Instanzenzug: LG Verden Az: 3 KLs 18/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs „eines Kindes“ in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in zwölf Fällen und wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt, nachdem es das Verfahren hinsichtlich zweier Tatvorwürfe nach § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hatte. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
21. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
3a) Der Angeklagte streichelte seine am geborene Tochter, die Nebenklägerin, zwischen Januar 2015 und Januar 2018 in sieben Fällen am Gesäß, im Intimbereich und an den Brüsten, um sich sexuell zu erregen. Zudem legte er ihre Hand auf seinen Penis und ließ sich dort streicheln (Fälle II.1 bis 7 der Urteilsgründe). Am berührte der unbekleidete Angeklagte die nur mit Unterwäsche bekleidete Nebenklägerin anlässlich eines gemeinsamen Aufenthalts in seiner Dienstwohnung am ganzen Körper und forderte sie auf, ihn ebenfalls anzufassen und seinen Penis zu manipulieren. Dann setzte er sich auf ihr Gesäß, masturbierte bis zum Samenerguss und ejakulierte auf ihren Rücken (Fall II.8 der Urteilsgründe). Zu vergleichbaren Vorfällen kam es an vier weiteren Tagen zwischen Januar 2018 und dem in verschiedenen Räumen des von der Familie bewohnten Hauses (Fälle II.9, 12 bis 14 der Urteilsgründe). Im März 2020 vollzog die Nebenklägerin auf Bitten des Angeklagten den Oralverkehr an ihm, nachdem sie seinen Penis zuvor in ihre Hand genommen hatte (Fall II.10 der Urteilsgründe). Zwischen März 2020 und dem trat der Angeklagte bei einer Gelegenheit zur Nebenklägerin in die Dusche und streichelte ihre Brüste, ihren Po und ihre Scheide, während sie auf sein Geheiß an seinem Penis manipulierte und diesen in den Mund nahm. Anschließend setzte er sich auf das Gesäß der in der Dusche liegenden Nebenklägerin und masturbierte bis zum Samenerguss (Fall II.11 der Urteilsgründe). Schließlich streichelte der Angeklagte die Nebenklägerin am unterhalb ihrer Kleidung im Intimbereich, während sie den Angeklagten ebenfalls streichelte und an seinem Penis manipulierte (Fall II.15 der Urteilsgründe).
4b) Das Landgericht hat die Taten II.1 bis 9 und II.12 bis 14 der Urteilsgründe als sexuellen Missbrauch „eines Kindes“ in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen nach § 176 Abs. 1, § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB gewertet. Hinsichtlich der nach dem 14. Geburtstag der Nebenklägerin begangenen Taten II.10, 11 und 15 der Urteilsgründe hat es den Tatbestand des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nach § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB als erfüllt angesehen. Seine Feststellungen hat es im Wesentlichen auf die „glaubhafte Aussage der Nebenklägerin anlässlich der richterlichen audiovisuellen Vernehmung“ sowie auf die teilgeständige Einlassung des Angeklagten gestützt, „soweit dieser gefolgt werden konnte“. Der Angeklagte hat die Anklagepunkte 9 bis 11 teilweise gestanden und eingeräumt, die Nebenklägerin ab ihrem zwölften Lebensjahr äußerlich im Intimbereich berührt und bei zwei Gelegenheiten auf ihrem Gesäß sitzend bis zum Samenerguss masturbiert zu haben. Intensivere sexuelle Handlungen (Penetration der Nebenklägerin/Vollzug des Oralverkehrs) und die Begehung der weiteren Taten hat er in Abrede gestellt.
52. Der Schuldspruch hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Feststellungen beruhen – auch unter Berücksichtigung des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 428/23, Rn. 13; vom – 1 StR 109/21, Rn. 10) – nicht auf einer tragfähigen Beweiswürdigung. Auf die erhobenen Verfahrensrügen kommt es daher nicht an.
6a) Beruht die Überzeugung von der Schuld eines bestreitenden oder schweigenden Angeklagten maßgeblich auf der Aussage eines Belastungszeugen („Aussage gegen Aussage“), bedarf es einer besonders sorgfältigen Würdigung. Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist eine Darstellung in den Urteilsgründen zu wählen, die erkennen lässt, dass alle Umstände, die die Entscheidung zugunsten oder zuungunsten des Angeklagten beeinflussen können, erkannt, in die Überlegungen einbezogen und in einer Gesamtschau gewürdigt worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 197/23, Rn. 7; vom – 6 StR 281/22, Rn. 6). Dies setzt in der Regel voraus, dass die Urteilsgründe die entscheidenden Aussagen des Belastungszeugen in der Hauptverhandlung zumindest in gedrängter Form wiedergeben. Vorangegangene Angaben des Zeugen sind ebenfalls darzustellen, weil andernfalls nicht überprüfbar ist, ob eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet worden sind (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 6 StR 37/24, Rn. 4; vom – 4 StR 400/22, Rn. 7). Dabei ist einer nicht mit wertenden Elementen verknüpften Darstellungsweise der Vorzug zu geben (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 400/22, Rn. 8; vom – 4 StR 30/22, Rn. 6 f.).
7b) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung nicht gerecht.
