Instanzenzug: LG Mannheim Az: 1 Ks 304 Js 13846/22
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 50 € verurteilt. Die hiergegen gerichtete Revision der Nebenklägerin, die auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge, hilfsweise gefährlicher Körperverletzung im Amt, zielt, ist zulässig (§ 395 Abs. 1 Nr. 3, § 400 Abs. 1 StPO), aber unbegründet, soweit sie zu Lasten des Angeklagten geführt wird. Die auf die Sachrüge veranlasste Überprüfung des Urteils führt jedoch zu dessen Aufhebung und Zurückverweisung der Sache zu erneuter Verhandlung und Entscheidung, weil das Urteil Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufweist.
I.
2Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
31. Der Geschädigte litt unter verschiedenen psychotischen Symptomen, darunter einer paranoiden Schizophrenie. Zudem bestanden bei ihm seit mehreren Jahren eine Hypertonie und eine Sinustachykardie, die – wie auch die auf die Schizophrenie zurückgehenden Angstsymptome – medikamentös behandelt wurden.
4Am wurde er wegen eines akuten Schubs zum Zentralinstitut für Seelische Gesundheit verbracht. Der behandelnde Psychiater, der Zeuge P. , ordnete die Aufnahme in einer geschlossenen Abteilung an. Der Geschädigte verließ zunächst unbemerkt das Institut, ließ sich aber von dem ihn verfolgenden P. zu einer Polizeiwache begleiten, die er meinte aufsuchen zu müssen. Dort angekommen forderte P. polizeiliche Unterstützung für die Rückführung des Geschädigten wegen Eigengefährdung an. Mit diesem Einsatz wurden die Angeklagten J. und Z. , der zwischenzeitlich rechtskräftig freigesprochen ist, beauftragt.
5Auf eine leichte Berührung durch Z. drehte sich der Geschädigte um und lief in Richtung Marktplatz davon. Die beiden Polizeibeamten und P. folgten dem Geschädigten mit einem Abstand von einigen Metern in den Innenstadtbereich. Als der Angeklagte J. den Geschädigten von hinten an dessen rechtem Arm ergriff, riss dieser sich mit einem Schwung um die eigene Körperachse nach rechts los und erhob die rechte Faust drohend in dessen Richtung. Während der Angeklagte J. zur Abwehr eines tätlichen Widerstands ein Reizstoffsprühgerät aus dem Holster zog, wandte sich der Geschädigte lautstark sprechend ab und lief weiter. Kurz darauf blieb er abrupt stehen, drehte sich rasch wieder zum Angeklagten J. um, hob erneut den rechten Arm und bewegte die geschlossene Faust drohend in Richtung des Gesichtes des Angeklagten J. . Dieser gab daraufhin zur Abwehr des gegen sein Gesicht gerichteten Faustschlags einen kurzen Sprühstoß des Pfeffersprays in Richtung des Geschädigten ab. Ob das Reizgas diesen traf, konnte nicht festgestellt werden. Der Geschädigte entfernte sich nunmehr schnellen Schrittes in Richtung Marktplatz.
6Dort griff der Angeklagte J. dem Geschädigten zum Zwecke der Festhaltung kraftvoll von hinten an den Gesichts- und Halsbereich und versuchte ihn zu Boden zu bringen. Daraufhin drehte sich der Geschädigte abrupt um und versetzte dem Angeklagten in schneller Folge zwei kraftvolle Schläge in den Gesichtsbereich, wodurch dieser eine etwa vier Zentimeter lange Schürfwunde an der linken Wange und eine Hautrötung erlitt. Hierauf ergriff der hinzugetretene Z. den deutlich schwereren Geschädigten mit beiden Händen von hinten im Gesichts- und Halsbereich und brachte diesen zu Boden. Anschließend versuchten beide Polizeibeamte gemeinsam, den sich mit Händen und Füßen der Anhaltung widersetzenden Geschädigten auf dem Boden in Bauchlage zu halten, um diesem Handschließen anzulegen.
