Instanzenzug: LG Halle (Saale) Az: 1 S 103/23vorgehend AG Halle (Saale) Az: 98 C 961/22
Gründe
I.
1 Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass die Beklagten verpflichtet sind, die auf ihrem Grundstück befindliche Mauer in einer Länge von 9,5 m im jetzigen Zustand zu dulden und nicht zu beseitigen bzw. beseitigen zu lassen. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Gegen diesen Beschluss wenden sich die Beklagten mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt.
II.
2 Das Berufungsgericht sieht die Berufung gemäß § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO als unzulässig an, weil der Wert des Beschwerdegegenstands 600 € nicht übersteige. Die Beklagten begehrten die Abweisung einer auf den Erlass eines positiven Feststellungsurteils gerichteten Klage. Mit der Klageabweisung werde das Nichtbestehen des Rechtsverhältnisses festgestellt. Die Rechtskraft entspreche derjenigen eines Urteils, mit dem einer negativen Feststellungsklage stattgegeben werde. Der Streitwert einer negativen Feststellungsklage, die auf die Feststellung des Nichtbestehens einer Duldungspflicht gerichtet sei, bemesse sich nach der Wertminderung, die das Grundstück durch die Pflicht zur Duldung erleide. Hierzu hätten die Beklagten nicht vorgetragen. Selbst wenn auf den Verkehrswert der durch die zu duldende Mauer dauerhaft entzogenen Fläche abzustellen wäre, könnte nicht der durchschnittliche Grundstückswert herangezogen werden. Vielmehr sei die Form des betroffenen Grundstücks zu berücksichtigen, die durch die Länge der Mauer von ca. 9,5 m und deren Dicke von einigen Zentimetern bestimmt sei. Ein solches Teilgrundstück sei praktisch unverkäuflich.
III.
3 1. Die Rechtsbeschwerde der Beklagten ist nach § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig; die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO), weil das Berufungsgericht bei seiner Festsetzung des für die Zulässigkeit der Berufung maßgeblichen Werts der Beschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) die rechtlichen Grundlagen für die Ausübung des ihm grundsätzlich zustehenden Ermessens gemäß §§ 2, 3 ZPO verkannt hat.
4 2. Auch in der Sache hat das Rechtsmittel Erfolg. Mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich eine 600 € übersteigende Beschwer der Beklagten im Sinne von § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO nicht verneinen.
5 a) Der Beschwerdewert richtet sich nach dem Interesse des Rechtsmittelführers an der Abänderung des angefochtenen Urteils, das unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten ist (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZR 174/23, BeckRS 2024, 17754 Rn. 4). Maßgebend ist hier daher das wirtschaftliche Interesse der Beklagten an der Abwehr des von der Klägerin geltend gemachten Duldungsanspruchs (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 293/10, BeckRS 2011, 18962 Rn. 6; , BeckRS 2002, 5004 Rn. 4). Im Ausgangspunkt zutreffend nimmt das Berufungsgericht an, dass sich die Beschwer der Beklagten nach der Wertminderung bemisst, die ihr Grundstück durch die Pflicht zur Duldung der Mauer erleidet (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZR 72/22, BeckRS 2023, 9516 Rn. 6 zur Duldungspflicht eines Notwegs; , NJW-RR 2010, 1081 Rn. 8).
6 b) Die Bewertung des Berufungsgerichts kann im Rahmen der Rechtsbeschwerde nur daraufhin überprüft werden, ob es bei der Ausübung des ihm eröffneten Ermessens (§§ 2, 3 ZPO) die in Betracht zu ziehenden Umstände nicht umfassend berücksichtigt, die Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 168/13, BeckRS 2014, 11172 Rn. 5; Beschluss vom - V ZB 115/09, BeckRS 2010, 1087 Rn. 9; , BeckRS 2024, 32914 Rn. 7 jeweils mwN). Solche Ermessensfehler liegen hier vor.
7 aa) Zu Unrecht bemisst das Berufungsgericht den Wert der Beschwer allein nach dem Verkehrswert des durch die Mauer beanspruchten Grundstücksteils.
8 (1) Der Wertverlust eines Grundstücks infolge eines von dem Eigentümer zu duldenden Bauwerks ist grundsätzlich zu ermitteln, indem der Verkehrswert des Grundstücks mit dem Bauwerk mit demjenigen ohne das zu duldende Bauwerk verglichen wird (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZR 78/21, BeckRS 2022, 2416 Rn. 5; Beschluss vom - V ZB 2/14, NJW-RR 2014, 1297 Rn. 7 für den insoweit vergleichbaren Fall der Wertminderung eines Grundstücks durch eine dingliche Belastung). Der Verkehrswert des Grundstücks der Beklagten mit der Mauer ist daher demjenigen ohne die Mauer gegenüberzustellen. Dieser Wertvergleich berücksichtigt die wertmindernde Wirkung der Inanspruchnahme eines Grundstücksteils auf das Gesamtgrundstück.
9 Der Wertverlust eines Grundstücks kann auch mit dem Wert der in Anspruch genommenen Fläche anzusetzen sein. Das gilt aber nur dann, wenn nichts dafür vorgetragen wird oder nicht zu erkennen ist, dass auch die Nutzung der übrigen Fläche beeinträchtigt worden ist (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 115/09, BeckRS 2010, 1087 Rn. 12; Beschluss vom - V ZR 97/06, BeckRS 2006, 15356, jeweils zur Bewertung eines Wertverlusts durch einen Überbau).
