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BSG Urteil v. - B 8 SO 23/22 R

Sozialhilfe - Einmalzahlung aus Anlass der Covid-19-Pandemie - Bewilligung und Auszahlung von Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt - stationäre Pflege - Barbetrag und Bekleidungspauschale

Gesetze: § 144 S 1 SGB 12 vom , § 61 SGB 12, §§ 61ff SGB 12, § 27b Abs 1 S 1 SGB 12, § 27b Abs 2 SGB 12, § 70 S 1 SGB 2

Instanzenzug: SG Freiburg (Breisgau) Az: S 9 SO 2322/21 Urteilvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 2 SO 1183/22 Urteil

Tatbestand

1Die Beteiligten streiten über eine Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie für das erste Halbjahr 2021.

2Der 1935 geborene, schwerbehinderte Kläger ist pflegebedürftig (Pflegegrad 4) und lebt seit Februar 2014 in einer stationären Pflegeeinrichtung. Er bezieht eine deutsche und eine italienische Altersrente, eine Hinterbliebenenrente sowie Wohngeld. Die Beklagte bewilligte ihm Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) in Form der Übernahme der Aufwendungen für das Pflegeheim und der Festsetzung einer Eigenleistung, den Barbetrag sowie die Bekleidungspauschale (Bescheid vom ). Sie änderte die Leistungen "nach dem Dritten und dem Siebten Kapitel des SGB XII" ua zum ab und setzte die Höhe der Eigenleistung ab auf 856,35 Euro, die Höhe des monatlichen Barbetrages auf 120,42 Euro sowie die monatliche Bekleidungspauschale auf 23 Euro (Bescheid vom ) sowie zuletzt "in Änderung von Leistungen nach dem Dritten und dem Siebten Kapitel des SGB XII" die Höhe der Eigenleistung des Klägers ab auf 855,54 Euro fest (Bescheid vom ). Sie zahlte den festgesetzten monatlichen Barbetrag und die Bekleidungspauschale ua im Mai 2021 an den Kläger aus.

3Die Beklagte lehnte eine Einmalzahlung für den Zeitraum vom bis zum aus Anlass der COVID-19-Pandemie mit der Begründung ab, es bestehe angesichts des zu berücksichtigenden Einkommens kein Anspruch auf Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern nur auf Hilfe zur Pflege (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ).

4Die hiergegen erhobene Klage hat Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts <SG> Freiburg vom ; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Baden-Württemberg vom ). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die Anspruchsvoraussetzungen für die Einmalzahlung nach § 144 Satz 1 SGB XII in der bis zum geltenden Fassung seien erfüllt. Ein Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel, hier gemäß § 27b Abs 1 Satz 1 Nr 2, Abs 2 bis 4 SGB XII auf den Barbetrag und die Bekleidungspauschale, habe für den Kläger für den Mai 2021 bestanden. Die Beklagte habe dem Kläger ausdrücklich einen "Barbetrag zur persönlichen Verfügung" bewilligt. Bei den Ansprüchen auf den Barbetrag und die Bekleidungspauschale handle es sich um Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII.

5Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Revision. Da der Kläger keinen materiell-rechtlichen Anspruch auf Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII habe, würden ihm keine auf diesen Normen beruhende Leistungen ausgezahlt. Das einzusetzende Einkommen decke den Bedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts vollständig ab. Bei der bewilligten Leistung handele es sich ausschließlich um Hilfe zur Pflege.

6Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom und das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

7Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

8Er hält die angegriffenen Entscheidungen der Vorinstanzen für zutreffend.

Gründe

9Die zulässige Revision ist unbegründet (§ 170 Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Zu Recht haben SG und LSG entschieden, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie iHv 150 Euro für den Zeitraum bis hat.

10Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom . Eine beratende Beteiligung sozial erfahrener Dritter erfolgt in Baden-Württemberg dabei abweichend von § 116 Abs 2 SGB XII nicht (vgl § 9 Gesetz zur Ausführung des SGB XII <AGSGB XII> vom , GBl Baden-Württemberg 469). Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs 1 und 4 iVm § 56 SGG, gerichtet auf die Gewährung der Einmalzahlung nach § 144 SGB XII, zulässig. Bei der Einmalzahlung handelt es sich um eine Leistung, die zwar vom Anspruch auf Leistungen ua nach dem Dritten Kapitel abhängig ist, aber einmalig und zusätzlich gezahlt wird, sodass es sich um einen abtrennbaren Streitgegenstand handelt (vgl etwa Bundessozialgericht <BSG> vom - B 8/9b SO 22/06 R - SozR 4-3500 § 35 Nr 1, RdNr 9 zur übergangsweise gezahlten Weihnachtsbeihilfe).