7Im weiteren Verlauf hockte Z. über dem Rücken des Geschädigten, sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagernd. Der Angeklagte J. versuchte unterdessen, die Beine des mit dem Bauch auf dem Boden liegenden Geschädigten festzuhalten. Während sich dieser lautstark – auch mit dem Ruf „Richter, Richter" – und unter Einsatz erheblicher Körperkraft gegen seine Fixierung wehrte, begab sich Z. auf die linke Körperseite des Geschädigten und fixierte dessen linken Arm, wobei er nunmehr zeitweise sein rechtes Knie auf den Geschädigten setzte. Der Angeklagte J. kniete sich neben die rechte Seite des Geschädigten auf den Boden und versuchte, dessen rechten Arm zu fixieren, was ihm jedoch wegen der anhaltenden körperlichen Gegenwehr zunächst nicht gelang. Als der Geschädigte seinen Oberkörper aufbäumte und ruckartig den Kopf in Richtung der unbekleideten Arme des Angeklagten J. drehte, versetzte dieser ihm zur Abwehr eines Bissversuchs im Abstand von etwa einer Sekunde zwei Faustschläge in Richtung des Kopfes. Der erste Schlag traf den Geschädigten im Bereich der rechten Gesichtshälfte. Der zweite Schlag, in dessen Ausführung sich der Angeklagte J. bereits befand, als der Geschädigte sein Gesicht nach links zu drehen begann, traf im Bereich der rechten Kopfseite. Anschließend drückte der Angeklagte J. mit seiner rechten Hand den Kopf des Geschädigten auf den Boden, während er mit seiner linken Hand dessen rechtes Handgelenk ergriff. Dem körperlich zunehmend erschöpften Geschädigten gelang es allerdings, sich durch Entziehen seines rechten Armes der Fixierung zu widersetzen, seinen rechten Arm aus dem Haltegriff loszureißen und vor seinen Bauch zu führen, woraufhin ihm der Angeklagte J. , etwa zwanzig Sekunden nach den ersten beiden Schlägen, in kurzer Abfolge zwei weitere Faustschläge in Richtung des Kopfes versetzte, die ihn dort nicht näher aufklärbar trafen. Etwa weitere zwanzig Sekunden später gelang es den Angeklagten gemeinsam, den Geschädigten in Bauchlage mit Handschließen auf dem Rücken zu fixieren.
8Der Geschädigte erlitt infolge der ihm von dem Angeklagten J. versetzten Schläge, was dieser wusste und wollte, mehrere Quetschungen des Fettgewebes im Bereich der rechten Schädelseite. Die Schläge waren geeignet, schmerzhafte, nicht jedoch lebensgefährliche Verletzungen hervorzurufen. Kurz darauf verstarb der Geschädigte an Herzversagen, wobei weder festgestellt werden konnte, wann ein Herzstillstand eintrat, noch auf welcher Ursache der Tod beruhte.
92. Das Landgericht hat die vier Faustschläge des Angeklagten J. gegen den Geschädigten als Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 Satz 1, § 52 StGB) bewertet. Bereits die ersten beiden Faustschläge seien bei bestehender Notwehrlage zur Abwehr des Angriffs durch den Geschädigten weder erforderlich noch geboten gewesen. Der Beißversuch hätte stattdessen durch das mildere Mittel eines Wegdrückens des Kopfes mit der flachen Hand unterbunden werden können. Zwar hätte der Angeklagte bei einem solchen Vorgehen möglicherweise eine weitere Gegenwehr des sich wehrenden Geschädigten nicht sogleich und endgültig unterbinden können. Eine Beschränkung zunächst auf Maßnahmen der Schutzwehr sei dem als Polizeibeamten in Abwehr- und Zugriffstechniken geschulten Angeklagten J. jedoch zumutbar gewesen; gewichtige Verletzungen hätten nicht gedroht. Entsprechendes gelte erst recht für die letzten beiden Faustschläge. Eine Einwirkung des Geschädigten mit seinem rechten Arm oder gar mit einem aus einer Tasche ergriffenen Gegenstand sei nicht unmittelbar zu befürchten gewesen. Es sei dem Angeklagten J. zumutbar gewesen, sich zumindest auf die Einwirkung auf eine weniger empfindliche Körperregion als den Kopf zu beschränken. Die Annahme einer Putativnotwehr scheide aus. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte J. im Sinne von § 17 StGB ohne Unrechtseinsicht gehandelt oder die Grenzen seines Notwehrrechts gemäß § 33 StGB überschritten haben könnte, seien nicht ersichtlich.
