Instanzenzug: Az: 101 Ks 7/24
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zudem hat es seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
21. Die Verfahrensrüge ist nicht näher ausgeführt und daher gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO unzulässig.
32. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr verneint hat, weisen jedoch Rechtsfehler auf. Dies führt auf die Sachrüge zur Aufhebung des Urteils.
4a) Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
5Der Angeklagte lebte zusammen mit dem späteren Tatopfer und einer weiteren Mitbewohnerin in einer Wohngruppe für beeinträchtigte und benachteiligte Menschen. Zwischen der Schwester des Angeklagten, die dessen Betreuung übernommen hatte, und dem Geschädigten kam es mit der Zeit zu Streitigkeiten, in die der Angeklagte auf der Seite seiner Schwester immer häufiger hineingezogen wurde und die oft nur durch hinzugerufene Einsatzkräfte der Polizei aufgelöst werden konnten.
6Am erteilte die Polizei der Schwester des Angeklagten nach einem vorangegangenen Streit mit den Mitbewohnern des Angeklagten einen Platzverweis. Der Angeklagte und seine Schwester hielten sich daraufhin bis ca. 16.00 Uhr in einem nahegelegenen Café auf. Der Geschädigte berichtete seiner Mitbewohnerin in der Folge aufgebracht, dass der Angeklagte ihm telefonisch Schläge angedroht habe. Diesen Vorfall meldete er gegen 17.00 Uhr persönlich auf einer Polizeiwache. Nach seiner Rückkehr in die Wohngruppe suchte der Geschädigte erneut seine Mitbewohnerin auf und teilte dieser mit, dass er den Angeklagten schlagen wolle. Er begab sich zum Zimmer des Angeklagten und trat und schlug mehrfach gegen die Zimmertür. Dabei rief er: „Was willst du von mir? Lass mich in Ruhe!“ und: „Komm mach die Tür auf, komm doch raus!“ Nachdem der Angeklagte seine Zimmertür geöffnet hatte, versetzte der Geschädigte ihm mindestens einen Faustschlag in das Gesicht. Der Angeklagte, dessen Nase leicht zu bluten begonnen hatte, ergriff daraufhin ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von ca. 9 cm, das sich in seinem Zimmer befand. Aus Verärgerung über die ihm zugefügten Schläge führte er mehrfach mit dem Messer Stichbewegungen in Richtung des Geschädigten aus. Dieser konnte mit seinen Armen und Händen mindestens vier Stiche abwehren. Sodann versetzte der Angeklagte dem Geschädigten gezielt einen wuchtigen Stich mit dem Messer in die linke Brustkorbvorderseite. Anschließend zog er das Messer ein Stück zurück, richtete es neu aus und stieß dieses abermals in den Oberkörper des Geschädigten. Dabei nahm der Angeklagte den Tod des Geschädigten zumindest billigend in Kauf. Der Geschädigte wandte sich daraufhin vom Zimmer des Angeklagten ab und brach auf dem Gemeinschaftsflur zusammen. Er verstarb trotz zeitnaher ärztlicher Versorgung am selben Tag infolge eines Blutvolumenmangelschocks.
7Das Landgericht hat eine Rechtfertigung der tödlichen Stiche als Notwehr gemäß § 32 StGB verneint. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, „dass der Angeklagte die Tat zum Zweck der Verteidigung gegen einen gegenwärtigen Angriff und nicht bloß aus Verärgerung nach einem bereits abgeschlossenen Angriff“ vorgenommen habe. Die Strafkammer sei nicht gehalten, die denktheoretisch günstigsten Tatsachen für den Angeklagten zu unterstellen.
8b) Die Strafkammer hat die Möglichkeit einer Notwehr des Angeklagten im Zeitpunkt der Abgabe der tödlichen Stiche nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
9aa) Nicht rechtswidrig handelt derjenige, der eine Tat begeht, die durch Notwehr oder Nothilfe geboten ist (§ 32 Abs. 1 StGB). Voraussetzung für die Rechtfertigung einer Rechtsgutverletzung als Verteidigung ist das Bestehen einer Notwehrlage zum Zeitpunkt der Tat, die ihrerseits einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff für ein notwehrfähiges Rechtsgut des Täters (Notwehr) oder eines Dritten (Nothilfe) voraussetzt (§ 32 Abs. 2 StGB). Ein gegenwärtiger Angriff dauert nach einer Verletzungshandlung so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneutes Umschlagen in eine Verletzung unmittelbar zu befürchten ist. Dabei kommt es auf die objektive Sachlage an. Entscheidend sind dabei nicht die Befürchtungen des Angegriffenen, sondern die Absichten des Angreifers und die von ihm ausgehende Gefahr einer (neuerlich oder unverändert) fortdauernden Rechtsgutverletzung (vgl. , Rn. 14 mwN). Für die Beurteilung der Notwehrlage ist auf den Zeitpunkt der Tathandlung, mithin des Einsatzes des Tatwerkzeugs, abzustellen, so dass es darauf ankommt, wie sich die Situation in diesem Moment darstellte (vgl. , BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 24, Rn. 17; BeckOK-StGB/Momsen/Savić, 64. Edition, § 32 Rn. 16; MüKo-StGB/Erb, 5. Aufl., § 32 Rn. 34).
10bb) Gemessen daran hält die rechtliche Würdigung der Strafkammer der revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Annahme des Tatgerichts, es seien keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass ein gegenwärtiger Angriff des Geschädigten noch vorgelegen habe, ist nicht tragfähig belegt.
11Die Urteilsgründe lassen offen, ob der von dem Geschädigten begonnene Angriff auf den Angeklagten zum Zeitpunkt des tödlichen Messereinsatzes beendet war. Die Feststellungen belegen nicht, dass der Geschädigte nach seiner eigenen, gegen den Angeklagten gerichteten Tathandlung von diesem abließ und daher eine Gefahr für eine erneute Verletzung der körperlichen Integrität des Angeklagten objektiv nicht mehr bestand. Der Umstand, dass der Geschädigte vor den beiden tödlichen Stichen weitere gegen seinen Körper geführte Stichbewegungen abwehren konnte, belegt nicht zwangsläufig die Beendigung des von ihm zunächst begonnenen Angriffs.
12Die bisherigen Feststellungen stehen auch dem erforderlichen Verteidigungswillen des Angeklagten nicht entgegen. Dass ein – möglicherweise zu Beginn des Einsatzes des Messers gegebener – Verteidigungszweck seines Handelns im Verlauf des Geschehens so sehr in den Hintergrund gerückt sein könnte, dass er gänzlich nebensächlich geworden wäre (vgl. , Rn. 19 mwN), hat die Strafkammer nicht festgestellt.
133. Der Schuldspruch wegen Totschlags kann danach keinen Bestand haben. Der Senat hebt die Feststellungen vollständig auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassende neue Bewertung der Situation zu ermöglichen.
Menges Appl Meyberg
Lutz Herold
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:070125B2STR530.24.0
Fundstelle(n):
HAAAJ-89398