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BSG Beschluss v. - B 1 KR 86/23 B

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Bestellung eines besonderen Vertreters - tatrichterliche Würdigung bei der Feststellung der Prozessfähigkeit

Gesetze: § 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 71 Abs 1 SGG, § 72 Abs 1 SGG, § 202 S 1 SGG, § 547 Nr 4 ZPO, § 104 Nr 2 BGB, Art 1 Abs 1 GG, Art 2 Abs 1 GG, Art 19 Abs 4 S 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Instanzenzug: Az: S 11 KR 751/17 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 16 KR 121/21 Beschluss

Gründe

1I. Der Kläger ist mit seinem Begehren auf Kostenübernahme für Medikamente, die ihm zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Strafhaft verordnet worden waren, bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Auch mit seinen erst während des Berufungsverfahrens erhobenen Begehren, ihn von Rezeptgebühren zu befreien und die Kosten des Vorverfahrens zu erstatten, ist er beim LSG ohne Erfolg geblieben.

2Im Vorfeld der LSG-Entscheidung hatte der Kläger ein verwaltungsgerichtliches Verfahren gegen das LSG angestrengt, in dem das Niedersächsische ) - gestützt auf ein neurologisch-psychiatrisches Sachverständigengutachten von Dr. H vom und ein nervenärztliches Gutachten von Dr. G vom - die Beschwerde gegen den zuvor ergangenen wegen Prozessunfähigkeit des Klägers als unzulässig verworfen hatte.

3Das LSG ist von der Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen und hat die Bestellung eines besonderen Vertreters durch Beschluss vom abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, zwar seien in zahlreichen Verfahren, die der Kläger bei den SGen und dem LSG führe, Zweifel an seiner Prozessfähigkeit aufgetreten. Indes hätten der 8. und 11. Senat des LSG in mehreren Beschlüssen bereits mit ausführlicher Begründung entschieden, dass diese Zweifel nicht durchgriffen. Der Kläger sei trotz der eigenwilligen Verfahrensführung in der Lage, seine Interessen in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren selbst wahrzunehmen. Er sei auch im allgemeinen Rechtsverkehr in der Lage, seine eigenen Belange zu regeln. Dem schließe sich der erkennende Senat in Kenntnis der vorliegenden Unterlagen (Gutachten der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H vom ) an. In der Sache hat es die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende zurückgewiesen (Beschluss vom ).

4Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Beschluss.

5Der Senat hat dem Kläger durch Beschlüsse vom Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten bewilligt und diesen zum besonderen Vertreter nach § 72 SGG bestimmt.

6II. 1. Die Beschwerde ist zulässig und insbesondere nicht verfristet. Dem Kläger war ungeachtet seiner möglichen Prozessunfähigkeit jedenfalls deshalb gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren, weil er zunächst innerhalb der Frist zur Einlegung der Beschwerde selbst einen Antrag auf Gewährung von PKH gestellt hat. Ferner hat er nach den mit Zustellung des PKH bewilligenden Beschlusses des Senats an seinen besonderen Vertreter erneut beginnenden Fristen für die Einlegung der Beschwerde und ihrer Begründung diese prozessualen Schritte vorgenommen. Er hat durch den vom Senat beigeordneten und zugleich - aus den unter 2. genannten Gründen - als besonderen Vertreter bestellten Rechtsanwalt innerhalb dieser Fristen die Beschwerde eingelegt und begründet.

7Die mögliche Prozessunfähigkeit des Klägers stellt insoweit kein Verfahrenshindernis für den vorliegenden PKH-Antrag zur Durchführung der Nichtzulassungsbeschwerde dar. Denn das Rechtsmittel eines Beteiligten, der sich dagegen wendet, dass er in der Vorinstanz zu Unrecht als prozessunfähig (bzw prozessfähig) behandelt worden sei, ist ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozessfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden können (vgl B 7a AL 162/05 B - juris RdNr 5 mwN). Insoweit, und auch nur insoweit, ist der Kläger unter dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit und damit zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes so zu behandeln, als sei er prozessfähig (vgl auch BVerfG < Kammer > vom - 1 BvR 2509/15 - juris RdNr 11 ff).