10Der gefährlichen Körperverletzung im Amt nach § 340 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB habe sich der Angeklagte nicht strafbar gemacht, weil nicht feststellbar sei, dass er bei Ausführung der Schläge einen Gegenstand in der Hand gehalten habe. Eine Bestrafung wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge komme nicht in Betracht, weil der Geschädigte nicht ausschließbar unabhängig von den ihm versetzten Schlägen infolge eines akuten Herzversagens verstorben sei.
II.
11Die auf die Revision der Nebenklägerin gemäß § 301 StPO vom Revisionsgericht auch auf Rechtsfehler zulasten des Angeklagten vorzunehmende Überprüfung des Urteils deckt durchgreifende Rechtsfehler zu seinem Nachteil auf (1.). Nach § 301 StPO, der über § 401 Abs. 3 Satz 1 StPO hinaus auf Rechtsmittel der Nebenklage Anwendung findet (vgl. Rn. 15; vom – 3 StR 236/08 Rn. 8 und vom – 4 StR 442/14 Rn. 11; Beschlüsse vom – 4 StR 247/90, BGHSt 37, 136, 137; vom – 2 StR 394/95 Rn. 12 und vom – 2 StR 501/00 Rn. 4), wirkt das zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Nebenklägerin hier allein zu seinen Gunsten. Den Angeklagten begünstigende Rechtsfehler, wie von der Revision geltend gemacht, sind nicht gegeben (2.).
121. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Rechtfertigung des Angeklagten durch Notwehr (§ 32 StGB) abgelehnt hat, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Auf der Grundlage der im Urteil getroffenen Feststellungen handelte der Angeklagte bei den ersten beiden Faustschlägen in Notwehr und damit nicht rechtswidrig (a). Die zwei weiteren, etwa zwanzig Sekunden später gesetzten Schläge waren demgegenüber nicht mehr erforderlich. Jedoch hätte sich das Landgericht diesbezüglich mit dem Erlaubnistatbestandsirrtum auseinandersetzen müssen, den der Angeklagte in seiner Einlassung vorgebracht hat (b).
13a) Die ersten beiden vom Angeklagten gegen den Kopf des Geschädigten geführten Faustschläge waren nach den bisherigen – insoweit rechtsfehlerfreien – Feststellungen gerechtfertigt. Eine Strafbarkeit wegen Körperverletzung im Amt scheidet insoweit aus.
14aa) Das Landgericht ist im Ausgangspunkt zutreffend von einer objektiven Notwehrlage ausgegangen. Der Geschädigte griff den Angeklagten an; er hatte die Festnahme zur Überstellung in das psychiatrische Krankenhaus zu dulden.
15(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bestimmt sich die Rechtmäßigkeit – im Rahmen des § 32 Abs. 2 StGB wie auch bezüglich §§ 113, 114 StGB – des Handelns von staatlichen Hoheitsträgern bei der Ausübung von Hoheitsgewalt weder streng akzessorisch nach der materiellen Rechtmäßigkeit des dem Handeln zugrundeliegenden Rechtsgebiets (meist des materiellen Verwaltungsrechts) noch nach der Rechtmäßigkeit entsprechend dem maßgeblichen Vollstreckungsrecht (vgl. , BGHSt 60, 253 Rn. 25 mwN; nach Rn. 26 ff. [bzgl. des eingeschränkten Rechtmäßigkeitsmaßstabs bei § 113 StGB verfassungsrechtlich unbedenklich]). Die Rechtmäßigkeit des hoheitlichen Handelns in einem strafrechtlichen Sinne hängt vielmehr lediglich davon ab, dass „die äußeren Voraussetzungen zum Eingreifen des Beamten“ gegeben sind, „er also örtlich und sachlich zuständig“ ist, er die vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten einhält und der Hoheitsträger sein – ihm gegebenenfalls eingeräumtes – Ermessen pflichtgemäß ausübt. Befindet sich allerdings der Hoheitsträger in einem schuldhaften Irrtum über die Erforderlichkeit der Amtsausübung, handelt er willkürlich oder unter Missbrauch seines Amtes, so ist sein Handeln rechtswidrig (vgl. , aaO Rn. 25 mwN).
