Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 183 Abs. 1 – Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Vortrag des Mehrwertsteuerüberschusses – Begriff ,folgender Zeitraum‘ – Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses – Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit
Leitsatz
Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, der seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, einen bei dieser Aufgabe der Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschuss nicht auf einen folgenden Zeitraum vortragen kann und diesen Betrag nur dadurch zurückerlangen kann, dass er innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit dessen Erstattung beantragt, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden.
Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 183 Abs. 1
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Modexel – Consultores e Serviços SA (im Folgenden: Modexel) und der Autoridade Tributária e Assuntos Fiscais da Região Autónoma da Madeira (Behörde für Steuern und Steuerangelegenheiten der Autonomen Region Madeira, Portugal) (im Folgenden: Steuerverwaltung) wegen eines Antrags auf Vortrag eines bei der Aufgabe einer zuvor ausgeübten wirtschaftlichen Tätigkeit bestehenden Mehrwertsteuerüberschusses nach der Wiederaufnahme dieser wirtschaftlichen Tätigkeit.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“
4 Art. 179 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:
„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.“
5 Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.
Die Mitgliedstaaten können jedoch festlegen, dass geringfügige Überschüsse weder vorgetragen noch erstattet werden.“
6 Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.
Die Mitgliedstaaten legen fest, unter welchen Bedingungen der Steuerpflichtige die Anzeigen elektronisch abgeben darf, und können die elektronische Abgabe der Anzeigen auch vorschreiben.“
7 Art. 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Die Mehrwertsteuererklärung ist innerhalb eines von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegenden Zeitraums abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate nach Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums nicht überschreiten.
(2) Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden.
Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.“
8 In Art. 23 der Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (ABl. 2010, L 268, S. 1) heißt es:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die in Artikel 214 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] genannte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer im elektronischen System nach Artikel 17 dieser Verordnung zumindest in folgenden Fällen als ungültig ausgewiesen wird:
Eine Person, der eine Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer erteilt wurde, hat mitgeteilt, dass sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit im Sinne des Artikels 9 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] aufgegeben hat, oder hat nach Auffassung der zuständigen Steuerbehörde ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben. Eine Steuerbehörde kann insbesondere annehmen, dass eine Person ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben hat, wenn sie ein Jahr nach Ablauf der Frist für die Abgabe der ersten Mehrwertsteuererklärung bzw. die Übermittlung der ersten zusammenfassenden Meldung weder Mehrwertsteuererklärungen abgegeben noch zusammenfassende Meldungen übermittelt hat, obwohl sie dazu verpflichtet gewesen wäre. Die Person hat das Recht, mit anderen Mitteln nachzuweisen, dass eine wirtschaftliche Tätigkeit besteht;
…“
Portugiesisches Recht
9 Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie wurde durch Art. 22 Abs. 4 bis 6 des Código do Imposto sobre o Valor Acrescentado (Mehrwertsteuergesetzbuch) in portugiesisches Recht umgesetzt.
10 Art. 22 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in der Fassung der Lei Nr. 10/2009 (Gesetz Nr. 10/2009) vom (Diário da República, Reihe 1, Nr. 48 vom ) bestimmt:
„…
4. Übersteigt der vorzunehmende Steuerabzug den Betrag, der für die steuerpflichtigen Umsätze in dem entsprechenden Zeitraum geschuldet wird, wird der Überschuss in den folgenden Steuerzeiträumen abgezogen.
5. Besteht nach Ablauf von zwölf Monaten ab dem Zeitraum, in dem der Überschuss begann, noch ein Guthaben zugunsten des Steuerpflichtigen von mehr als 250 Euro, so kann der Steuerpflichtige dessen Erstattung beantragen.
