Gesetzliche Unfallversicherung - Arbeitsunfall - Betriebsweg - sachlicher Zusammenhang - dritter Ort - Wohnung - Aufnahme von Arbeitsmaterialien - beschäftigungsbezogene Pflicht - ausdrückliche Weisung - Wegeunfall - Arbeitsgerät - Schlüssel für Arbeitsräume - Unentbehrlichkeit für Aufnahme oder Verrichtung der versicherten Tätigkeit
Gesetze: § 2 Abs 1 Nr 1 SGB 7, § 8 Abs 1 S 1 SGB 7, § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7, § 8 Abs 2 Nr 5 SGB 7
Instanzenzug: Az: S 17 U 913/17 Urteilvorgehend Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen Az: L 17 U 131/21 Beschluss
Tatbestand
1Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin einen versicherten Wegeunfall erlitten hat.
2Die Klägerin war bei einer Kirchengemeindeverwaltung in H beschäftigt. Am fuhr sie früh morgens nach einem privaten Wochenendaufenthalt in B von dort zurück zu ihrer Wohnung in W, in der sich Schlüssel und Unterlagen für ihren anschließenden Arbeitseinsatz bei der Eröffnung eines Gemeindezentrums in H-R befanden, der um 11:00 Uhr beginnen sollte. Wenige Kilometer vor ihrem Wohnort verunglückte die Klägerin um 8:55 Uhr mit ihrem Pkw.
3Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Ereignisses als Arbeitsunfall ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (; ). Ein nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherter Wegeunfall liege nicht vor, weil sich das Ereignis, welches bei der Klägerin zu einem Gesundheitsschaden geführt habe, weder auf dem Weg zur Arbeitsstätte noch auf dem Weg von der Arbeitsstätte zugetragen habe. Wege von einem dritten Ort zur Wohnung seien nicht versichert, auch wenn dort Arbeitsmaterialien aufgenommen werden sollten.
4Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 8 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Nr 1 SGB VII). Sie sei aufgrund einer Weisung ihres Arbeitgebers zur Aufbewahrung der Schlüssel und Unterlagen in ihrer Wohnung verpflichtet gewesen. Daher müsse der Weg zurück zu ihrer Wohnung unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehen.
5Die Klägerin beantragt,den Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom und das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom sowie den Bescheid der Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, das Unfallereignis vom als Arbeitsunfall anzuerkennen.
6Die Beklagte beantragt,die Revision der Klägerin zurückzuweisen.
7Die Klägerin habe sich allein auf dem Rückweg von einem privaten Besuch nach Hause befunden. Schlüssel und Unterlagen für die Arbeit zu holen, seien unversicherte Vorbereitungshandlungen.
Gründe
8Die zulässige Revision der Klägerin ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) reichen nicht aus, um abschließend zu entscheiden, ob die Klägerin Anspruch auf Anerkennung des Verkehrsunfalls vom als Arbeitsunfall hat.
9Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt mithin voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; stRspr; zB - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 10, vom - B 2 U 16/20 R - BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82, RdNr 11 und vom - B 2 U 2/18 R - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 20, jeweils mwN).
10Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, lässt sich anhand der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Diesen lässt sich noch hinreichend entnehmen, dass die Klägerin am einen Unfall iS des § 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII erlitt, als sie auf dem Weg zu ihrer Wohnung mit ihrem Pkw verunglückte, und dass sie im Zeitpunkt des Unfalls als Beschäftigte gemäß § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII zum Kreis der versicherten Personen zählte. Auch reichen die tatrichterlichen Feststellungen noch für die abschließende Entscheidung, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt keinen nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Arbeitsweg zurücklegte (dazu 1.). Hingegen kommt es aufgrund der Feststellungen des LSG lediglich in Betracht, dass die Klägerin den Unfall auf einem nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII versicherten Betriebsweg erlitt (dazu 2.) oder im Unfallzeitpunkt nach § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII unter Unfallversicherungsschutz stand (dazu 3.).
111. Die Klägerin befand sich - wie das LSG zutreffend erkannt hat - im Unfallzeitpunkt nicht auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Arbeitsweg.
