klinikaufenthalts von Anfang Mai 2020 und die Arztbriefe betreffend die erfolgreiche Behandlung seines grauen Stars ließ er dem Angeklagten nicht zukommen.

9Am führte der Angeklagte im Beisein der Mutter des Geschädigten ein längeres „Explorationsgespräch“ mit diesem durch. Darin berichtete der Geschädigte unter anderem davon, dass sein Sehvermögen trotz der Augenoperationen immer weiter abnehme; was er sich angetan habe, sei „ein absoluter Todesstoß“. Der Angeklagte konnte die ihm geschilderten Sehstörungen jedoch im direkten Kontakt mit dem Geschädigten nicht feststellen und ging selbst davon aus, dass der Geschädigte diese aus einem subjektiven Beschwerdeerleben heraus übertrieben darstellte. Hiermit konfrontierte er den Geschädigten jedoch nicht, um ihm „seine Sicht der Dinge“ zuzugestehen. Weitere Behandlungsversuche mit Blick auf seine psychische Erkrankung wurden von dem Geschädigten in dem Gespräch abgelehnt. Er war gedrückter Stimmung und zeigte sich hinsichtlich einer Besserung der Symptome seiner psychischen Erkrankung hoffnungslos. Tatsächlich bestanden demgegenüber – auch nach der fachlichen Einschätzung des Angeklagten – weitere medizinisch sinnvolle und erfolgversprechende Behandlungsmöglichkeiten, namentlich die Wiederaufnahme der eigenmächtig abgesetzten Medikation und soziotherapeutische Behandlungsansätze etwa im Rahmen eines tagesklinischen Angebots oder einer therapeutischen Wohnform.

10Mit Datum vom fertigte der Angeklagte einen „ärztlichen und psychiatrischen Befundbericht“ an, in welchem er unter anderem folgende „medizinische Diagnosen“ für den Geschädigten stellte: „Residualsymptomatik nach mehrfach paranoid-schizophrenen Erkrankungen“, „adäquat reaktive depressive Störung (nicht episodisch, nicht angemessen abbildbar, allenfalls als posttraumatische Belastungsstörung“). Tatsächlich ging der Angeklagte indes davon aus, dass bei dem Geschädigten nach den Kriterien des Klassifikationssystems ICD-10 ein schizophrenes Residuum (F20.5), also eine akute schizophrene Erkrankung, sowie eine mittelgradige depressive Episode (F32.1) vorlagen. Nach seiner vom Landgericht für glaubhaft gehaltenen Einlassung hatte er eine entsprechende Einordnung in dem Befundbericht unterlassen, weil er „etwas gegen Schematisierung“ habe und der Auffassung sei, dass die Kriterien des Klassifikationssystems den vorliegenden Fall nicht angemessen erfassen könnten; mit seiner diagnostischen Einordnung habe er zum Ausdruck bringen wollen, dass die depressive Stimmung des Geschädigten aus seiner Sicht eine adäquate Reaktion in dessen Lebenssituation darstelle.

11Der eigentlichen gutachterlichen Beurteilung stellte der Angeklagte eine Vorbemerkung voran, wonach vor dem Hintergrund seiner eigenen früheren Untersuchungen und Begutachtungen zu „Anträgen auf Suizidbeihilfe“ und deren wissenschaftlicher Aufarbeitung sowie des „)“ und des „ u.a.)“ für die Vertretbarkeit einer Suizid-Beihilfe maßgeblich das Kriterium der Freiverantwortlichkeit des Suizid-Entschlusses sei. Als deren „Teilaspekte“ benannte er dort: „Einsichts-/Urteilsfähigkeit (plausible Nachvollziehbarkeit des Entschlusses)“, „Mangelfreiheit des Suizidwillens (Frage innerer/äußerer Beeinträchtigungen der Willensbildung)“ und „innere Festigkeit und Zielstrebigkeit (Frage der Dauerhaftigkeit, Ambivalenz)“. Betreffend den Geschädigten gelangte der Angeklagte – hiervon ausgehend – zu der abschließenden Einschätzung, die Einsichts- und Urteilsfähigkeit sei aus psychiatrischer Sicht als uneingeschränkt klar erhalten zu beurteilen, da die „dringlich vorgetragene Lebensbeendigungs-Absicht (…) aus den geschilderten Beschwerden plausibel nachvollziehbar begründet“ werde. Auf eine Stellungnahme der den Geschädigten behandelnden Ärzte verzichtete der Angeklagte ebenso wie auf die Beiziehung einer sonstigen Zweitmeinung, da „damals Psychiater generell nicht für Sterbehilfe gewesen“ seien und nicht absehbar gewesen sei, eine zustimmende Stellungnahme zu bekommen.