8Die Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Der Kläger hat entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG den Verfahrensfehler bezeichnet. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Der Kläger bezeichnet den Verfahrensmangel der nicht wirksamen Vertretung (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO) hinreichend. Die Beschwerde ist zulässig, da der Kläger substantiiert behauptet (vgl dazu - juris RdNr 13), im Berufungsverfahren prozessunfähig oder zumindest partiell prozessunfähig gewesen zu sein. Insoweit hat der Kläger eine Verletzung des § 71 Abs 1 SGG hinreichend bezeichnet. Darlegungen dazu, dass die Entscheidung des LSG auf dem geltend gemachten Verfahrensmangel beruhen kann, sind gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO entbehrlich (absoluter Revisionsgrund).

92. Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der LSG-Beschluss beruht auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).

10Der zulässig gerügte Verfahrensfehler des LSG liegt vor. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verstoß gegen § 72 Abs 1 SGG, weil das LSG von der Bestellung eines besonderen Vertreters für den Kläger abgesehen hat, ohne dessen Prozessfähigkeit ausreichend festzustellen. Der Kläger war daher im Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO). Hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass das Urteil des LSG auf ihm beruht.

11a) Gemäß § 72 Abs 1 SGG kann der Vorsitzende des jeweiligen Spruchkörpers für einen nicht prozessfähigen Beteiligten ohne gesetzlichen Vertreter bis zum Eintritt eines Vormundes, Betreuers oder Pflegers für das Verfahren einen besonderen Vertreter bestellen, dem alle Rechte, außer dem Empfang von Zahlungen, zustehen. Steht die Prozessunfähigkeit für den Prozess fest, kann dieser grundsätzlich nur mit einem besonderen Vertreter iS des § 72 Abs 1 SGG fortgeführt werden, wenn eine sonstige gesetzliche Vertretung nicht gewährleistet ist und das AG keinen Betreuer bestellt hat. Bei gewichtigen Bedenken gegen die Prozessfähigkeit hat das Gericht grundsätzlich von der Prozessunfähigkeit auszugehen, wenn sich auch nach Ausschöpfung aller Beweismöglichkeiten nicht feststellen lässt, dass der betreffende Beteiligte prozessfähig (§ 71 Abs 1 SGG) ist. Dies gilt schließlich auch dann, wenn die (partielle) Prozessunfähigkeit des Beteiligten als ernsthafte Möglichkeit im Raum steht und das Gericht sich (noch) nicht die Überzeugung bilden kann, dass der Beteiligte prozessfähig ist, aber unter dem Gesichtspunkt der Beschleunigung des Verfahrens den Rechtsstreit fortsetzen will. Insoweit muss das Gericht den verfahrensrechtlichen Maßstab anlegen, der gilt, wenn der Beteiligte prozessunfähig ist (vgl SozR 4-1500 § 56a Nr 1 RdNr 8 mwN). Würde in einem solchen Fall das Erfordernis einer Bestellung eines besonderen Vertreters nach § 72 Abs 1 SGG keine Beachtung finden, wäre dies mit dem Regelungszweck der Norm unvereinbar, das rechtsstaatliche Gebot des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 Satz 1 GG; vgl dazu BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 1584/17 - juris RdNr 3), rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) und ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 3 GG) auch bei fehlender oder zweifelhafter Prozessfähigkeit zu gewährleisten.

12Jedenfalls in Fällen, in denen die betreffende Person - wie hier - in die Bestellung eines besonderen Vertreters bei noch nicht geklärter, aber zweifelhafter Prozessfähigkeit einwilligt, liegt in der Bestellung ein weniger intensiver Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (vgl zu diesem 9/9a RVg 5/92 - SozR 3-1500 § 71 Nr 1 - juris RdNr 15), als in der Ausschöpfung aller Ermittlungsmöglichkeiten zur Feststellung der Prozessunfähigkeit, insbesondere der hierfür regelmäßig erforderlichen psychiatrischen Begutachtung (vgl hierzu etwa - BVerfGE 89, 69 - juris RdNr 51, 56 f; BVerfG <Kammer> vom - 1 BvR 2222/01 - juris RdNr 10; - BSGE 135, 74 = SozR 4-1500 § 118 Nr 5, RdNr 28). Der Vertretene kann seine Einwilligung jederzeit wirksam zurücknehmen und eine medizinische Begutachtung seiner Prozessfähigkeit beantragen. Ist aufgrund der Begutachtung von der Prozessfähigkeit des Vertretenen auszugehen, ist die Bestellung des besonderen Vertreters aufzuheben.