12§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII bezieht bestimmte Wege - nämlich solche nach und von dem Ort der nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII versicherten Tätigkeit - in den Unfallversicherungsschutz ein. Dabei kennzeichnet die Formulierung "des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges" in § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII den sachlichen Zusammenhang zwischen der "eigentlich" versicherten Haupttätigkeit, die nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII unter Versicherungsschutz steht, und denjenigen Wegen, die der Haupttätigkeit vorausgehen oder sich ihr anschließen. Der Wegeunfallversicherungsschutz nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII setzt mithin voraus, dass die versicherte Haupttätigkeit und das Zurücklegen des Weges miteinander verknüpft sind, was der Fall ist, solange und soweit der Weg mit der Aufnahme oder der Beendigung der Haupttätigkeit bei wertender Betrachtung verbunden ist ( - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 15 und vom - B 2 U 16/20 R - BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82, RdNr 14).
13Bei allen (Hin-)Wegen setzt § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII den Ort der versicherten Tätigkeit als Zielpunkt fest ("nach"), lässt aber zugleich den Startpunkt offen, sodass anstelle der Wohnung auch ein anderer (sog "dritter") Ort Ausgangspunkt sein kann, sofern sich der Versicherte an diesem dritten Ort mindestens zwei Stunden aufgehalten hat ( - juris RdNr 16, vom - B 2 U 12/18 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 54 RdNr 26, vom - B 2 U 2/18 R - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 24 und - B 2 U 19/18 R - BSGE 130, 25 = SozR 4-1300 § 105 Nr 8, RdNr 21 sowie vom - B 2 U 16/14 R -SozR 4-2700 § 8 Nr 58 RdNr 24, jeweils mwN).
14Zwischen dem in jedem Einzelfall zu ermittelnden Startpunkt und dem gesetzlich festgelegten Zielpunkt ist nicht der Weg an sich, sondern dessen Zurücklegen versichert, also der Vorgang des Sichfortbewegens auf der Strecke zwischen beiden Punkten. Die konkrete, objektiv beobachtbare Verrichtung des Sichfortbewegens auf dem unmittelbaren Weg zum Ort der versicherten Tätigkeit müssen Versicherte auch subjektiv zu diesem Zweck durchgeführt haben ( - juris RdNr 18, vom - B 2 U 2/18 R - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 27 und - B 2 U 20/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 74 RdNr 16, jeweils mwN). Sie müssen also mit der Handlungstendenz unterwegs gewesen sein, den Ort der versicherten Tätigkeit zu erreichen. Denn der Versicherungsschutz nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII wird nicht schon dadurch begründet, dass Versicherte auf dem unmittelbaren Weg zwischen ihrer Wohnung oder einem dritten Ort und dem Ort der versicherten Tätigkeit verunglücken.
15Maßgeblicher Zurechnungsgesichtspunkt ist auch bei Wegen von und nach einem dritten Ort die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten im Unfallzeitpunkt. Auf einen wertenden Angemessenheitsvergleich mit der üblichen Wegstrecke, den Zweck des Aufenthalts am dritten Ort, die Beschaffenheit der Wege, das benutzte Verkehrsmittel, den Zeitaufwand, das Unfallrisiko oder weitere Kriterien kommt es nicht an; vielmehr steht das objektive Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges von oder nach dem dritten Ort bei einer entsprechenden subjektiven Handlungstendenz unter dem Schutz der Wegeunfallversicherung ( - juris RdNr 19, vom - B 2 U 2/18 R - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 31 ff und - B 2 U 20/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 74 RdNr 21 ff).
16Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, befand sich die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls nicht auf einem Arbeitsweg iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII. Dies folgt nicht daraus, dass der Weg von dem dritten Ort, an dem die Klägerin am Unfalltag startete, zum Ort der Arbeitstätigkeit ein Mehrfaches länger war als derjenige von ihrer Wohnung aus. Maßgeblich ist stattdessen die objektivierte Handlungstendenz der Klägerin im Unfallzeitpunkt. Diese war - wie sich den Feststellungen des LSG noch hinreichend entnehmen lässt - nicht auf die Erreichung des Ortes ihrer Arbeitstätigkeit bei der Eröffnung des neuen Gemeindezentrums in H-R gerichtet, sondern auf die Erreichung ihrer Wohnung in W. Dies wird durch die Lage des Unfallortes bestätigt. Die Klägerin war im Unfallzeitpunkt bereits über den Tätigkeitsort in H-R hinaus in Richtung ihres Wohnortes W gefahren. Unbeachtlich ist, dass sie später von ihrer Wohnung aus zum Tätigkeitsort fahren wollte. Denn abzustellen ist stets auf die letzte ganz konkrete Verrichtung vor dem Unfallereignis ( - SozR 4-2700 § 8 Nr 69 RdNr 23 und vom - B 2 U 8/14 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 55 RdNr 14). Und diese konkrete Verrichtung war auf das Erreichen der Wohnung gerichtet, was insoweit eine Zäsur darstellt. Versicherungsschutz nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII kommt unter diesen Umständen nicht in Betracht.
