Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verkennung des Streitgegenstands - Zurückverweisung
Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 123 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 112 Abs 2 S 2 SGG, § 133 BGB
Instanzenzug: Az: S 44 AS 485/19 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 13 AS 231/22 Urteil
Gründe
1Der Klägerin ist Wiedereinsetzung in die Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren (vgl § 67 SGG) wegen der fristgerechten Stellung eines PKH-Antrags durch sie und der fristgerechten Beschwerdeeinlegung und -begründung ihrer Prozessbevollmächtigten nach der Bewilligung von PKH durch den Senat.
2Die Beschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Der ua gerügte Verstoß gegen § 123 SGG (Verkennung des Streitgegenstands) liegt vor; darauf beruht die Entscheidung (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
3Nach § 123 SGG entscheidet das Gericht über die erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Bei unklaren Anträgen muss das Gericht mit den Beteiligten klären, was gewollt ist, und vor allem bei - wie hier - nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten darauf hinwirken, dass sachdienliche und klare Anträge gestellt werden (§ 106 Abs 1, § 112 Abs 2 Satz 2 SGG; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 123 RdNr 3, § 112 RdNr 8). Im Übrigen ist das Gewollte, also das mit der Klage oder der Berufung verfolgte Prozessziel, bei nicht eindeutigen Anträgen im Wege der Auslegung festzustellen (vgl etwa 8/5a RKn 11/87 - BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180 = Juris RdNr 11; - juris RdNr 17). In entsprechender Anwendung der Auslegungsregel des § 133 BGB ist der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei sind nicht nur der Wortlaut, sondern auch die sonstigen Umstände des Falles, die für das Gericht und die anderen Beteiligten erkennbar sind, zu berücksichtigen (vgl nur - juris RdNr 21; - SozR 4-1500 § 158 Nr 2 RdNr 6). Im Zweifel ist der Antrag unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips so auszulegen, dass das Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl etwa - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 29; B 9/9a SB 10/06 R - SozR 4-3250 § 69 Nr 9 RdNr 16).
4Diesen Maßstäben hat das Vorgehen des LSG nicht entsprochen. Die Klägerin hat sich vor dem SG gegen die Bescheide vom 15.1. und gewandt. Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen, weil das Vorverfahren fehle (Gerichtsbescheid vom ). Tatsächlich waren mit Widerspruchsbescheiden vom und die Widersprüche der Klägerin als unzulässig verworfen worden. Mit ihrer Berufung hat die Klägerin im Antragsschriftsatz ua beantragt: "1. den sowie den Bescheid des Beklagten vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom aufzuheben". Damit hat sich die Klägerin eindeutig gegen den Gerichtsbescheid gewandt, auch wenn sie zusätzlich ("sowie") die Aufhebung anderer Bescheide als der Entscheidung des SG zugrunde gelegen haben, beantragt hat. Sie hat dazu umfassend vorgetragen und auf eine Vielzahl weiterer Verfahren hingewiesen, die sie um die Frage der Übernahme von Kosten der Unterkunft und Heizung führt.
5Auch der Beklagte hat in seiner Berufungserwiderung den Streitgegenstand zutreffend damit umschrieben, dass es um die Höhe der Unterkunftskosten für die Zeit vom 1.1. bis gehe und darauf hingewiesen, dass es, soweit die Klägerin mit der Berufung weitergehende Ansprüche geltend mache, an der Zulässigkeit der Berufung fehle. Damit war auch für das LSG der Streitgegenstand des Berufungsverfahrens (§ 123 SGG) hinreichend genau umrissen.
6Dass die unvertretene Klägerin im weiteren Schriftwechsel zahlreiche weitere Bescheide benannte, meinte, diese in das Verfahren einführen zu können oder sie bereits als verfahrensgegenständlich angesehen und ihre Anträge geändert hat, ändert daran nichts. Auch der Umstand, dass die Klägerin vor vielen Jahren als Rechtsanwältin tätig war, genügt schon vor dem Gesamteindruck ihrer Verfahrensführung nicht, sie einer durch einen Rechtskundigen vertretenen Klägerin gleichzustellen. Das LSG konnte damit nicht ohne Verstoß gegen das Gebot eines fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 GG) davon ausgehen, die Klägerin wolle ausschließlich noch ein Klagebegehren verfolgen, dem es bereits an der Zulässigkeit fehlt, weil von ihr benannte Bescheide entweder rechtskräftig sind oder es an einem Vor- bzw Klageverfahren fehle. Dies insbesondere, weil die Klägerin auch im letzten Schriftsatz an das LSG, das dieses zur Konkretisierung des Begehrens der Klägerin anhand der darin gestellten Anträge seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, ua die Aufhebung des Gerichtsbescheids des SG beantragt hat. Anders als das LSG dies meint, hat die Klägerin folglich die Bescheide vom und nicht erst außerhalb der Berufungsfrist im Wege einer (unzulässigen) Klageänderung zum Gegenstand des Verfahrens gemacht.
7Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung von weiteren Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:171224BB7AS8124B0
Fundstelle(n):
PAAAJ-84404