11Von Amts wegen zu berücksichtigende Verfahrensmängel liegen nicht vor. Eine notwendige Beiladung des Trägers des Heims, in dem der Kläger stationär aufgenommen ist, gemäß § 75 Abs 2 1. Alt SGG ist nicht erforderlich (vgl zur notwendigen Beiladung im sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnis nur - BSGE 102, 1 = SozR 4-1500 § 75 Nr 9, RdNr 13 ff). Der Kläger macht hier keinen Anspruch auf Übernahme höherer Kosten, die er dem Pflegeheim schuldet, geltend, sondern ausschließlich eine Leistung an sich selbst.

12Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig und verletzten den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte Einmalzahlung iHv 150 Euro gegen die örtlich und sachlich zuständige (§ 97 Abs 1, Abs 4 SGB XII iVm § 2 AGSGB XII, § 98 Abs 2 SGB XII) Beklagte als örtlicher Träger der Sozialhilfe.

13Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 144 SGB XII (idF des Gesetzes zur Regelung einer Einmalzahlung der Grundsicherungssysteme an erwachsene Leistungsberechtigte und zur Verlängerung des erleichterten Zugangs zu sozialer Sicherung und zur Änderung des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes aus Anlass der COVID-19-Pandemie - Sozialschutz-Paket III - vom , BGBl I 335). Danach erhalten Leistungsberechtigte, denen für den Monat Mai 2021 Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII gezahlt werden und deren Regelsatz sich nach der Regelbedarfsstufe 1, 2 oder 3 der Anlage zu § 28 SGB XII ergibt, für den Zeitraum vom bis zum zum Ausgleich der mit der COVID-19-Pandemie in Zusammenhang stehenden Mehraufwendungen eine Einmalzahlung in Höhe von 150 Euro (Satz 1). Leistungsberechtigten, für die die Regelbedarfsstufe 3 gilt, ist diese Leistung zusammen mit dem Barbetrag nach § 27b Abs 3 oder § 27c Abs 3 SGB XII auszuzahlen (Satz 2).

14Diese Voraussetzungen liegen vor. Mit den Entscheidungen über die Höhe der gewährten Leistungen im Mai 2021 (Bescheide vom und vom ) hat die Beklagte dem Kläger ua für Mai 2021 einen Anspruch auf notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen (vgl § 19 Abs 1, § 27b Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGB XII) zuerkannt, der sich hinsichtlich des zu berücksichtigenden Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 3 bemisst. Den sich hieraus ergebenden Barbetrag und die Bekleidungspauschale für den Monat Mai 2021 hat sie entsprechend auch ausgezahlt.

15Aus Sicht des verständigen Empfängers (vgl nur Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Aufl 2020, § 31 RdNr 43 mwN) sind die Entscheidungen - anders als die Beklagte es nunmehr vorträgt - von ihrem objektiven Sinngehalt als Bewilligung sowohl von Leistungen nach dem Siebten Kapitel als auch nach dem Dritten Kapitel zu verstehen. Bereits mit Bescheid vom hat die Beklagte dem Kläger ausdrücklich einen "Barbetrag zur persönlichen Verfügung", damals iHv 107,73 Euro monatlich, bewilligt und sich auf § 27b SGB XII als Rechtsgrundlage bezogen. Diese Bewilligung eines Barbetrages auf der Rechtsgrundlage des § 27b SGB XII hat sie mit den folgenden Bescheiden ausdrücklich wiederholt und die Folgebescheide durchgehend als "Bescheid über die Änderung von Leistungen nach dem 3. und 7. Kapitel SGB XII (§§ 27b, 61 SGB XII)" bezeichnet. Das gilt auch für die Bescheide vom und vom , die ebenfalls über Leistungen "nach dem 3. und 7. Kapitel SGB XII" entscheiden und ausdrücklich ab und damit auch für den Monat Mai 2021 einen Anspruch auf den Barbetrag zur persönlichen Verfügung iHv monatlich 120,42 Euro sowie auf die Bekleidungspauschale iHv monatlich 23 Euro festsetzen. Die darauf folgende Auszahlung von Barbetrag und Bekleidungspauschale an den Kläger selbst kann nur als Teil der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel verstanden werden.