12Das mit E-Mail vom selben Tag übermittelte Angebot des Angeklagten, den Suizid des Geschädigten zu begleiten, nahm dieser an. Am begab sich der Angeklagte absprachegemäß zur Wohnung des Geschädigten, legte ihm – nach erneuter Versicherung des fortbestehenden Sterbewillens – einen venösen Zugang am Arm und hängte eine Infusion mit Natrium-Thiopental an, die der Angeklagte zuvor bei einem Apotheker beschafft hatte. Nachdem der Angeklagte die Funktionsfähigkeit des gelegten Zugangs durch ein kurzes eigenhändiges Öffnen des Zuflussventils überprüft hatte, ohne dass bereits ein Teil der Infusionslösung verabreicht wurde, öffnete der Geschädigte selbst das Ventil und verabreichte sich im Wissen um die tödliche Wirkung des vorgenannten Wirkstoffs eine letale Dosis der Infusion. Er verstarb 25 Minuten später im Beisein des Angeklagten.

13Entgegen dem Befundbericht des Angeklagten vom litt der Geschädigte im Untersuchungszeitpunkt am und auch am tatsächlich an einer akuten paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) sowie einer mittelgradigen depressiven Episode (ICD-10: F32.1) und befand sich hierdurch in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage. Der durch den Geschädigten gegenüber dem Angeklagten geäußerte Suizidwunsch basierte wesentlich auf den krankheitsbedingten, nicht realistisch begründeten Annahmen, dass er unter einer zunehmenden Sehstörung – bis hin zur Erblindung – leide und es zudem für seine psychische Beschwerdesymptomatik keine Besserungsaussichten mehr gebe. Beides entsprach jedoch weder der eigenen realen Erfahrung des Geschädigten noch den tatsächlichen Verlaufs- und Behandlungsmöglichkeiten.

14Auch wenn ihm akute paranoide Wahnvorstellungen beim Geschädigten nicht aufgefallen waren, war dem Angeklagten im Zeitpunkt der Exploration und am Todestag des Geschädigten bewusst, dass dessen Denken und die Suizidentscheidung durch eine aktuelle psychische Erkrankung krankheitswertig richtungsbestimmend beeinflusst war. Dennoch gelangte er auf Grundlage der von ihm selbst entwickelten Definition von Freiverantwortlichkeit zu dem Ergebnis, dass dem Geschädigten bezogen auf sein Leidenserleben „seine Sicht der Dinge zuzugestehen sei“ und der Suizidwunsch als „plausibel nachvollziehbar“ und damit freiverantwortlich eingeordnet werden müsse. Dass sein Verständnis von Freiverantwortlichkeit rechtlich zu weitgehend und sein Handeln im vorliegenden Fall damit rechtswidrig sein könnte, hielt der Angeklagte für möglich und nahm dies billigend in Kauf, um dem Geschädigten die aus seiner Sicht „ethisch gebotene Hilfe zukommen zu lassen“. In einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft Essen vom formulierte der Angeklagte sein Anliegen dahingehend, dass er „bezüglich der Frage der Mängelfreiheit (…) Klärungsbedarf sehe“; für „psychisch schwer und verzweifelt leidende Menschen“, wie er sie gesehen habe, erscheine „eine liberale Klärung des Mängelfreiheitsbegriffs dringlich“.

15Die Strafkammer hat das Verhalten des Angeklagten als Totschlag in mittelbarer Täterschaft gewertet (§ 212 Abs. 1, § 25 Abs. 1 Alternative 2 StGB). Die Selbsttötungshandlung des Geschädigten sei dem Angeklagten nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen, weil diesem im Tatzeitpunkt die für einen freiverantwortlich gebildeten Sterbewunsch notwendige Einsichts- und Urteilsfähigkeit gefehlt habe, was der Angeklagte auch erkannt habe.

162. Der Schuldspruch wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft (§ 212 Abs. 1, § 25 Abs. 1 Alternative 2 StGB) begegnet auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen keinen rechtlichen Bedenken.