6. Ungeachtet der Bestimmungen des vorstehenden Absatzes kann der Steuerpflichtige vor Ablauf des Zwölfmonatszeitraums eine Erstattung beantragen, wenn die Tätigkeit aufgegeben wird oder der Steuerpflichtige unter die Bestimmungen von Art. 29 Abs. 3 und 4, Art. 54 Abs. 1 oder Art. 61 Abs. 1 fällt, sofern der Erstattungsbetrag mindestens 25 Euro beträgt, sowie wenn das Guthaben zu seinen Gunsten 3 000 Euro übersteigt.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
11 Modexel gab eine Erklärung über die Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit mit Wirkung vom ab und gab in ihrer Mehrwertsteuererklärung für das erste Quartal 2015 ein Mehrwertsteuerguthaben in Höhe von 12 456,20 Euro an.
12 Am nahm Modexel ihre wirtschaftliche Tätigkeit wieder auf. In ihrer ersten Mehrwertsteuererklärung nach dieser Wiederaufnahme brachte Modexel dieses Mehrwertsteuerguthaben in Abzug.
13 Die Steuerverwaltung verweigerte den Abzug dieses Mehrwertsteuerguthabens mit der Begründung, dass Modexel innerhalb von zwölf Monaten nach Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit dessen Erstattung hätte beantragen müssen und dass der fragliche Betrag für Modexel, da sie diesen Antrag nicht gestellt habe, verloren sei.
14 Modexel erhob gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung Klage beim Tribunal Administrativo e Fiscal do Funchal (Verwaltungs- und Finanzgericht Funchal, Portugal), dem vorlegenden Gericht.
15 Das vorlegende Gericht möchte wissen, wie der Begriff „folgender Zeitraum“ in Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszulegen ist. Hierzu führt es aus, dass dieser Ausdruck nach Ansicht der Steuerverwaltung wörtlich so zu verstehen sei, dass er sich auf den Zeitraum beziehe, der im Kalender unmittelbar auf den Zeitraum folge, für den das fragliche Mehrwertsteuerguthaben erklärt worden sei. Nach Ansicht von Modexel könne dagegen wegen Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit des betreffenden Unternehmens ein Zeitraum zwischen dem Zeitraum, für den das fragliche Mehrwertsteuerguthaben erklärt worden sei, und dem Zeitraum, in dem der Abzug dieses Guthabens – nach Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Tätigkeit dieses Unternehmens – vorgenommen werde, liegen.
16 Das Tribunal Administrativo e Fiscal do Funchal (Verwaltungs- und Finanzgericht Funchal) hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist der Begriff „folgender Zeitraum“ in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass er sich wörtlich auf den unmittelbar folgenden kalendarischen Zeitraum bezieht?
Falls nein, darf ein Unternehmen, das seine Tätigkeit eingestellt hat und später wiederaufnimmt, wobei zwischen den beiden Zeitpunkten ein Abstand von etwa 15 Monaten liegt, den Betrag, den es bei Beendigung der Tätigkeit als Überschuss vorgetragen hat, in der ersten Erklärung nach Wiederaufnahme der Tätigkeit abziehen?
Zu den Vorlagefragen
17 Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dessen Aufgabe, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegten Fragen gegebenenfalls umzuformulieren. Er hat insoweit aus dem gesamten vom einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom , M. N. [EncroChat], C‑670/22, EU:C:2024:372, Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).
18 Modexel hat, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, bei der Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit einen Mehrwertsteuerüberschuss erklärt, den sie in der ersten Erklärung nach der Wiederaufnahme ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit von der von ihr geschuldeten Mehrwertsteuer abziehen wollte. Aus der Vorlageentscheidung geht auch hervor, dass die Steuerverwaltung diese Erklärung berichtigt hat, da sie der Ansicht war, dass dieser Überschuss nicht vorzutragen sei, weil Modexel dessen Erstattung innerhalb von zwölf Monaten nach Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit hätte beantragen müssen.