16Der Kläger erhält damit auf Grundlage der bestandskräftigen Bewilligungen nicht ausschließlich Hilfen zur Pflege nach §§ 61 ff SGB XII, was die Voraussetzung des § 144 Satz 1 SGB XII nicht erfüllen würde (vgl Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 144 RdNr 13, Stand 12/2022). Die für Mai 2021 ausgezahlte Geldleistung (Barbetrag und Bekleidungspauschale) ist keine Leistung der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII und auch nicht nur Rechenposten der in der Einrichtung erbrachten Leistungen für den Lebensunterhalt, sondern als Teil des weiteren notwendigen Lebensunterhalts (vgl § 27b Abs 2 iVm Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGB XII) eine Leistung nach dem Dritten Kapitel (vgl zuletzt - SozR 4-3500 § 30 Nr 7 RdNr 13), wie § 144 SGB XII es voraussetzt.

17Unerheblich im Anwendungsbereich des § 144 SGB XII ist, ob die in Satz 1 vorausgesetzte Leistung nach dem Dritten Kapitel materiell zu recht bewilligt worden ist. Die Einmalzahlung knüpft akzessorisch an den Anspruch auf die Sozialhilfe an (vgl Groth, jurisPR-SozR 13/2022 Anm 1), sodass als Voraussetzung für den Anspruch auf Einmalzahlung jedenfalls die bestandskräftig bewilligten Leistungen nach dem Dritten Kapitel und die Auszahlung im Mai 2021 ausreichen (so zu § 70 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - <SGB II> idF des Sozialschutzpakets III Voelzke in Hauck/Noftz, SGB II, K § 70 RdNr 13, Stand 10/2023; anders Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 144 RdNr 16, Stand 12/2022; unklar Meßling in Schlegel/Meßling/Bockholdt, CORONA-GESETZGEBUNG, 2. Aufl 2022, § 3 RdNr 43; Groth in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl 2020, Stand 5/2022, § 144 RdNr 16; Lenze in Bieritz-Harder/Conradis/Palsherm, LPK-SGB XII, 13. Aufl 2024, 144 RdNr 2 f). Es kommt vorliegend damit nicht darauf an, dass die über Jahre geübte Bewilligungspraxis der Beklagten - wie diese auch einräumt - der Rechtsprechung des Senats nicht entspricht. Ob die Leistung rechtmäßig bewilligt worden ist, ist bis zu einer Aufhebung des Bewilligungsbescheides unerheblich. Da eine Bewilligung eines Anspruchs auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel hier erfolgt ist, kann auch offenbleiben, ob im Anwendungsbereich des § 144 SGB XII der Anspruch auf die Einmalzahlung überhaupt einen Anspruch auf diese Leistungen voraussetzt, wie es § 70 SGB II ausdrücklich normiert, oder die Zahlung von Leistungen nach dem Dritten oder Vierten Kapitel des SGB XII genügt.

18Das Ergebnis entspricht auch Sinn und Zweck der Norm. Mit der Einmalzahlung sollte eine pauschale Leistung ohne bestimmte Verwendungsvorgaben ua an Leistungsberechtigte nach dem Dritten Kapitel erbracht werden. Sie sollte so wenig verwaltungsaufwendig wie möglich erbracht werden und (wie im Anwendungsbereich des § 70 SGB II) unabhängig von der Berechnung der Sozialleistung erfolgen (vgl BT-Drucks 19/26542 S 19 und 20). Die Einmalzahlung aus Anlass der COVID-19-Pandemie ist deshalb nach der Gesetzessystematik kein Berechnungsposten in der Bedarfsberechnung für den Juni 2021, sondern auch für Leistungsberechtigte in stationären Einrichtungen als einmalige pauschale Beihilfe ausgestaltet. Zur Umsetzung der Einmalzahlung soll aus Sicht des Gesetzgebers ausschließlich eine maschinelle Umsetzung genügen (BT-Drucks 19/26542 S 16) und gerade keine erneute Prüfung der materiellen Anspruchsberechtigung in jedem Einzelfall erfolgen. Entsprechend ist in § 144 Satz 2 SGB XII vorgesehen, dass Leistungsberechtigten, für die die Regelbedarfsstufe 3 gilt, die Einmalzahlung zusammen mit dem Barbetrag nach § 27b Abs 3 oder § 27c Abs 3 SGB XII auszuzahlen ist. Wenn der Träger - entgegen der materiellen Rechtslage - dem Hilfeempfänger tatsächlich einen Barbetrag bewilligt und auszahlt, gebietet es die beabsichtigte Verwaltungsvereinfachung, für die Gewährung der Corona-Einmalzahlung keine erneute Bedarfsberechnung mit den sich daraus ggf ergebenden Änderungen der Leistungshöhen durchzuführen, sondern ausschließlich auf die Bestandskraft der Leistungsgewährung abzustellen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:211124UB8SO2322R0

Fundstelle(n):
YAAAJ-89725