172. Nicht ausgeschlossen ist dagegen - anders als das LSG meint -, dass sich die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII versicherten Betriebsweg befand. Denn nach den Feststellungen des LSG verfolgte die Klägerin am Unfalltag mit der Rückfahrt zu ihrer Wohnung auch das Ziel, dort Schlüssel und Unterlagen für ihren anschließenden Arbeitseinsatz im Gemeindezentrum aufzunehmen. Die tatsächlichen Feststellungen des LSG reichen jedoch nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob die Klägerin den Weg zu ihrer Wohnung zur Erfüllung einer sich aus ihrem Beschäftigungsverhältnis ergebenden Pflicht zurückgelegt hat.
18Betriebswege (§ 8 Abs 1 Satz 1 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII) sind Wege, die in Ausübung der versicherten Tätigkeit zurückgelegt werden, Teil der versicherten Tätigkeit sind und damit der Betriebsarbeit gleichstehen. Sie werden im unmittelbaren Betriebsinteresse unternommen und unterscheiden sich von Arbeitswegen iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII dadurch, dass sie der versicherten Tätigkeit nicht lediglich vorausgehen oder sich ihr anschließen. Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen. Ein Betriebsweg kann auch von zu Hause angetreten werden, wenn er unmittelbar der Erfüllung einer Haupt- oder Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis dient (stRspr; zB - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNrn 19, 21).
19Ob ein Weg im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt wird und deswegen im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht, ist wertend zu ermitteln, wobei maßgebender Zurechnungsgesichtspunkt die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten ist, ob also der Versicherte eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben wollte und diese Handlungstendenz durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird ( - SozR 4-2700 § 2 Nr 62 RdNr 37, vom - B 2 U 14/20 R - BSGE 135, 155 = SozR 4-2700 § 2 Nr 60, RdNr 39 und vom - B 2 U 7/17 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 66 RdNr 16). Die subjektive Handlungstendenz als von den Tatsachengerichten festzustellende innere Tatsache muss sich im äußeren Verhalten des Versicherten widerspiegeln, so wie es objektiv beobachtbar ist ( - BSGE 130, 1 = SozR 4-2700 § 8 Nr 70, RdNr 27, vom - B 2 U 2/16 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 61 RdNr 19 und vom - B 2 U 8/14 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 55 RdNr 14). Dabei darf das Tatsachengericht das Vorliegen der subjektiven Handlungstendenz nicht unterstellen, sondern muss im Urteil entsprechende Feststellungen treffen. Es genügt nicht, wenn es die Darstellung der Beteiligten inhaltlich oder wörtlich referiert. Erforderlich ist, dass das Gericht die Angaben bewertet und mitteilt, welche Behauptungen es aus welchen Gründen für wahr hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt ( - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 24, vom - B 2 U 11/19 R - SozR 4-2700 § 9 Nr 30 RdNr 16 und vom - B 9 VG 2/07 R - juris RdNr 18; Hübschmann in Roos/Wahrendorf/Müller, SGG, 3. Aufl 2023, § 128 RdNr 16, 18). Die subjektive Handlungstendenz muss sich objektivieren lassen, dh in den realen Gegebenheiten eine Stütze finden. Dabei hat das Tatsachengericht alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festzustellen, in eine Gesamtschau einzustellen sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abzuwägen ( - juris RdNr 21 und vom - B 2 U 8/17 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 67 RdNr 14). Als objektive Umstände, die Rückschlüsse auf die Handlungstendenz zulassen, ist beim Zurücklegen von Wegen insbesondere von Bedeutung, ob und inwieweit Ausgangspunkt, Ziel, Streckenführung und ggf das gewählte Verkehrsmittel durch betriebliche Vorgaben geprägt werden ( - BSGE 135, 155 = SozR 4-2700 § 2 Nr 60, RdNr 39, vom - B 2 U 7/12 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 48 RdNr 13 und vom - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 20).