8aa) Es fehlt jegliche Mitteilung über den Inhalt der Aussage der Nebenklägerin bei ihrer „dreifachen ergänzenden Vernehmung in der Hauptverhandlung“ und zudem eine geschlossene Darstellung ihrer Angaben anlässlich der richterlichen audiovisuellen Vernehmung sowie der Vernehmung bei der Polizei. Soweit die Strafkammer zu Beginn der Beweiswürdigung ausgeführt hat, dass die Nebenklägerin die Taten in ihrer richterlichen audiovisuellen Vernehmung „nachvollziehbar und überzeugend entsprechend den unter Ziff. II.) getroffenen Feststellungen geschildert“ habe, macht dies eine geschlossene, auf die wesentlichen Aussageinhalte konzentrierte Darstellung ihrer Aussage bei der Ermittlungsrichterin nicht entbehrlich. Denn das Landgericht hat sich nicht von der Richtigkeit aller Angaben der Nebenklägerin bei ihrer audiovisuellen richterlichen Vernehmung zu überzeugen vermocht, sondern ‒ ohne nähere Erläuterung ‒ ihre davon abweichenden Angaben bei der Polizei zur Grundlage der Feststellungen gemacht. So hat die Strafkammer im Fall II.8 der Urteilsgründe keine Feststellungen zum Oralverkehr getroffen, obwohl die Nebenklägerin diesen bei ihrer audiovisuellen richterlichen Vernehmung geschildert hatte. Im Fall II.10 der Urteilsgründe hat die Strafkammer entsprechend der Aussage der Nebenklägerin bei der Polizei festgestellt, dass der erste Oralverkehr im März 2020 stattfand, obgleich sie bei der richterlichen Vernehmung angegeben hatte, bereits im Alter von zwölf Jahren Oralverkehr am Angeklagten ausgeübt zu haben. In den Fällen II.12 bis 14 der Urteilsgründe hat sich das Landgericht ‒ abweichend von der Aussage der Nebenklägerin anlässlich ihrer richterlichen audiovisuellen Vernehmung ‒ nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte mit den Fingern in die Vagina eindrang, weil sie ein solches Tatgeschehen bei der Polizei ausdrücklich verneint hatte. Angesichts dieser Abweichungen hätte es insbesondere für die Beurteilung der Konstanz der Aussagen als wesentlichem Element der Aussageanalyse (vgl. , BGHSt 45, 164, 172; Beschluss vom – 6 StR 37/24; KK-StPO/Tiemann, 9. Aufl., § 261 Rn. 101, 121 mwN) einer geschlossenen Darstellung aller Aussagen bedurft, um dem Revisionsgericht eine Kontrolle der tatgerichtlichen Überzeugungsbildung zu ermöglichen.
9bb) Die Beweiswürdigung leidet zudem an weiteren Mängeln.
10Das Landgericht hätte nicht unerörtert lassen dürfen, ob der am von der Nebenklägerin wahrgenommene Termin bei einer Kinder- und Jugendpsychologin ihre Aussage beeinflusst haben könnte. Dazu hätte Veranlassung bestanden, weil die Nebenklägerin sich zuvor nicht detailliert zu den Tatvorwürfen geäußert hatte und der Termin „der Stabilisierung der Nebenklägerin für die bevorstehende polizeiliche Vernehmung dienen sollte“.
11Soweit die Strafkammer das Aussageverhalten der Nebenklägerin „als sehr authentisch“ bewertet und im Rahmen von Beweisanträgen thematisierte unwahre Behauptungen oder Übertreibungen der Nebenklägerin mit sexuellem Bezug gegenüber Gleichaltrigen auf Feiern, im Zeltlager oder in den sozialen Medien als unauffälliges „pubertäres Verhalten“ unter Gleichaltrigen eingeordnet hat, vermag der Senat diese tatgerichtliche Wertung nicht nachzuvollziehen. Es fehlt an einer Wiedergabe und Würdigung der Äußerungen der Nebenklägerin. Die Bezugnahme des Landgerichts auf einen Beschluss vom macht diese Darstellung nicht entbehrlich. Die Vorschrift des § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO erlaubt in den Urteilsgründen nur die Bezugnahme auf bei den Akten befindliche Abbildungen. Soweit die erforderlichen Urteilsfeststellungen oder Beweiserwägungen durch eine unzulässige Bezugnahme ersetzt werden, fehlt es verfahrensrechtlich an einer Urteilsbegründung und sachlich-rechtlich an der Möglichkeit einer Nachprüfung durch das Revisionsgericht (vgl. , Rn. 42; vom – 6 StR 319/21, NStZ 2022, 125; Beschluss vom – 3 StR 58/00, NStZ-RR 2000, 304).
12Bedenken begegnet schließlich auch, dass das Landgericht das Verfahren betreffend die zwei schwerwiegendsten Vorwürfe (Taten 15 und 16 der Anklageschrift), nach denen der Angeklagte mit der Nebenklägerin den vaginalen Geschlechtsverkehr ausgeübt haben soll, gemäß § 154 Abs. 2 StPO eingestellt hat, ohne die Gründe hierfür mitzuteilen. Dessen hätte es aber bedurft, weil diese im Rahmen der notwendigen umfassenden Glaubhaftigkeitsbeurteilung der Angaben der Nebenklägerin von Bedeutung sein können (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 457/17, Rn. 4; vom – 1 StR 53/16, Rn. 3).
13c) Der Senat kann trotz der teilgeständigen Einlassung des Angeklagten und der vom Landgericht für die Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin angeführten Umstände nicht ausschließen, dass die Verurteilung auf diesen Mängeln beruht.
143. Die Sache bedarf insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung, weil keine der festgestellten Taten von einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung getragen wird.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:041224B6STR232.24.0
Fundstelle(n):
GAAAJ-90015