17a) Die aktive Mitwirkung an der Selbsttötung eines anderen kann als in mittelbarer Täterschaft begangene Tötung strafbar sein, wenn der Selbsttötungsentschluss nicht auf einem freiverantwortlichen Willensentschluss des Suizidenten beruht und der Täter in Kenntnis dessen die Tatherrschaft über das zum Tod führende Geschehen ausübt (vgl. Rn. 13).

18aa) Notwendige Bedingung der Strafbarkeit in Konstellationen der Selbsttötung ist mithin, dass der Suizident sich – vom Suizidhelfer erkannt – zum Tatzeitpunkt in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage befindet (vgl. , BGHSt 64, 121 Rn. 20; Urteil vom – 5 StR 393/18, BGHSt 64, 135 Rn. 16; Urteil vom – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150 Rn. 75 ff.). Ob ein Suizidentschluss in diesem Sinne als freiverantwortlich zu bewerten ist, hängt – ähnlich wie die im Rahmen des § 216 StGB zu beantwortende Frage der Ernstlichkeit des Tötungsverlangens – davon ab, ob der Suizident über die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügt und fähig ist, seine Entscheidung autonom und auf der Grundlage einer realitätsbezogenen Abwägung der für und gegen die Lebensbeendigung sprechenden Umstände zu treffen (vgl. Rn. 17; Urteil vom – 5 StR 132/18, BGHSt 64, 121 Rn. 21; Urteil vom – 5 StR 393/18, BGHSt 64, 135 Rn. 17; u.a., BVerfGE 153, 182 Rn. 240 ff.). Der Rechtsgutsinhaber, der sein Leben beenden will, muss in der Lage sein, Bedeutung und Tragweite dieses Entschlusses verstandesmäßig zu überblicken und eine abwägende Entscheidung zu treffen (vgl. Rn. 17; Urteil vom – 3 StR 168/10 Rn. 12; Urteil vom – 1 StR 638/99, NJW 2000, 2286, 2287; Urteil vom – 4 StR 480/80, NJW 1981, 932). Hieran kann es namentlich bei Vorliegen einer akuten psychischen Störung fehlen (vgl. Rn. 17; Urteil vom – 4 StR 480/80, NJW 1981, 932; u.a., BVerfGE 153, 182 Rn. 241). Insoweit bedarf es der Feststellung konkreter, die Freiverantwortlichkeit ausschließender Umstände (vgl. , BGHSt 64, 121 Rn. 21; Beschluss vom – 1 StR 389/13 Rn. 31).

19bb) Allerdings hat das so festgestellte Fehlen der Freiverantwortlichkeit nicht zur Folge, dass jeglicher Beitrag eines – seinerseits freiverantwortlich handelnden – Dritten an der Bildung oder Umsetzung des Suizidentschlusses ohne weiteres als täterschaftliche Fremdtötung zu bewerten wäre. Die Unfreiheit des Suizidenten ist, wie ausgeführt, zwar notwendige, nicht aber zugleich hinreichende Bedingung für eine Strafbarkeit wegen eines in mittelbarer Täterschaft begangenen Tötungs- oder Körperverletzungsdelikts (vgl. Rn. 19). Hinzutreten muss, dass dem die Selbsttötung Veranlassenden oder Fördernden eine vom Täterwillen getragene objektive Tatherrschaft über das zum Suizid führende Geschehen zukommt; er muss das Geschehen mit steuerndem Willen in den Händen halten (vgl. BGH, aaO; Urteil vom ‒ 4 StR 352/88, BGHSt 35, 347, 353). Ob dies der Fall ist, richtet sich nicht nach starren Regeln, sondern ist in wertender Betrachtung unter Einbeziehung aller im Einzelfall insoweit maßgeblichen Umstände zu ermitteln (vgl. ‒ 4 StR 352/88, BGHSt 35, 347, 353 f.; Beschluss vom ‒ 1 StR 389/13 Rn. 20; siehe auch Beschluss vom ‒ 5 StR 200/23 Rn. 13).

20b) Hieran gemessen ist gegen die rechtliche Würdigung des Landgerichts im Ergebnis nichts zu erinnern. Die Schwurgerichtskammer hat die Voraussetzungen sowohl der fehlenden Freiverantwortlichkeit des Suizidentschlusses des Geschädigten als auch der Tatherrschaft des Angeklagten rechtsfehlerfrei festgestellt.