16Nach Maßgabe dessen ist im Zusammenhang mit der Rechtmäßigkeit von hoheitlichem Handeln in den Blick zu nehmen, in welcher Lage sich (Polizei-)Vollzugsbeamte bei Ausübung hoheitlicher Tätigkeit befinden (vgl. Rn. 28 mwN). Diese müssen sich in der konkreten Situation in der Regel unter zeitlichem Druck auf die Ermittlung eines äußeren Sachverhalts beschränken, ohne die Rechtmäßigkeit des eigenen Handelns auf der Grundlage des materiellen Rechts oder des (Verwaltungs-)Vollstreckungsrechts bis in alle Einzelheiten klären zu können. Die spezifische Auslegung der Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB bei hoheitlichem Handeln trägt auch dem Umstand Rechnung, dass die eingesetzten Vollzugsbeamten im Dienst der staatlichen Ordnung tätig werden, die wiederum die Sicherung der Rechtsordnung insgesamt gewährleistet. Hieraus ergeben sich zwar – worauf die Nebenklage zutreffend hinweist – auch Fürsorgepflichten. Staatliches Handeln, erst recht bei Anwendung staatlichen Zwanges gegenüber dem Bürger, muss verhältnismäßig sein. Soweit es die konkreten Umstände erlauben, haben Vollzugsbeamte gerade bei Zwangsmaßnahmen „fürsorgliche Zurückhaltung“ – als Ausfluss des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Rechtsbindung der Verwaltung (dazu , NJW 1991, 3023) – zu wahren. Überhöhte Anforderungen an denkbare Möglichkeiten eines Alternativverhaltens der Vollzugsbeamten dürfen dabei jedoch nicht gestellt werden. Die Entlastung des Vollzugsbeamten von dem Risiko, dass sich bei einer ex post erfolgenden Prüfung der Rechtmäßigkeit seines hoheitlichen Handelns am Maßstab meist des materiellen Verwaltungsrechts oder des Verwaltungsvollstreckungsrechts seine ex ante unter den konkreten Bedingungen seines Handelns vorgenommene Rechtmäßigkeitsbeurteilung als unzutreffend erweist und dem von der Maßnahme betroffenen Bürger dann eine gegebenenfalls gewaltsame Verteidigung gegen den Hoheitsträger offen stünde, dient gerade im demokratischen Rechtsstaat der Sicherung der Entschlusskraft der eingesetzten Vollzugsbeamten (vgl. Rn. 30 mwN).
17(2) Nach diesen Maßstäben handelte der Angeklagte J. bei der Fixierung des Geschädigten zum Zweck der Rückführung in das Klinikum rechtmäßig.
18Der behandelnde Arzt des Geschädigten hatte die beiden Polizeibeamten auf das Vorliegen eines floriden Schubs der paranoiden Schizophrenie hingewiesen und den Geschädigten als eigengefährdet eingestuft. Die von den Polizisten selbst gemachten Wahrnehmungen ließen sich damit ohne weiteres in Einklang bringen. Der Geschädigte zeigte sich aggressiv und verwirrt. Er hatte dem Angeklagten J. zwei kraftvolle Schläge ins Gesicht versetzt, war auf die befahrene Straße gelaufen und verhielt sich auch sonst desorientiert. Zum Schutz seiner eigenen Person sowie zum Schutze Dritter war daher seine vorübergehende Ingewahrsamnahme zur Rückführung in das Klinikum unerlässlich (vgl. zum Ganzen § 16 Abs. 1 PsychKHG BW, § 63 Abs. 2, § 64 Abs. 1, §§ 65, 66 Abs. 1 Satz 1, 2, 3 PolG BW).
19bb) Die Annahme des – rechtsfehlerfrei von einer Verteidigungshandlung ausgehenden – Landgerichts, die konkrete Verteidigung sei nicht im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen, ist allerdings rechtsfehlerhaft.
20(1) Eine in einer objektiven Notwehrlage verübte Tat ist nach § 32 Abs. 2 StGB gerechtfertigt, wenn sie zu einer sofortigen und endgültigen Abwehr des Angriffs führt und es sich bei ihr um das mildeste Abwehrmittel handelt, das dem Angegriffenen in der konkreten Situation zur Verfügung stand (st. Rspr.; vgl. Rn. 8, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 22 mwN; vom – 4 StR 347/13 Rn. 21 und vom – 5 StR 432/95, BGHSt 42, 97, 100). Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden; dabei kommt es maßgeblich auf den konkreten Ablauf von Angriff und Abwehr, auf die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und auf die Verteidigungsmöglichkeiten des Angegriffenen an. Auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel muss der Angegriffene nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auf einen Kampf mit ungewissem Ausgang braucht er sich nicht einzulassen (st. Rspr.; vgl. Rn. 11 und vom – 1 StR 582/87, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 2; Beschlüsse vom – 2 StR 311/12 Rn. 6; vom – 1 StR 449/13 Rn. 6 und vom – 5 StR 421/18 Rn. 8; jew. mwN). Angesichts der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos dürfen an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden (vgl. Rn. 8 und Beschluss vom – 2 StR 363/18 Rn. 10 mwN).
