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BVerwG Urteil v. - 11 A 18/23

Tatbestand

1Die Kläger wenden sich gegen die Planfeststellung einer Höchstspannungsfreileitung.

2Der Planfeststellungsbeschluss vom genehmigt die Errichtung und den Betrieb einer 380 kV-Höchstspannungsfreileitung im Abschnitt "Garrel_Ost - Cappeln_West". Die Leitung ist Abschnitt 3 des als Nr. 6 in den Bundesbedarfsplan aufgenommenen Vorhabens "Höchstspannungsleitung Conneforde - Landkreis Cloppenburg - Merzen/Neuenkirchen; Drehstrom, Nennspannung 380 kV".

3Der Kläger zu 1 ist Eigentümer eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks im Außenbereich von ... (..., ..., ...), in dem er mit den weiteren Klägern wohnt. Das Grundstück wird für das Vorhaben nicht unmittelbar in Anspruch genommen. Die planfestgestellte Trasse verläuft im Spannfeld zwischen den Masten 40 und 41 in ca. 200 m Entfernung. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich ein anderes Wohngebäude, das ebenfalls ca. 200 m von ihr entfernt ist.

4Die Kläger befürchten Einschränkungen bei der Nutzung ihres Gartens. Sie rügen, es sei von einer Engstelle auszugehen, die Anlass für ein Erdkabel hätte geben müssen. Bevor nicht alle Bedenken in Bezug auf elektrische und magnetische Felder ausgeräumt seien, dürfe der Bau von Überland-Starkstromtrassen in einem Abstand von 200 m zu einem Wohnhaus nicht erlaubt werden. Die Freileitung sei den Naturgewalten bei Unwettern infolge des Klimawandels schutzlos ausgeliefert. Technisch vorzugswürdig seien - neben Erdkabeln - wassergetriebene Gleichstrom-Minimal-Trassen.

5Die Kläger beantragen jeweils,

den Planfeststellungsbeschluss der Beklagten vom für die Errichtung und den Betrieb der 380-kV-Leitung Conneforde - Landkreis Cloppenburg - Merzen/Neuenkirchen, Planfeststellungsabschnitt 3: Umspannwerk Garrel_Ost - Umspannwerk Cappeln_West aufzuheben,

hilfsweise,

den Planfeststellungsbeschluss für rechtswidrig und nicht vollziehbar zu erklären,

weiter hilfsweise,

die Beklagte unter teilweiser Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses zu verpflichten, über Schutzvorkehrungen zur Wahrung des Gesundheitsschutzes und zur Verhinderung einer erheblichen Beeinträchtigung der Wohn-, Lebens- und Freizeitqualität und zum Schutz des Grundeigentums des Klägers zu 1, insbesondere vor Immissionen und Inanspruchnahme, sowie im Hinblick auf die Ermittlungs- und Bewertungsanforderungen im Rahmen einer Umweltverträglichkeitsuntersuchung sowie den Anforderungen einer hierauf beruhenden Abwägung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

6Die Beklagte und die Beigeladene beantragen jeweils,

die Klagen abzuweisen.

7Sie verteidigen den Planfeststellungsbeschluss.

Gründe

8Das Bundesverwaltungsgericht ist gemäß § 50 Abs. 1 Nr. 6 VwGO, § 6 Satz 1 BBPlG i. V. m. Nr. 6 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG für die Entscheidung über die Klagen zuständig.

9Die Klagen sind unbegründet. Die Kläger können weder die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses noch die Feststellung seiner Rechtswidrigkeit und Nichtvollziehbarkeit oder die erneute Entscheidung über mögliche Schutzmaßnahmen zu ihren Gunsten verlangen. Der Planfeststellungsbeschluss verletzt sie nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).