21aa) Die Annahme, dass die Selbsttötung des Geschädigten nicht auf einem freiverantwortlichen Willensentschluss beruhte, ist tragfähig belegt. Das Landgericht hat sie entgegen dem Einwand der Revision nicht auf den inexistenten Erfahrungssatz gestützt, ein Mensch mit dem psychischen Erkrankungsbild des Geschädigten sei (generell) nicht in der Lage, die Tragweite seiner Entscheidung im Hinblick auf einen begleiteten Suizid zu erkennen. Vielmehr hat es nach eingehender Würdigung der Beweise, insbesondere des Gutachtens des vom Gericht beauftragten psychiatrischen Sachverständigen, angenommen, dass der Geschädigte zum Zeitpunkt der Suizidhandlung infolge einer akuten schizophrenen und depressiven Krankheitssymptomatik, durch welche sein Denken, Fühlen und Handeln in hohem Maße eingeengt und auf den Sterbewunsch fixiert war, nicht über die erforderliche natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit verfügte. Zur Beurteilung seiner Situation nach objektiven Maßstäben und einer realitätsbezogenen, am eigenen Selbstbild ausgerichteten Abwägung des Für und Wider war er nicht in der Lage. Sein Sterbewunsch beruhte wesentlich auf der erkrankungsbedingt irrigen Annahme, selbstverschuldet unter einer massiven, fortschreitenden Sehstörung zu leiden. Ferner war für den Suizidentschluss des Geschädigten die Überzeugung bestimmend, dass es hinsichtlich seiner psychischen Erkrankung keine Hoffnung auf Besserung mehr gebe, obwohl objektiv weitere sinnvolle Behandlungsansätze bestanden.

22Angesichts dessen lag nicht nur nach dem vorgenannten Maßstab der Rechtsprechung und der im Schrifttum in ähnlicher Ausgestaltung befürworteten „Einwilligungslehre“ kein freiverantwortlicher Suizidentschluss des Geschädigten vor. Auch eine Beurteilung nach den Grundsätzen der von Teilen der Lehre vertretenen „Exkulpationslösung“ würde im vorliegenden Fall zu keinem anderen Ergebnis führen, nachdem der psychiatrische Sachverständige, dem die Kammer auch insoweit gefolgt ist, die schizophrene und depressive Krankheitssymptomatik des Geschädigten als nach Art und Schwere einer „krankhaften seelischen Störung“ im Sinne des § 20 StGB entsprechend eingeschätzt hat (vgl. zu den unterschiedlichen Positionen der Literatur Rn. 22 f.).

23bb) Dem Angeklagten war – nach seiner vom Landgericht für glaubhaft gehaltenen Einlassung – im Tatzeitpunkt auch bewusst, dass die Lebensbeendigungsabsicht des Geschädigten durch seine psychische Störung krankheitswertig richtungsbestimmend beeinflusst war. Soweit er in seinem Befundbericht – unter billigender Inkaufnahme einer Abweichung von der geltenden Rechtslage und damit eigenen rechtswidrigen Handelns – eine divergierende Rechtsauffassung zum Bedeutungsgehalt der Einsichts- und Urteilsfähigkeit im Kontext der Selbsttötung vertrat, wonach es maßgeblich auf die „plausible Nachvollziehbarkeit des Entschlusses“ ankomme, handelte er gleichwohl in Kenntnis aller tatsächlichen Umstände, welche die fehlende Freiverantwortlichkeit des Geschädigten begründeten, und erfasste sie in ihrem sozialen Sinngehalt. Da der Angeklagte mit der Möglichkeit rechnete, rechtswidrig zu handeln, und dies billigend in Kauf nahm, um die von ihm als ethisch geboten erachtete Hilfeleistung gewähren zu können, unterlag er auch keinem Verbotsirrtum im Sinne von § 17 StGB.

24cc) Die Schwurgerichtskammer hat schließlich auch zu Recht angenommen, dass der somit unfreie Selbsttötungsakt dem Angeklagten nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen sei. Zwar lässt die rechtliche Würdigung der Kammer nähere Ausführungen zur Tatherrschaft des Angeklagten und zu seinem Täterwillen vermissen. Die Urteilsgründe tragen jedoch die Bewertung, dass der Angeklagte das Tatgeschehen in der erforderlichen Weise mit steuerndem Willen in den Händen hielt, ohne dass es darauf ankäme, ob dem Tatgericht bei der Prüfung von Täterschaft und Teilnahme in Grenzfällen ein Beurteilungsspielraum eröffnet ist (vgl. in diesem Sinne für die Abgrenzung zwischen Mittäterschaft und Teilnahme z.B. noch Rn. 8; in zunehmender Abkehr hiervon indes Rn. 11; Urteil vom – 3 StR 363/22 Rn. 9 mwN; Beschluss vom – 4 StR 401/23 Rn. 6 f.; Beschluss vom – 4 StR 29/20 Rn. 5 f.).