21(2) Danach durfte sich der Angeklagte mittels der vom Landgericht festgestellten Faustschläge verteidigen. Nachdem es ihm gemeinsam mit seinem Streifenpartner trotz erheblicher Kraftanstrengung nicht gelungen war, den gewichts- und kräftemäßig überlegenen Geschädigten nach üblichem polizeilichen Vorgehen auf dem Boden zu halten, durfte er von einer nicht ohne weiteres beherrschbaren „Kampfeslage“ ausgehen. Diese war von der wirksamen Gegenwehr des akut schizophrenen Geschädigten und seiner unberechenbaren Aggression bestimmt, die in dem Bissversuch gegen den Angeklagten eskalierte. Soweit das Landgericht selbst von einem höchst dynamischen, in Sekundenbruchteilen ablaufenden Geschehen ausgeht, erscheint naheliegend, dass die Gelegenheit zum Nachdenken über mildere Mittel für den Angeklagten nicht bestand. Dies in seine Würdigung einzubeziehen, hat das Landgericht versäumt und damit im Hinblick auf die kaum mögliche Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos an die in einer zugespitzten Situation zu treffende Entscheidung des Angeklagten für oder gegen eine weniger gefährliche Verteidigungshandlung überhöhte Anforderungen gestellt. Soweit es darauf abstellt, dass der Angriff „nur“ auf die körperliche Unversehrtheit des Angeklagten zielte, ändert dies nichts am objektiven Bestehen einer Notwehrlage, die ihn berechtigte, zur Beendigung dieses Angriffs ein sofort wirksames Mittel einzusetzen.
22Die Annahme des Landgerichts, es sei dem Angeklagten im Sinne eines milderen Mittels gleichermaßen wirksam möglich gewesen, sich zur Abwehr des Bissversuchs auf ein Herabdrücken des Kopfes auf den Boden zu beschränken, wird zudem von den Feststellungen nicht getragen. Diese belegen nicht, dass dem Angeklagten eine solche Handlungsalternative überhaupt zur Verfügung stand. Denn der Versuch sogar beider Polizisten gemeinsam, den Geschädigten auf dem Boden zu halten, war bis zu dessen Bissversuch erfolglos geblieben. Hinzu kommt, dass offenbleibt, ob ein Herabdrücken des Kopfes auf den Boden überhaupt ein vergleichsweise milderes Mittel gewesen wäre. Denn aufgrund der hohen Dynamik der Kopfbewegung des Geschädigten unter hoher Kraftentfaltung hätte es zur Angriffsabwehr eines mindestens ebenso kraftvollen Herabdrückens des Kopfes auf den Boden bedurft. Dazu, ob der damit verbundene Aufschlag des Kopfes auf dem Asphalt im Vergleich zu den Faustschlägen ein nachweislich milderes Mittel gewesen wäre, verhalten sich die Urteilsgründe nicht.
23cc) Die Notwehrhandlung war auch geboten. Der Angeklagte war nicht auf Maßnahmen der Schutzwehr beschränkt.
24(1) Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere, sozialethisch begründete Umstände sein Notwehrrecht einschränken. Die Verteidigung ist dann nicht geboten, wenn von dem Angegriffenen aus Rechtsgründen die Hinnahme der Rechtsgutsverletzung oder eine eingeschränkte und risikoreichere Verteidigung zu verlangen ist, etwa, wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat (vgl. Rn. 36; Beschluss vom – 2 StR 252/17 Rn. 10). Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte (vgl. Rn. 10). Zwar kann bei der Gewichtung von Bedrohungen und einfachen körperlichen Attacken gegen Polizeibeamte in den Blick zu nehmen sein, dass diese darin ausgebildet sind, professionell mit Konfliktsituationen umzugehen, und zumeist über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen. Dies bedeutet aber nicht, dass das Notwehrrecht von Polizeibeamten gegenüber Dritten allein auf Grund ihrer beruflichen Stellung eingeschränkt ist. Das zulässige Maß der erforderlichen und gebotenen Verteidigung im Sinne des § 32 Abs. 2 StGB wird vielmehr auch bei Polizeibeamten durch die konkreten Umstände des Einzelfalles bestimmt, insbesondere durch die Art des Angriffs, die Gefährlichkeit des Angreifers und die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Abwehrmittel (vgl. dazu Rn. 17 und vom – 5 StR 466/18 Rn. 15 mwN; Beschlüsse vom – 5 StR 464/22 und vom – 4 StR 565/16 Rn. 10).