20Die diesbezüglichen Feststellungen des LSG sind insgesamt unzureichend. Sie bieten aber Anhaltspunkte dafür, dass die Rückfahrt der Klägerin von ihrem Wochenendaufenthalt in B zu ihrer Wohnung in W eine Verrichtung mit gespaltener Handlungstendenz war, weil sie sowohl mit privater Handlungstendenz (Beendigung der privaten Wochenendreise) als auch mit betrieblicher Handlungstendenz (Aufnahme von Arbeitsschlüssel und -unterlagen) erfolgte. Eine Verrichtung mit gespaltener Handlungstendenz steht dann im inneren bzw sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, wenn die konkrete Verrichtung hypothetisch auch dann vorgenommen worden wäre, wenn die private Motivation des Handelns entfallen wäre ( - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 18, vom - B 2 U 16/20 R - BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82, RdNr 16 und vom - B 2 U 14/10 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 39 RdNr 24). Entscheidend ist demnach, ob die letzte unmittelbar vor dem Unfallereignis ganz konkrete ausgeübte Verrichtung (zu deren Maßgeblichkeit: - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 15 mwN) nach den objektiven Umständen in ihrer konkreten, tatsächlichen Ausgestaltung ihren Grund in der betrieblichen Handlungstendenz findet. Insoweit ist nicht auf Vermutungen über hypothetische Geschehensabläufe außerhalb der konkreten Verrichtung und der objektivierten Handlungstendenzen, sondern nur auf die konkrete Verrichtung selbst abzustellen. Es ist zu fragen, ob die Verrichtung, so wie sie durchgeführt wurde, objektiv die versicherungsbezogene Handlungstendenz erkennen lässt ( - SozR 4-2700 § 8 Nr 74 RdNr 18 und vom - B 2 U 4/13 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 52 RdNr 20).
21Auf der Grundlage der tatrichterlichen Feststellungen vermag der Senat nicht abschließend zu beurteilen, ob sich die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII versicherten Betriebsweg befand. Grundsätzlich geklärt ist, dass dann, wenn ein Beschäftigter zur Erfüllung einer sich aus dem Arbeitsvertrag ergebenden Haupt- oder Nebenpflicht handelt, der innere Zusammenhang mit seiner nach § 8 Abs 1 Satz 1 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherten Tätigkeit unmittelbar zu bejahen ist (zuletzt - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 21, vom - B 2 U 1/21 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 62 RdNr 22 und vom - B 2 U 8/20 R - SozR 4-2700 § 2 Nr 58 RdNr 13). Bei einer entsprechenden Pflicht, etwa aufgrund einer Weisung des Arbeitgebers, kann auch der Weg von einem dritten Ort zur Wohnung, um dort aufbewahrte Arbeitsmaterialien für einen Arbeitseinsatz aufzunehmen, als Betriebsweg versichert sein. Auf die für Arbeitswege geltende Zweistundengrenze (dazu unter 1.) kommt es nicht an.
22Den Feststellungen des LSG lässt sich lediglich entnehmen, dass die Klägerin im Unfallzeitpunkt zu ihrer Wohnung fuhr, um dort aufbewahrte Schlüssel und Unterlagen für ihren anschließenden Arbeitseinsatz im Gemeindezentrum aufzunehmen. Es fehlen indes Feststellungen zu den Gründen der Aufbewahrung und Aufnahme der Schlüssel und Unterlagen am Wohnort der Klägerin, etwa zu der von ihr behaupteten Weisung des Arbeitgebers anlässlich der Eröffnung des neuen Gemeindezentrums. Das LSG teilt in der angegriffenen Entscheidung nicht einmal mit, ob sich hierzu etwas aus der im Widerspruchsverfahren beim Arbeitgeber der Klägerin eingeholten Auskunft ergibt. Die erforderlichen Feststellungen wird das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben. Sollte es eine Weisung des Arbeitgebers gegeben haben, Schlüssel und Unterlagen in ihrer Wohnung in W aufzubewahren, wäre ihr die Klägerin bereits vor Antritt ihrer Wochenendreise nach B nachgekommen. Es bedürfte daher noch