101. Weil die Kläger nicht von der enteignungsrechtlichen Vorwirkung des Planfeststellungsbeschlusses betroffen sind, haben sie keinen aus Art. 14 Abs. 3 GG abgeleiteten Anspruch auf gerichtliche Überprüfung der objektiven Rechtmäßigkeit des Planfeststellungsbeschlusses (sog. Vollüberprüfungsanspruch). Sie können nur die Verletzung gerade sie schützender Normen des Verfahrensrechts und des materiellen Rechts sowie eine nicht ordnungsgemäße Abwägung ihrer eigenen schutzwürdigen privaten Belange rügen ( 4 A 10.19 - NVwZ 2021, 1615 Rn. 13 m. w. N.). Die Prüfung ist auf den Prozessstoff beschränkt, den die Kläger durch die binnen der Frist nach § 6 Satz 1 UmwRG eingegangene Klagebegründung vom bestimmt haben (vgl. 11 A 6.23 - NVwZ 2024, 1508 Rn. 10 m. w. N.). Das fristgerechte Vorbringen muss den Anforderungen des § 67 Abs. 4 VwGO genügen, also aus sich heraus hinreichend verständlich sein, den Gegenstand der Rüge deutlich machen und rechtlich einordnen (vgl. 4 A 14.19 - BVerwGE 173, 132 Rn. 47 und vom - 7 A 11.23 - juris Rn. 47).

112. Der Planfeststellungsbeschluss geht zutreffend davon aus, dass die Kläger keinen schädlichen Umwelteinwirkungen durch elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder der 380-kV-Leitung ausgesetzt sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 3 Abs. 1 BImSchG).

12Die Anforderungen zum Schutz der Allgemeinheit und der Nachbarschaft vor schädlichen Umwelteinwirkungen und zur Vorsorge gegen schädliche Umwelteinwirkungen durch elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder werden durch die Verordnung über elektromagnetische Felder (26. BImSchV) konkretisiert ( 4 A 5.18 - NVwZ-RR 2019, 944 Rn. 87). Im Einwirkungsbereich einer Anlage - d. h. in dem Bereich, in dem sie einen signifikanten, sich von der Hintergrundbelastung abhebenden Immissionsbeitrag verursacht (vgl. Nr. 2.5 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Durchführung der Verordnung über elektromagnetische Felder vom <26. BImSchVVwV> und LAI-Durchführungshinweise, II.3.1) - dürfen die im Anhang 1a der 26. BImSchV genannten Grenzwerte an Orten, die zum nicht nur vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt sind, bei höchster betrieblicher Anlagenauslastung nicht überschritten werden, wobei Niederfrequenzanlagen mit einer Frequenz von 50 Hertz die Hälfte des in Anhang 1a genannten Grenzwertes der magnetischen Flussdichte nicht überschreiten dürfen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 der 26. BImSchV). Die maßgeblichen Grenzwerte für die 380-kV-Freileitung betragen daher in Bezug auf die elektrische Feldstärke 5 kV/m und in Bezug auf die magnetische Flussdichte 100 µT.

13Nach den Berechnungen der Beigeladenen hält die planfestgestellte Leitung diese Grenzwerte ein. Selbst im südöstlichen Eckbereich des Grundstücks wird lediglich eine elektrische Feldstärke von 0,0 kV/m und eine magnetische Flussdichte von 0,4 µT erreicht (Anlage 8 zum Immissionsbericht vom <Anlage 11 des Planfeststellungsbeschlusses>, S. 85 f.). Gegen die Richtigkeit der Berechnungen sind keine Einwände erhoben worden oder ersichtlich.

14Die Beklagte durfte von der Verfassungsmäßigkeit der Grenzwerte ausgehen (PFB S. 162, 167 f.). Der Senat schließt sich insoweit der ständigen Rechtsprechung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts an (vgl. 4 A 1.13 - BVerwGE 148, 353 Rn. 51 f., vom - 4 A 5.14 - BVerwGE 154, 73 Rn. 188, vom - 4 A 13.18 - juris Rn. 44 und vom - 4 A 10.19 - NVwZ 2021, 1615 Rn. 46). Die Kläger legen keine neuen Aspekte oder wissenschaftliche Erkenntnisse dar, die Anlass für eine Abweichung von dieser Rechtsprechung geben würden.