25(2) Die Wertung des Landgerichts, dem Angeklagten sei die Beschränkung auf Schutzwehr unter Hinnahme des Fortdauerns des Angriffs zumutbar gewesen, weil er sich als geschulter Polizeibeamter dem ersichtlich akut psychotischen Geschädigten gegenübergesehen habe, der Schließversuch erst einige Sekunden angedauert habe und ein Biss durch den Geschädigten keine „gewichtige Verletzung“ (UA S. 55) habe befürchten lassen, ist mit diesen Grundsätzen nicht zu vereinbaren. Der Angeklagte hatte bis zum Zeitpunkt des Angriffs alle denkbaren Maßnahmen ergriffen, den Geschädigten unverletzt zum Klinikum zurück zu bringen, ihn vor drohender Eigengefährdung zu schützen und die Situation zu deeskalieren. Zumutbare Möglichkeiten, dem Bissversuch des Geschädigten auszuweichen oder sich ebenso wirksam zurückhaltender zu verteidigen, bestanden nicht. Vor allem geht die Annahme des Landgerichts fehl, der Angeklagte sei als geschulter Polizeibeamter gehalten gewesen, eine Verletzung seiner körperlichen Integrität durch einen Biss des Geschädigten mit ungewissen Folgen hinzunehmen; eine solche Einschränkung seines Notwehrrechts allein aufgrund seiner beruflichen Stellung besteht nicht. Die gesundheitliche Konstitution des Geschädigten führte gleichfalls nicht zu einer Beschränkung des Notwehrrechts; die – allein maßgebliche – objektive Gefährlichkeit des Angriffs war hierdurch nicht gemindert.
26b) Bezüglich der letzten beiden Schläge tragen die Feststellungen eine Erforderlichkeit der Notwehrhandlung zwar nicht. Da das Landgericht aber die Einlassung des Angeklagten, er sei davon ausgegangen, der Geschädigte habe einen gefährlichen Gegenstand hervorholen wollen, nicht gewürdigt und deshalb einen etwaigen analog § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB zum Ausschluss des Vorsatzes führenden Erlaubnistatbestandsirrtum nicht in den Blick genommen hat, hat die Verurteilung auch insoweit keinen Bestand.
27aa) Entgegen der Ansicht des Landgerichts befand sich der Angeklagte objektiv weiterhin in einer Notwehrlage. Denn der von dem sich weiterhin wehrenden Geschädigten ausgehende Angriff hatte noch nicht geendet.
28Hat der Angreifer bereits eine Verletzungshandlung begangen, dauert der Angriff so lange an, wie eine Wiederholung und damit ein erneuter Umschlag in eine Verletzung unmittelbar nach den objektiven Umständen zu befürchten ist (vgl. Rn. 12; Beschluss vom – 2 StR 535/91, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Angriff 5).
29So lag es hier. Die weiteren Schläge erfolgten zwanzig Sekunden nach dem Bissversuch des Geschädigten, der seinen aktiven Widerstand gegen die Fixierung nicht aufgegeben hatte. Während des anhaltend dynamischen Kampfgeschehens war es dem Geschädigten gelungen, seinen rechten Arm aus dem Griff des Angeklagten zu lösen, der Einlassung des Angeklagten zufolge nicht ausschließbar mit dem Ziel, mit „einem aus einer Tasche ergriffenen Gegenstand“ (UA S. 55) auf den Angeklagten J. einzuwirken. Damit dauerte der Angriff an.