einer weiteren Weisung, mit Schlüssel und/oder Unterlagen zum Arbeitsantritt am Unfalltag bei der Eröffnung des neuen Gemeindezentrums in H-R zu erscheinen. Dafür könnte beispielsweise sprechen, wenn die Klägerin über den einzigen Schlüssel zu diesem Gemeindezentrum verfügt hätte oder wenn sie bei diesem Anlass Schlüssel an andere Mitarbeiter hätte aushändigen sollen. Das LSG wird sich im wiedereröffneten Berufungsverfahren davon zu überzeugen haben, ob eine ernsthafte Weisung des Arbeitgebers im Unfallzeitpunkt für die Klägerin bestand. Zu beachten ist dabei, dass Weisungen des Arbeitgebers regelmäßig keinem Formzwang unterliegen. Der Arbeitgeber kann sie sowohl schriftlich als auch mündlich erteilen. Das Gericht muss sich jedoch vom ernsthaften Bestehen der Weisung des Arbeitgebers, der der Beschäftigte zum Unfallzeitpunkt nachgehen wollte, überzeugen können. Zur Klarstellung weist der Senat darauf hin, dass der Beachtlichkeit einer etwaigen Weisung nicht entgegensteht, dass bei anerkannten Erweiterungen des Versicherungsschutzes wie Betriebssport oder betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltungen Unternehmen und Beschäftigte es nicht in der Hand haben darüber zu bestimmen, welche Verrichtungen in sachlichem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen ( - SozR 4-2700 § 2 Nr 58 RdNr 27). Denn um solche Erweiterungen geht es hier nicht, sondern um den Umfang des eigentlichen Versicherungsschutzes Beschäftigter und dieser richtet sich nach dem Inhalt ihres Beschäftigungsverhältnisses, der von den Weisungen des Arbeitgebers mitbestimmt wird ( - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 22).
23Das LSG wird zu klären haben, ob sich die subjektive Handlungstendenz der Klägerin, Schlüssel und Unterlagen in ihrer Wohnung aufzunehmen und sodann direkt zu ihrer Arbeitsstätte zu fahren, auch objektivieren lässt, dh in den realen Gegebenheiten objektiv eine Stütze findet. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund des Zeitfensters von knapp zwei Stunden zwischen der hypothetischen Ankunft in ihrer Wohnung und dem Arbeitsbeginn im neuen Gemeindezentrum um 11:00 Uhr bedeutsam. Denn bei natürlicher Betrachtungsweise des Lebenssachverhaltes kommt als Handlungstendenz auch der Abschluss der privaten Wochenendreise in Betracht, die ausschließlich dem privaten Lebensbereich der Klägerin zuzuordnen ist. Bei der Bewertung einer solchen gespaltenen Handlungstendenz kann der Zeitraum zwischen der geplanten Ankunft in der Wohnung und dem Arbeitsbeginn von Bedeutung sein. Ein kürzerer Zeitraum zwischen der Ankunft in der Wohnung und dem Arbeitsbeginn dürfte eher für eine wesentlich betrieblich geprägte Handlungstendenz sprechen. Demgegenüber könnte ein längerer Zeitraum zwischen Ankunft und Arbeitsbeginn eher für eine wesentlich privaten Motiven unterliegende Handlungstendenz sprechen. Da tatrichterliche Ermittlungen und Feststellungen zur objektivierten Handlungstendenz unerlässlich sind, wird sie das LSG im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben. Dabei wird es alle nach Lage des Einzelfalls als Indizien in Betracht kommenden Umstände festzustellen, in eine Gesamtschau einzustellen sowie nachvollziehbar und widerspruchsfrei unter- und gegeneinander abzuwägen haben.
243. Sollte eine tätigkeitsbezogene Verpflichtung zB wegen einer arbeitgeberseitigen Weisung nicht feststellbar sein, könnte die Klägerin auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII versicherten Weg verunfallt sein, wenn sie mit Arbeitsschlüssel oder -unterlagen in ihrer Wohnung verwahrtes Arbeitsgerät holen wollte, das für die Aufnahme oder Verrichtung ihrer Arbeit unentbehrlich war. Auch dies vermag der Senat auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG nicht abschließend zu beurteilen.