19 In der Formulierung der ersten Frage, die den Fall des Vortrags eines Mehrwertsteuerüberschusses betrifft, erläutert das vorlegende Gericht nicht, dass das betreffende Unternehmen seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben und dann wiederaufgenommen hat. In der Formulierung der zweiten Frage nimmt das vorlegende Gericht nicht auf eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens Bezug, in der ein Unternehmen, das seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben hat, nach einer nationalen Regelung einen Mehrwertsteuerüberschuss nach Wiederaufnahme dieser Tätigkeit nicht vortragen kann, sondern innerhalb von zwölf Monaten nach Aufgabe seiner wirtschaftlichen Tätigkeit seine Erstattung beantragen kann, wobei sich die Berichtigung der Erklärung von Modexel aus der Anwendung dieser Regelung ergibt.
20 Unter diesen Umständen hat sich der Gerichtshof, um dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben, zum einen im Hinblick auf die Auslegung des Begriffs „folgender Zeitraum“ im Sinne von Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Prämisse zu stützen, dass das betreffende Unternehmen seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben und dann wieder aufgenommen hat.
21 Zum anderen ist zu prüfen, ob Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Unternehmen, das seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben hat, nach der Wiederaufnahme dieser Tätigkeit einen Mehrwertsteuerüberschuss nicht vortragen kann, sondern innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt der Aufgabe dieser Tätigkeit dessen Erstattung beantragen kann.
22 Folglich ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, der seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, einen bei dieser Aufgabe der Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschuss nicht auf einen folgenden Zeitraum vortragen kann und diesen Betrag nur dadurch zurückerlangen kann, dass er innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit dessen Erstattung beantragt.
23 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die für die von ihnen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen als Vorsteuer geschuldet wird oder entrichtet wurde, ein Grundprinzip des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems ist (Urteil vom , Vittamed technologijos, C‑293/21, EU:C:2022:763, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Der Steuerpflichtige soll durch die Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst grundsätzlich der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteil vom , Vittamed technologijos, C‑293/21, EU:C:2022:763, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Wie der Gerichtshof wiederholt hervorgehoben hat, ergibt sich daraus, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann. Insbesondere kann dieses Recht für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil vom , Vittamed technologijos, C‑293/21, EU:C:2022:763, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Nach Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird der Vorsteuerabzug vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und ausgeübt wird.
27 Nach der Präzisierung in Art. 183 Abs. 1 dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten, wenn der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer übersteigt, den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vorgetragen lassen oder ihn erstatten.
28 Insoweit ergibt sich erstens, was den Begriff „folgender Zeitraum“ in dieser Bestimmung angeht, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, aus der Verwendung dieses Begriffs im Singular, dass dieser Begriff so zu verstehen ist, dass er den Steuerzeitraum erfasst, der unmittelbar auf den Steuerzeitraum folgt, in dem der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der geschuldeten Mehrwertsteuer übersteigt. Außerdem wird nach Art. 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Dauer eines Steuerzeitraums von jedem Mitgliedstaat innerhalb der in Abs. 2 dieses Artikels festgelegten Grenzen festgelegt, ohne dass sich aus diesem Artikel oder aus Art. 183 dieser Richtlinie ergeben würde, dass diese Dauer oder die Aufeinanderfolge der Steuerzeiträume davon abhängt, dass ein Steuerpflichtiger während eines bestimmten Steuerzeitraums oder eines Teils davon eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt.
29 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht jedoch hervor, dass der Aufschub der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses über mehrere auf den Zeitraum der Entstehung des Überschusses folgende Steuerzeiträume nicht notwendigerweise mit dieser Bestimmung unvereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Mednis, C‑525/11, EU:C:2012:652, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , Philips Orăştie, C‑487/20, EU:C:2022:92, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass gerade das Vorliegen einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Einstufung als Steuerpflichtiger rechtfertigt, dem nach der Mehrwertsteuerrichtlinie das Recht auf Vorsteuerabzug zuerkannt wird (vgl. entsprechend Urteil vom , Fini H, C‑32/03, EU:C:2005:128, Rn. 19). Um dieses Recht in Anspruch nehmen zu können, muss der Betroffene nämlich u. a. „Steuerpflichtiger“ im Sinne dieser Richtlinie sein (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Volkswagen, C‑533/16, EU:C:2018:204, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Nach Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt. Nach Art. 213 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie hat der Steuerpflichtige die Beendigung seiner wirtschaftlichen Tätigkeit der Steuerbehörde anzuzeigen, die dann gemäß Art. 23 Buchst. a der Verordnung Nr. 904/2010 die diesem Steuerpflichtigen erteilte Mehrwertsteuer‑Identifikationsnummer für ungültig erklären muss.