30bb) Die weiteren Schläge des Angeklagten waren indes nicht mehr erforderlich, um den Angriff wirksam abzuwehren. Nach den Feststellungen war der Geschädigte „zunehmend erschöpft“ (UA S. 9). Seine Stärke und Gefährlichkeit hatten für den Angeklagten erkennbar abgenommen. Auf das bloße Entziehen des Arms mit gegen den Kopf gerichteten Faustschlägen zu reagieren, war zur Unterbindung der damit einhergehenden Gefahr nicht erforderlich. Dass der Geschädigte tatsächlich einen Gegenstand in der Hose verborgen hielt und diesen ergreifen wollte, hat das Landgericht nicht festgestellt. Nach objektiver Lage hätte daher ein Fixieren ausgereicht, etwa ein Herabdrücken oder Ergreifen des Armes. Eine möglicherweise bestehende Fehlvorstellung des Angeklagten über die von dem Geschädigten ausgehende Gefahr ändert daran nichts (vgl. Rn. 12 und vom – 1 StR 99/05).
31cc) Das Landgericht hätte aber aufklären müssen, ob der Angeklagte tatsächlich über eine unmittelbar bevorstehende, erneute Intensivierung des bereits in Gang befindlichen rechtswidrigen Angriffs irrte, indem er glaubte, diesem ohne die weiteren Schläge nicht mehr begegnen zu können. Ein solcher Irrtum würde nicht das Bestehen der Notwehrlage, aber die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung betreffen. Das Landgericht wäre daher gehalten gewesen, Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten zu treffen. Ob seine Einlassung als Schutzbehauptung zu bewerten ist oder er sich tatsächlich im Irrtum befand, durfte nicht offenbleiben.
32(1) Hält sich der Angegriffene in einer Notwehrlage im Rahmen dessen, was in der von ihm angenommenen Situation zur Abwendung des Angriffs objektiv erforderlich und geboten gewesen wäre, so beurteilt sich sein Handeln zunächst allein nach den Grundsätzen des Erlaubnistatbestandsirrtums. Seine Bestrafung wegen vorsätzlicher Tatbegehung ist nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB ausgeschlossen. Bei Vermeidbarkeit des Irrtums kommt gemäß § 16 Abs. 1 Satz 2 StGB die Bestrafung wegen einer Fahrlässigkeitstat in Betracht (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 166/19 Rn. 13; vom – 1 StR 449/13 Rn. 9 und vom – 3 StR 450/10 Rn. 12; jew. mwN). Zu prüfen bleibt dann indes, ob der (vermeidbare) Irrtum auf einem der in § 33 StGB genannten asthenischen Affekte – Verwirrung, Furcht oder Schrecken – beruht; denn hierdurch entfiele schuldhaftes Handeln.
33Ist sich der Angegriffene demgegenüber bewusst, dass seine Verteidigungshandlung über das hinausgeht, was zur Abwehr des (angenommenen) Angriffs im Sinne von § 32 Abs. 2 StGB erforderlich gewesen wäre, so bleibt es bei einer vorsätzlichen rechtswidrigen Tat. Indes kommt ihm auch in diesem Falle der Schuldausschließungsgrund des § 33 StGB dann zugute, wenn er aus den in der Vorschrift genannten Gründen zur Überschreitung der Grenzen der Notwehr hingerissen worden ist (vgl. Rn. 12 mwN).
34(2) Nach der im Urteil wiedergegebenen Einlassung des Angeklagten stellte dieser sich einen Angriff des Geschädigten vor, der im Falle seines Vorliegens die weiteren Faustschläge erfordert hätte. Dem Urteil lässt sich jedoch weder hinreichend sicher entnehmen, dass das Landgericht dieser Einlassung folgen wollte, noch, dass es insoweit von einer unwahren Schutzbehauptung ausgegangen ist. Infolge fehlender Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten ist dem Senat die Rechtsprüfung an dieser Stelle verwehrt. Im Übrigen kann der Senat auch die – nur formelhaft begründete – Ablehnung des § 33 StGB nicht nachvollziehen; denn auch dafür hätte es Feststellungen zur inneren Tatseite bedurft.
35c) Diese fehlende Auseinandersetzung mit einem Erlaubnistatbestandsirrtum bedingt bei dem einheitlichen Tatgeschehen (§ 52 Abs. 1 Alternative 2 StGB) die Aufhebung sämtlicher Feststellungen (§ 353 Abs. 2 StPO).