25Versichert ist nach § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII ua das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren und Befördern eines Arbeitsgeräts. Unter Verwahrung ist das Unterbringen des Arbeitsgeräts am Arbeitsplatz oder an einem anderen Ort zu verstehen. Zur Verwahrung gehört auch deren Gegenstück, die "Entwahrung", also die Beendigung der Unterbringung des Arbeitsgeräts verbunden etwa mit dessen Bereitstellung für die bestimmungsgemäße Verwendung. Versichert sind auch die mit der Verwahrung oder Entwahrung in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Wege, soweit sie mit der Verwahrung oder Entwahrung einen einheitlichen Lebenssachverhalt bilden ( - SozR 4-2700 § 8 Nr 20 RdNr 25). Die Verwahrung oder Entwahrung muss stets mit der versicherten Tätigkeit im sachlichen Zusammenhang stehen. Daran fehlt es, wenn zwar ein Arbeitsgerät befördert wird, aber dessen Mitnahme nur aus privaten Gründen erfolgt ( - SozR 4-2700 § 8 Nr 5 RdNr 8; Wagner in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VII, 3. Aufl, § 8 RdNr 262, Stand ).
26Unter Arbeitsgerät ist jeder Gegenstand zu verstehen, der seiner Zweckbestimmung nach zur Erledigung einer versicherten Tätigkeit geeignet ist und hauptsächlich genutzt wird ( - zur Veröffentlichung in SozR 4 vorgesehen - juris RdNr 13 mwN). Dies trifft nicht nur auf Gegenstände zu, die ihrer Zweckbestimmung nach als typische Arbeitsgeräte in Betracht kommen, sondern ebenso auf Sachen, die auch zu anderen Zwecken als zur Arbeit benutzt werden und deshalb nicht schon ihrer Natur nach als Arbeitsgerät anzusehen sind. Entscheidend ist, dass der Gegenstand im Verhältnis zur gesamten Verwendung hauptsächlich zur Verrichtung der versicherten Tätigkeit gebraucht wird ( - SozR 4-2700 § 8 Nr 33 RdNr 28, vom - 2 RU 41/91 - SozR 3-2200 § 549 Nr 1 S 2 und vom - 2 RU 6/89 - BSGE 65, 210, 211 = SozR 2200 § 549 Nr 10 S 30). Nicht ausreichend ist, dass der Gegenstand zur Verrichtung betrieblicher Tätigkeit genutzt werden kann; erforderlich ist, dass er entsprechend betrieblicher Erfordernisse zur Arbeit verwendet wird (ua - BSGE 41, 102, 105 = SozR 2200 § 549 Nr 3 S 12).
27Schlüssel zu Arbeitsräumen sind nicht immer Arbeitsgeräte iS des § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII, können dies aber sein (offen gelassen in - SozR 4-2700 § 8 Nr 5 RdNr 8). Arbeitsgerät ist ein Schlüssel zu Arbeitsräumen dann, wenn er für die Aufnahme oder Verrichtung der versicherten Tätigkeit unentbehrlich ist (vgl L 10a Ua 1222/1240/65 - Breith 1968, 381, 382). Daher ist nicht jeder einem Beschäftigten ausgehändigte Schlüssel zur Arbeitsstätte ein Arbeitsgerät iS des § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII; vielmehr kann dies nur dann der Fall sein, wenn die Arbeitsräume allein mit dem Schlüssel des Beschäftigten zugänglich sind und die Verrichtung der geschuldeten Arbeit ohne ihn nicht möglich ist. Ein ähnlicher Maßstab ist an Arbeitsunterlagen anzulegen; auch diese können im Einzelfall Arbeitsgeräte iS des § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII sein ( - SozR 3-2700 § 8 Nr 3 RdNr 31 und vom - B 2 U 17/97 R - juris RdNr 28).
28Auf Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des LSG kann nicht abschließend beurteilt werden, ob sich die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII versicherten Weg zur Entwahrung von Arbeitsgeräten befand. Das LSG wird zu ermitteln haben, ob die Arbeitsschlüssel und/oder -unterlagen Arbeitsgeräte iS des § 8 Abs 2 Nr 5 SGB VII darstellen und ob die objektivierte Handlungstendenz der Klägerin im Unfallzeitpunkt auf die Entwahrung eines Arbeitsgeräts gerichtet war. Hinsichtlich der subjektiven Handlungstendenz der Klägerin gilt das oben (unter 2.) zum Betriebsweg Gesagte entsprechend.
294. Da das Revisionsgericht die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen über die näheren Umstände des Unfalls der Klägerin selbst nicht treffen kann, ist die Rechtssache zur Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:260924UB2U1522R0
Fundstelle(n):
FAAAJ-85278