153. Die Kläger zeigen keine Verletzung ihres Rechts auf gerechte Abwägung ihrer privaten Belange auf.

16Nach § 43 Abs. 3 Satz 1 EnWG sind bei der Planfeststellung die von dem Vorhaben berührten öffentlichen und privaten Belange im Rahmen der Abwägung zu berücksichtigen. Das Abwägungsgebot verlangt, dass - erstens - eine Abwägung überhaupt stattfindet, dass - zweitens - in die Abwägung an Belangen eingestellt wird, was nach Lage der Dinge eingestellt werden muss, und dass - drittens - weder die Bedeutung der öffentlichen und privaten Belange verkannt noch der Ausgleich zwischen ihnen in einer Weise vorgenommen wird, die zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange außer Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die zur Planung ermächtigte Stelle in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendig für die Zurückstellung eines anderen entscheidet (stRspr, vgl. 4 C 21.74 - BVerwGE 48, 56 <63 f.> und vom - 4 A 5.17 - BVerwGE 161, 263 Rn. 73).

17a) Die Beklagte hat erkannt, dass elektrische und magnetische Felder auch unterhalb der durch die Grenzwerte der 26. BImSchV markierten Schädlichkeitsschwelle abwägungserheblich sind. Der Belang ist umso gewichtiger, je näher die Belastung an die Grenzwerte heranreicht, sein Gewicht ist umso geringer, je weiter sie hinter dieser Schwelle zurückbleibt ( 4 A 1.13 - BVerwGE 148, 353 Rn. 38 f., vom - 4 A 5.17 - BVerwGE 161, 263 Rn. 52 und vom - 4 A 5.18 - NVwZ-RR 2019, 944 Rn. 87). Danach ist die Entscheidung der Beklagten, das Interesse der Kläger an einer weiteren Verminderung der Immissionsbelastung zurücktreten zu lassen (vgl. PFB S. 166 f.), nicht zu beanstanden.

18b) Die Beklagte hat den Belang der technischen Sicherheit des Leitungsbetriebs, insbesondere der Standsicherheit der Leitung bzw. der Masten (vgl. PFB S. 311, 407), berücksichtigt und hierzu Nebenbestimmungen getroffen (vgl. Nr. 1.1.3.1.3). Das Risiko, dass Masten aufgrund von hoher Wind-, Eis- oder Schneelast umstürzen könnten, durfte sie als minimal ansehen, da die Masten entsprechend der Wind- und Eiszonenvorgaben der DIN EN 50341-3-4 04/2016 ausgeführt werden (vgl. PFB S. 311).

19c) Ohne Fehler hat der Planfeststellungsbeschluss von einer Führung der Leitung als Erdkabel im Bereich des Grundstücks der Kläger abgesehen.

20Das Vorhaben ist in der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG unter der Nr. 6 mit einem "F" gekennzeichnet, es kann deshalb - als Vorhaben zur Höchstspannungs-Drehstrom-Übertragung - gemäß § 2 Abs. 6 BBPlG als Pilotprojekt nach Maßgabe des § 4 BBPlG als Erdkabel errichtet und betrieben werden. Unter den Voraussetzungen von § 4 Abs. 2 Satz 3 i. V. m. Satz 1 BBPlG kann die Planfeststellungsbehörde die Führung als Erdkabel von der Vorhabenträgerin verlangen. Davon hat die Beklagte im Bereich des Grundstücks der Kläger keinen Gebrauch gemacht, sondern die Voraussetzungen für ein Erdkabel, insbesondere nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BBPlG, verneint. Nach dieser Vorschrift kann im Falle des Neubaus eine Höchstspannungs-Drehstrom-Übertragungsleitung eines Vorhabens nach § 4 Abs. 1 BBPlG auf technisch und wirtschaftlich effizienten Teilabschnitten als Erdkabel errichtet und betrieben oder geändert werden, wenn die Leitung in einem Abstand von weniger als 200 Metern zu Wohngebäuden errichtet werden soll, die im Außenbereich im Sinne des § 35 des Baugesetzbuchs liegen.