36d) Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass infolge der Aufhebung des Urteils allein zugunsten des Angeklagten im zweiten Rechtsgang das – sich ausschließlich auf den Rechtsfolgenausspruch, nicht den Schuldspruch, beziehende – Verbot der Schlechterstellung zu beachten sein wird (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO).
372. Soweit die Nebenklage die Verurteilung des Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge (§ 340 iVm § 227 Abs. 1 StGB) und gefährlicher Körperverletzung im Amt (§ 340 iVm § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) anstrebt, lässt die Überprüfung des Urteils auf die Sachrüge keinen Rechtsfehler zugunsten des Angeklagten erkennen.
38a) Eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen Körperverletzung im Amt mit Todesfolge scheidet nach den Feststellungen des Landgerichts aus.
39aa) Die Würdigung des Landgerichts, die Körperverletzungshandlungen des Angeklagten seien für den Tod des Geschädigten nicht ursächlich geworden, ist frei von Rechtsfehlern. Die dafür maßgebenden Feststellungen zum Geschehensablauf fußen auf einer revisionsrechtlich beanstandungsfreien Beweiswürdigung, insbesondere auf der Würdigung der Angaben mehrerer – voneinander unabhängiger – Sachverständiger. Danach ist der Geschädigte nicht ausschließbar unabhängig von der tatgegenständlichen Behandlung infolge akuten Herzversagens verstorben.
40bb) Die darüberhinausgehende Beanstandung der Revision, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft versäumt, bei der Prüfung des Zurechnungszusammenhangs – unabhängig von den festgestellten Schlägen – auf den vom Angeklagten zu verantwortenden Erregungszustand des Geschädigten abzustellen, dringt ebenfalls nicht durch. Das Festhalten und Fixieren des Geschädigten stellen, wie ausgeführt, rechtmäßige Vollstreckungshandlungen zur zwangsweisen Durchsetzung des Staatswillens dar, die dem Angeklagten nicht vorwerfbar ist.
41b) Im Ergebnis ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch eine gefährliche Körperverletzung im Amt mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB) abgelehnt. Der Revision der Nebenklägerin ist zwar zuzugeben, dass das Landgericht diese Tatvariante der gefährlichen Körperverletzung im Rahmen seiner Rechtsausführungen nicht ausdrücklich erörtert hat. Im Kontext mit seinen Ausführungen zur Beweiswürdigung ergibt sich hieraus jedoch kein Rechtsfehler. Denn im Zusammenhang damit legt das Landgericht bei der Würdigung der Angaben der Sachverständigen detailliert dar, dass und weshalb der Angeklagte dem Geschädigten (nur) „leichte Schläge“ versetzt habe. Die Ausführungen lassen keinen Zweifel daran, dass die festgestellten Schläge hier objektiv nicht geeignet waren, einen lebensgefährdenden Zustand herbeizuführen. Da sich das Landgericht im Zusammenhang mit der Todesursache eingehend mit den bei dem Geschädigten festgestellten Befunden und der Art der Schläge befasst hat, kann der Senat auch ausschließen, dass es verkannt haben könnte, dass es für das Merkmal der „lebensgefährdenden Behandlung“ nicht auf die Gefährlichkeit der eingetretenen Verletzung, sondern maßgebend auf die Gefährlichkeit der Tathandlung ankommt (st. Rspr.; etwa Rn. 16). Die Feststellungen, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Faustschlägen gegen den Kopf für die Entscheidung über das Vorliegen einer gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erforderlich sind (vgl. Rn. 6; vom – 2 StR 38/13 Rn. 7; vom – 2 StR 105/07 Rn. 5 und vom – 2 StR 615/89, BGHR StGB § 223a Abs. 1 Lebensgefährdung 5; Beschlüsse vom – 2 StR 267/22 Rn. 9; vom – 6 StR 393/21; vom – 2 StR 520/12 Rn. 3 f. und vom – 2 StR 60/12, BGHR StGB § 224 Abs. 1 Nr. 2 Werkzeug 8), hat das Landgericht getroffen. Eine das Leben gefährdende Behandlung durch die Faustschläge des Angeklagten liegt danach hier nicht vor. Aus der (rechtmäßigen) Fixierung als solcher kann sich der Tatbestand aus den dargelegten Gründen nicht ergeben.
Jäger Wimmer Leplow
Allgayer Welnhofer-Zeitler
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:171024U1STR285.24.0
Fundstelle(n):
WAAAJ-89046