13Ermittelt das Gericht die Prozessfähigkeit des Beteiligten, hat es von der Bestellung eines besonderen Vertreters auch bei Zustimmung des sich selbst für prozessunfähig ansehenden Beteiligten zunächst abzusehen.

14Im Rahmen der Prüfung der Verfahrensrüge, ob der Beteiligte in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten war, obliegt die Entscheidung über die Prozessfähigkeit iS des § 71 Abs 1 SGG, an den § 72 Abs 1 SGG mit der Verpflichtung zur Bestellung eines besonderen Vertreters anknüpft, der tatrichterlichen Würdigung. Das Beschwerdegericht ist bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen der Vorschrift vorliegen, auf die Kontrolle beschränkt, ob das Berufungsgericht von zutreffenden Maßstäben für die Beurteilung der Prozessfähigkeit ausgegangen ist.

15b) Das LSG hat weder einen besonderen Vertreter bestellt noch hat ein Grund dafür vorgelegen, davon abzusehen, als es über das Begehren des Klägers entschieden hat.

16Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich gemäß § 104 Nr 2 BGB in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen. An die Annahme einer Prozessunfähigkeit sind auch mit Blick auf den damit verbundenen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht strenge Anforderungen zu stellen. Es reicht nicht aus, dass der Betroffene seit längerem an geistigen oder seelischen Störungen leidet. Ebenso wenig reichen eine bloße Willensschwäche oder die bloße Unfähigkeit eines Beteiligten, seine Rechte in einer mündlichen Verhandlung selbst wahrzunehmen (vgl BH - juris RdNr 13; - juris RdNr 6 f mwN; - juris RdNr 6 mwN).

17Das LSG hat in Bezug auf die Fähigkeit des Klägers zur freien Willensbestimmung keine Beweise erhoben und auch nicht dargelegt, dass entsprechende Beweismöglichkeiten nicht offenstehen. Es hat in seinem Beschluss vom auch keine eigene tatrichterliche Würdigung vorgenommen, sondern nur das Gutachten von Dr. H aus dem Jahr 2018 zitiert, in dem die Gutachterin allerdings zu dem Ergebnis kommt, dass erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Klägers zur freien Willensbildung bestünden und er nicht in der Lage sei, seine Entscheidungen - bezogen auf die Rechtsthematik - von sachentsprechenden Erwägungen abhängig zu machen. Mit dieser Einschätzung hat sich das LSG nicht auseinandergesetzt und nicht dargelegt, warum es trotzdem von der Prozessfähigkeit des Klägers ausgeht.

18Das LSG hat lediglich auf die Entscheidungen zweier anderer LSG-Senate verwiesen, die entschieden hätten, dass der Kläger "trotz der eigenwilligen Verfahrensführung in der Lage (ist), seine Interessen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchaus selbst wahrzunehmen. Er ist auch im allgemeinen Rechtsverkehr in der Lage, seine eigenen Belange zu regeln" (Beschluss vom ). Dies genügt nicht den Anforderungen an die Feststellung der Prozessfähigkeit. Die eigene tatrichterliche Würdigung kann nicht durch die pauschale Verweisung auf die Entscheidungen anderer Gerichte oder Spruchkörper ersetzt werden, ohne die dort eventuell erhobenen Beweise selbst zu würdigen.

19Das LSG hätte nach den oben dargestellten Maßstäben im Hinblick auf die von ihm selbst geäußerten Zweifel an der Prozessfähigkeit des Klägers entweder von dessen Prozessunfähigkeit ausgehen und einen besonderen Vertreter bestellen oder selbst Beweis über die Prozessfähigkeit des Klägers erheben müssen. Beides ist unterblieben.

203. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

214. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:191224BB1KR8623B0

Fundstelle(n):
IAAAJ-84976