25Nach den Feststellungen war der Angeklagte in objektiver Hinsicht die Zentralgestalt des Geschehens. Er konstellierte und organisierte dessen Ablauf zweckgerichtet so, dass mit dem Öffnen des Ventils nur das letzte Element einer längeren Abfolge von Handlungen mit dem Ziel des Todes des Geschädigten diesem selbst überlassen blieb, während alles Vorherige durch den Angeklagten ausgeführt worden war. Damit hatte der Angeklagte Bedingungen geschaffen, die geeignet waren, eine dem Selbsttötungsvollzug etwa entgegenstehende Hemmschwelle möglichst weit herabzusenken, weil es nur noch einer geringfügigen Bewegung des Geschädigten bedurfte; andere, typischerweise größere Überwindung erfordernde Schritte wie insbesondere das Legen eines Zugangs hatte der Angeklagte dem Geschädigten abgenommen. Hierbei nutzte er Handlungsmöglichkeiten, die nicht jedermann und insbesondere nicht dem Geschädigten selbst zu Gebote standen, wodurch er nicht als gleichsam austauschbarer, sondern ganz wesentlicher Beteiligter erscheint und seine Beiträge ein besonderes Gewicht für die Erreichung des Erfolges erhielten. So war für die Beschaffung der Medikamente und das Legen der Infusion die Eigenschaft des Angeklagten als Arzt oder jedenfalls eine medizinische Vorbildung unerlässlich. In ebendieser Eigenschaft war der Angeklagte von dem Geschädigten auch ursprünglich kontaktiert worden. Diesem ging es nach den Urteilsfeststellungen hierbei zunächst darum, eine gutachterliche Einschätzung zu erhalten, die es ihm ermöglichen sollte, mithilfe Dritter (eines Sterbehilfevereins) aus dem Leben zu scheiden. Aus Sicht des Geschädigten war es somit der Angeklagte, der eine von ihm für notwendig gehaltene Freigabe erteilen sollte. Dem Angeklagten kam deshalb auch eine überragende Verhinderungsmacht zu. Durchführung und Ausgang der Tat hingen somit von Anfang an maßgeblich von seinem Willen ab (vgl. zu diesem Aspekt der Tatherrschaft z.B. Rn. 12; Beschluss vom – 4 StR 74/19 Rn. 14; Urteil vom – 5 StR 255/16 Rn. 20). Endlich blieb der Angeklagte bei der eigentlichen Suizidvornahme auch bis zum Schluss anwesend, was geeignet war, den Geschädigten in der Umsetzung seines (mangelhaften) Sterbewillens zu festigen. Bei wertender Betrachtung ermöglichte und prägte der Angeklagte die Tat in ihrer konkreten Ausgestaltung.

26Der Angeklagte handelte dabei auch mit Täterwillen. Nach den Feststellungen kannte er, wie bereits ausgeführt, alle maßgeblichen Umstände einschließlich des aus der psychischen Störung des Geschädigten resultierenden Verantwortungsgefälles zwischen diesem und sich selbst. Sein gewichtiges eigenes Tatinteresse trat auch darin zutage, dass er die Einholung einer ärztlichen Zweitmeinung nicht in Betracht zog, weil er nicht mit einer Bestätigung seiner – ergebnisorientiert abgefassten – gutachterlichen Stellungnahme rechnete. Er wollte, wie sich hieran zeigt, die Entscheidung über die Durchführung der Tat nicht aus der Hand geben. Seine Motivation, das eigene psychiatrische und rechtspolitische Konzept zur Sterbehilfe für psychisch Kranke zur Geltung zu bringen, brachte er auch in dem Schreiben an die Staatsanwaltschaft vom zum Ausdruck, wonach ihm dringlich an einer „liberalen Klärung des Mängelfreiheitsbegriffs“ im Kontext des Sterbewunsches von psychisch Kranken gelegen sei. Dass er die (vergütete) Begutachtung und Suizidbegleitung des Geschädigten zugleich aus Mitleid übernommen hatte, ändert hieran nichts.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:290125B4STR265.24.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-90300