32 Somit unterliegt ein Wirtschaftsteilnehmer, der seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, auch nicht mehr der Mehrwertsteuer. Der Verlust der Eigenschaft eines Wirtschaftsteilnehmers als „Steuerpflichtiger“ aufgrund dieser Aufgabe der Tätigkeit bedeutet, dass die Kontinuität der Steuerzeiträume, die Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie verlangt, nicht gegeben ist, da es für diesen Wirtschaftsteilnehmer weder einen folgenden Zeitraum im Sinne dieser Bestimmung noch – falls er eine wirtschaftliche Tätigkeit wiederaufnimmt – einen vorangegangenen Zeitraum gibt, da die letztgenannte Tätigkeit neu sein wird.
33 Folglich erlaubt Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar den Vortrag eines Mehrwertsteuerüberschusses auf mehrere auf den Zeitraum seiner Entstehung folgende Steuerzeiträume, doch hat die Aufgabe der wirtschaftlichen Tätigkeit des betreffenden Steuerpflichtigen zur Folge, dass es keinen folgenden Zeitraum im Sinne von Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gibt, auf den dieser Überschuss vorgetragen werden kann.
34 Außerdem könnte, wie die Europäische Kommission ausführt, der Umstand, dass einem Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit eingeräumt wird, nach der Wiederaufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit einen bei der Aufgabe der früheren Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschuss vorzutragen, Missbräuchen und der Schaffung künstlicher Gestaltungen durch die Wirtschaftsteilnehmer Vorschub leisten. Ein solcher Wirtschaftsteilnehmer, der aus irgendeinem Grund die in der nationalen Regelung vorgesehene Frist für den Antrag auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses nach Aufgabe seiner wirtschaftlichen Tätigkeit nicht eingehalten hat, könnte nämlich zu dem hauptsächlichen oder ausschließlichen Zweck, den Vortrag dieses Überschusses zu beantragen, die Wiederaufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit behaupten. Eine solche Möglichkeit zum Vortrag könnte auch dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderlaufen. Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne zeitliche Beschränkung auszuüben, diesem Grundsatz zuwiderliefe, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Biosafe – Indústria de Reciclagens, C‑8/17, EU:C:2018:249, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der Umstand, dass Modexel ihre wirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben hatte, zur Folge hatte, dass sie nicht mehr der Mehrwertsteuer unterlag, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist, und dass der Mehrwertsteuerüberschuss nicht auf einen folgenden Zeitraum im Sinne von Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgetragen werden konnte, weil zwischen dem Steuerzeitraum, der dem Monat entspricht, in dem diese Gesellschaft ihre Tätigkeit aufgegeben hat, d. h. Februar 2015, und dem Steuerzeitraum, der dem Monat entspricht, in dem die Gesellschaft ihre Tätigkeit wiederaufgenommen hat, nämlich Mai 2016, keine Kontinuität bestand.
36 Zweitens sieht Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie jedoch, wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, vor, dass die Mitgliedstaaten den Mehrwertsteuerüberschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegten Einzelheiten erstatten können.
37 Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die portugiesische Regelung diese beiden Wege der Erstattung eines Mehrwertsteuerüberschusses grundsätzlich kombiniert, dass aber ein Wirtschaftsteilnehmer, wenn er jede wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, die Erstattung eines solchen Überschusses vor Ablauf eines Zwölfmonatszeitraums – ab dem Zeitraum, in dem der Überschuss entstanden ist – verlangen kann.
38 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht dahin ausgelegt werden kann, dass sich Erstattung und Vortrag gegenseitig ausschließen (Urteil vom , Enel Maritsa Iztok 3, C‑107/10, EU:C:2011:298, Rn. 47).