21Der Planfeststellungsbeschluss nimmt fehlerfrei an, dass der Bereich zwischen den Gebäuden ... und ... nicht die Voraussetzungen für eine solche Engstelle erfüllt. Der Abstand zwischen der Trassenmitte und dem nächstgelegenen Punkt der Außenwände beider Wohngebäude beträgt nach dem Lage- und Grunderwerbsplan (Anlage 7.1, Blatt 22, Maßstab: 1:2 000) jeweils mehr als 200 m. Gegen die Richtigkeit der im Plan verzeichneten Abstände sind keine Einwände erhoben oder ersichtlich.

22Zu Recht ist die Beklagte bei der Bemessung des Abstands von der Trassenmitte - und nicht z. B. von dem äußeren Leiterseil - ausgegangen (PFB S. 307). Maßgeblich für die Ermittlung von Engstellen im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BBPlG ist der Abstand der Trassenmitte vom nächstgelegenen Punkt der Außenwand des jeweiligen Wohngebäudes (vgl. zu § 2 Abs. 2 Satz 1 EnLAG: 4 A 2.16 u. a. - DVBl. 2017, 1039 Rn. 41 und vom - 4 A 16.16 - NVwZ-RR 2017, 768 Rn. 95). Der Senat sieht keinen Anlass zu einer Korrektur oder Abweichung von der Rechtsprechung zu § 2 Abs. 2 EnLAG, an der sich die behördliche Praxis orientiert hat.

23Auf die Maßgeblichkeit der Trassenmitte, also den Aufpunkt auf der Erdoberfläche, deutet schon der systematische Zusammenhang von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BBPlG und § 4 Abs. 1 BBPlG hin: Als "die Leitung" betrachtet das Gesetz in § 4 Abs. 1 BBPlG nicht ein einzelnes Leiterseil, sondern das Vorhaben als solches, welches unter den in § 4 Abs. 2 BBPlG normierten Voraussetzungen "als Erdkabel" errichtet werden kann. Dass die Trassenmitte der maßgebliche Bezugspunkt für die Abstandsberechnung ist, bestätigt ferner der Entstehungszusammenhang der Regelung. Die Abstandsvorgaben von 400 m bzw. 200 m sind an § 2 Abs. 2 EnLAG angelehnt (vgl. BT-Drs. 18/6909, S. 4), bei dessen Erlass das raumplanerische Abstandsgebot des Landes-Raumordnungsprogramms Niedersachsen 2008 (LROP 2008) Orientierung bot, das seinerseits von der Trassenmitte ausging (vgl. LROP 2008, Erläuterungen zu Abschnitt 4.2, Ziffer 07, Sätze 6 bis 8). Im Übrigen hat auch der Gesetzgeber die Rechtsprechung des 4. Senats des Bundesverwaltungsgerichts nicht zum Anlass genommen, von dieser abweichend einen anderen Bezugspunkt als die Trassenmitte zu bestimmen. Entgegen der Annahme der Kläger ist ein größerer Abstand auch nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes geboten. Denn der von den Abstandsregelungen bezweckte Schutz tritt neben den fachrechtlich schon durch das Immissionsschutzrecht normierten Gesundheitsschutz ( 4 A 15.20 - NVwZ 2023, 678 Rn. 22). Er richtet sich vor allem gegen visuelle Belastungen des Wohnumfelds (vgl. 11 VR 2.23 - juris Rn. 17).

24d) Die Beklagte hat sich ohne Fehler gegen eine Gleichstromübertragung entschieden. Von einer Gleichstromübertragung durfte sie ohne Weiteres absehen, weil in Nr. 6 der Anlage zu § 1 Abs. 1 BBPlG gesetzlich der Bedarf für das Vorhaben als Drehstromleitung festgestellt worden ist.

25Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 159 Satz 1 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO und § 162 Abs. 3 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:021024U11A18.23.0

Fundstelle(n):
FAAAJ-85615