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BSG Beschluss v. - B 9 SB 36/24 B

Gründe

1I. Die Klägerin begehrt in der Hauptsache die Feststellung eines Grads der Behinderung (GdB) von mindestens 50.

2Mit dem angefochtenen Urteil hat das LSG einen Anspruch der Klägerin auf einen höheren GdB als 40 verneint. Im Vordergrund stehe bei ihr die Erkrankung auf psychiatrischem Gebiet. Es bestünden bereits Zweifel, ob die mittelgradige Depression der Klägerin zusammen mit ihrer Dysthymia eine schwere Störung iS von Teil B Nr 3.7 der in Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) geregelten Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) darstelle. Bei fehlender ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung könne in der Regel nicht davon ausgegangen werden, dass ein diagnostiziertes seelisches Leiden über eine stärker behindernde psychische Störung hinausgehe und eine schwere Störung darstelle. Jedenfalls seien keine mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu erkennen (Urteil vom ).

3Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Sie macht eine Divergenz und einen Verfahrensmangel geltend.

4II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder ein Verfahrensmangel noch eine Divergenz ordnungsgemäß bezeichnet worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

51. Soweit die Klägerin eine Überraschungsentscheidung geltend macht und damit eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) beanstandet, ergibt sich aus dem von ihr geschilderten Vorgehen des LSG der behauptete Verfahrensmangel nicht.

6Die Klägerin sieht eine Überraschungsentscheidung darin begründet, dass das LSG in der ohne mündlichen Verhandlung gefällten Entscheidung den GdB niedriger bewerten würde als die Sachverständigen E und S. In dieser Hinsicht hätte die Klägerin jedoch darlegen müssen, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts nach dem bisherigen Sach- und Streitstand von keiner Seite als möglich vorausgesehen werden konnte (vgl - juris RdNr 5 mwN). Denn eine Überraschungsentscheidung liegt nur vor, wenn das angegriffene Urteil auf Gesichtspunkte gestützt wird, die bisher nicht erörtert worden sind, und der Rechtsstreit dadurch eine unerwartete Wendung nimmt, mit der auch ein gewissenhafter Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte (stRspr; zuletzt - juris RdNr 6). Entsprechende Darlegungen enthält die Beschwerde nicht. Wie die Klägerin vielmehr selbst einräumt, hat sich das LSG mit seiner Bewertung ihrer seelischen Erkrankung als stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit mit einem GdB von 30 bis 40 der Einschätzung der Versorgungsärzte des Beklagten, insbesondere des Beratungsarztes G, angeschlossen, die also bereits Teil des zwischen den Beteiligten erörterten Streitstands gewesen war.

7Insoweit behauptet die Klägerin auch nicht, dass das LSG im Vorfeld der Entscheidung Äußerungen getätigt habe, die schützenswertes Vertrauen auf ein Urteil zu ihren Gunsten hätten begründen können. Die Bitte um ein Vergleichsangebot an den Beklagten sowie die Abfrage der wirtschaftlichen Bedeutung des Verfahrens im Vorfeld der allein maßgeblichen Beratung und Entscheidung des Verfahrens durch den gesamten LSG-Senat genügt dafür nicht. Ohnehin legt die Beschwerde insoweit nicht dar, ob die genannten Nachfragen des Gerichts der Rechtsauffassung aller Berufsrichter des Senats entsprachen oder - wie nach dem Verfahrensablauf zu erwarten - lediglich der regelmäßig unverbindlichen vorläufigen Einschätzung des zuständigen Berichterstatters (vgl - juris RdNr 19). Ebenso wenig behauptet die Klägerin, dass sie keine Gelegenheit gehabt hätte, sich zum Verfahrensstand und zum Prozessstoff sachgemäß zu äußern.

8Soweit die Klägerin die in ihrem Fall erfolgte Bemessung der Gesamt-GdB-Bewertung durch das LSG aufgrund dessen Auswertung der aktenkundigen medizinischen Berichte und Gutachten angreift, rügt sie die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts. Auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien Beweiswürdigung) kann jedoch eine Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG von vornherein nicht gestützt werden (vgl - juris RdNr 11 mwN).

92. Ebenfalls nicht dargelegt hat die Klägerin eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG. Diese liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung einer Divergenz sind ein oder mehrere entscheidungstragende Rechtssätze aus der Berufungsentscheidung und zu demselben Gegenstand gemachte und fortbestehende abstrakte Aussagen aus einer Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG einander gegenüber zu stellen (stRspr; zB - juris RdNr 8 mwN). Daran fehlt es hier.

10Nach Ansicht der Klägerin enthält das Urteil des LSG folgenden Rechtssatz:"Lässt ein Betroffener eine psychische Erkrankung unbehandelt, besteht eine Beweisvermutung dafür, dass die aus dieser Erkrankung folgenden Funktionsbeeinträchtigungen höchstens als stärkergradig, keinesfalls jedoch als schwergradig im Sinne der Ziff. 3.7 der Anlage Teil B zu § 2 VersMedV einzustufen sind."

11Indes zeigt die Klägerin damit im Kern schon keinen Rechtssatz, sondern eine in das Gewand eines Rechtssatzes gekleidete Regel der Beweis- und damit der Tatsachenwürdigung auf. Fragen tatsächlicher Art eröffnen aber nicht den Zugang zur Revisionsinstanz, weder über die Geltendmachung der grundsätzlichen Bedeutung noch über deren Unterfall einer Divergenz, und zwar selbst dann nicht, wenn dabei Erfahrungssätze allgemeiner Art (wie hier der Lebenserfahrung) betroffen sind. Soweit allgemeine Tatsachen nicht die Qualität und Funktion von Rechtsnormen erreichen, wie es zB für allgemeine Erfahrungssätze angenommen wird, sind sie, so wie hier, weiterhin als "Tatsachen" zu qualifizieren (vgl - juris RdNr 8 mwN zur Rüge der grundsätzlichen Bedeutung; vgl aber auch - juris RdNr 10 f mwN; - RdNr 16 juris).

12Unabhängig davon führt die Klägerin auch nicht aus, warum es auf die von ihr behauptete Divergenz, wie erforderlich, in dem angestrebten Revisionsverfahren überhaupt entscheidungserheblich ankommen würde. Wie aus den von der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Urteilsgründen hervorgeht, hat das LSG zunächst wegen fehlender psychotherapeutischer Behandlung Zweifel daran geäußert, dass bei der Klägerin eine schwere Störung iS von Teil B Nr 3.7 VMG vorliege. Wie das den nachfolgenden Absatz der Urteilsgründe einleitende Adverb "jedenfalls" verdeutlicht, hat das LSG die Ablehnung eines GdB von 50 - unabhängig von der Frage einer unterbliebenen Behandlung - daneben tragend auch auf das Fehlen mittelgradiger sozialer Anpassungsschwierigkeiten der Klägerin gestützt. Statthafte Rügen gegen diese eigenständige Begründung hat sie nicht erhoben. Vielmehr wendet sie sich auch insoweit gegen die mit der Beschwerde, wie ausgeführt, nicht angreifbare Beweiswürdigung des Berufungsgerichts.

13Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

143. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

154. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2025:050325BB9SB3624B0

Fundstelle(n):
FAAAJ-89792