39 Zum anderen ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Einzelheiten zwar über einen gewissen Spielraum verfügen, dass diese Einzelheiten aber den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird (Urteil vom , technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
40 Insbesondere müssen diese Einzelheiten es dem Steuerpflichtigen erlauben, unter angemessenen Bedingungen den gesamten aus dem Vorsteuerüberschuss resultierenden Forderungsbetrag zu erlangen, was impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist durch eine Zahlung flüssiger Mittel oder auf gleichwertige Weise erfolgt und dass dem Steuerpflichtigen durch die gewählte Methode der Erstattung auf keinen Fall ein finanzielles Risiko entstehen darf (Urteil vom , technoRent International u. a., C‑844/19, EU:C:2021:378, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).
41 Außerdem wird die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität begrenzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Philips Orăştie, C‑487/20, EU:C:2022:92, Rn. 24).
42 So kann eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen, der die Mehrwertsteuererstattung nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Anspruchs auf diese Erstattung zur Folge hat, nicht als unvereinbar mit der von der Mehrwertsteuerrichtlinie errichteten Regelung angesehen werden, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und zum anderen die Ausübung des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteil vom , NARE‑BG, C‑429/23, EU:C:2024:742, Rn. 52).
43 Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob die nationalen Maßnahmen mit dem Unionsrecht vereinbar sind, der Gerichtshof kann dem nationalen Gericht jedoch alle notwendigen Hinweise für die Entscheidung über den bei ihm anhängigen Rechtsstreit geben (Urteil vom , Nestrade, C‑562/17, EU:C:2019:115, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Hinsichtlich des Äquivalenzgrundsatzes ist festzustellen, dass der Gerichtshof über keinerlei Anhaltspunkte verfügt, die Zweifel an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung mit diesem Grundsatz hervorrufen könnten.
45 Zum Effektivitätsgrundsatz geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Modexel nach Ansicht der Steuerverwaltung die Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses innerhalb von zwölf Monaten nach Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit hätte beantragen müssen.
46 Insoweit ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die Frist zu prüfen, innerhalb deren Modexel die Erstattung des bei Aufgabe ihrer Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschusses beantragen musste, wobei die portugiesische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen angegeben hat, dass die im vorliegenden Fall anwendbare Frist vier Jahre betrage. Eine Ausschlussfrist von zwölf Monaten ab dem Zeitraum, in dem der Mehrwertsteuerüberschuss entstanden ist, wie in der Vorlageentscheidung angegeben, scheint es einem Steuerpflichtigen oder einem früheren Steuerpflichtigen nicht praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren, seinen Anspruch auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses geltend zu machen. Dies gilt erst recht für eine Ausschlussfrist von vier Jahren.
47 Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung in keiner Weise hervor, dass Modexel versucht hätte, ihren Anspruch auf Erstattung des bei der Aufgabe ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschusses vor Ablauf dieses Zwölfmonatszeitraums geltend zu machen, und insoweit auf Schwierigkeiten gestoßen wäre. Unter diesen Umständen ist vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht festzustellen, dass Modexel die Ausübung ihres Rechts auf Erstattung der Mehrwertsteuer nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wurde.
48 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, der seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, einen bei dieser Aufgabe der Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschuss nicht auf einen folgenden Zeitraum vortragen kann und diesen Betrag nur dadurch zurückerlangen kann, dass er innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit dessen Erstattung beantragt, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden.
Kosten
49 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:
Art. 183 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, nach der ein Steuerpflichtiger, der seine wirtschaftliche Tätigkeit aufgibt, einen bei dieser Aufgabe der Tätigkeit erklärten Mehrwertsteuerüberschuss nicht auf einen folgenden Zeitraum vortragen kann und diesen Betrag nur dadurch zurückerlangen kann, dass er innerhalb von zwölf Monaten ab dem Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit dessen Erstattung beantragt, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachtet werden.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:1000
Fundstelle(n):
VAAAJ-89217