10 (2) Daran anknüpfend kann mit der von dem Berufungsgericht gegebenen Begründung eine den Betrag von 600 € übersteigende Beschwer der Beklagten nicht verneint werden. Das Berufungsgericht nimmt entgegen den vorstehend dargelegten Grundsätzen (vgl. oben Rn. 8) keinen Vergleich der Verkehrswerte des Gesamtgrundstücks mit und ohne Mauer vor, sondern stellt ohne Wertvergleich allein auf den Verkehrswert der von der Mauer beanspruchten Teilfläche ab, die es aufgrund ihrer Länge von 9,5 m und einer Breite von einigen Zentimetern für praktisch unverkäuflich erachtet. Dabei lässt es unberücksichtigt, dass sich durch die Inanspruchnahme des Teilstücks der Verkehrswert des Gesamtgrundstücks mindert und es für die Bestimmung der Wertminderung nicht auf die Marktgängigkeit des beanspruchten Grundstücksteils im Hinblick auf dessen Form ankommt. Der Wertverlust kann hier nicht mit dem Verkehrswert der in Anspruch genommenen Teilfläche bemessen werden, da das Berufungsgericht nicht festgestellt hat, dass die Nutzung der übrigen Fläche nicht erkennbar beeinträchtigt wird.
11 bb) Rechtsfehlerhaft verkennt das Berufungsgericht zudem, dass es die Berufung nicht allein deshalb als unzulässig verwerfen darf, weil die Beklagten zum Wert des Beschwerdegegenstands aus seiner Sicht nicht ausreichend vorgetragen haben.
12 (1) Im Berufungsverfahren hat der Berufungsführer den Wert der Beschwer gemäß § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft zu machen. Das Gesetz sieht jedoch kein auf den Wert des Beschwerdegegenstands bezogenes zwingendes, fristgebundenes Begründungserfordernis vor. Daher darf das Berufungsgericht die Berufung nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht allein deshalb als unzulässig verwerfen, weil der Wert des Beschwerdegegenstands nicht gemäß § 511 Abs. 3 ZPO glaubhaft gemacht worden ist. Vielmehr hat es den Wert bei der Entscheidung über die Zulässigkeit der Berufung auf Grund eigener Lebenserfahrung und Sachkenntnis nach freiem Ermessen zu schätzen (§§ 3 ff. ZPO; vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 254/17, NZM 2018, 995 Rn. 6 mwN); als Tatsachengericht muss es dabei den Akteninhalt von Amts wegen (vgl. § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO) auswerten.
13 (2) Der Entscheidung lässt sich nicht hinreichend sicher entnehmen, dass das Berufungsgericht das ihm eingeräumte Ermessen erkannt und durch eine eigene Schätzung unter Auswertung des Akteninhalts ausgeübt hat, da es die Berufung der Beklagten allein wegen fehlenden Vortrags zum Wert der Beschwer als unzulässig verwirft.
14 (a) Bei seiner Würdigung lässt das Berufungsgericht außer Acht, dass nach dem für das Rechtsbeschwerdeverfahren mangels anderslautender Feststellungen des Berufungsgerichts zugrunde zu legenden Vortrag der Beklagten ihr Grundstück als Bauland einzustufen sei, dessen Verkehrswert mindestens 100 € pro Quadratmeter betrage. In der Umgebung würden Baugrundstücke sogar zum Preis von 150 € pro Quadratmeter angeboten. Die beanspruchte Grundstücksfläche habe eine Größe von 6,23 m². Sie sei allein wegen der Mauer nicht bebaubar, so dass den Beklagten der gesamte Wert der Fläche von 623 € entgehe.
15 (b) Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das Berufungsgericht unter Berücksichtigung dieses Vortrags davon überzeugt hätte, dass der Wert der Beschwer 600 € übersteigt, obwohl die Beklagten nicht ausdrücklich zu dem Wertvergleich zwischen dem Grundstück mit und ohne Mauer vorgetragen haben.
16 3. Die Sache ist nicht im Sinne von § 577 Abs. 5 ZPO zur Entscheidung reif. Zwar kann das Rechtsbeschwerdegericht den Wert der Beschwer schätzen, wenn das Beschwerdegericht dies unterlassen hat (vgl. Senat, Beschluss vom - V ZB 115/09, BeckRS 2010, 1087 Rn. 11; , NJW-RR 2012, 1103 Rn. 17). Das Berufungsgericht hat aber - aus seiner Sicht folgerichtig - zum Wert der Beschwer der Beklagten bislang keine Feststellungen getroffen, die ausreichen, um dem Senat eine eigene Schätzung zu ermöglichen (vgl. § 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 Abs. 1 ZPO). Insbesondere hat es nicht auf die tatsächlichen Feststellungen im amtsgerichtlichen Urteil Bezug genommen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
IV.
17 1. Die Entscheidung ist nach alledem aufzuheben und zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO), das zunächst das Vorbringen der Beklagten zu würdigen und zu prüfen haben wird, ob unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Senats die Beschwer 600 € übersteigt.
18 2. Den Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Senat mangels tatsächlicher Feststellungen ausgehend von dem Vortrag der Beklagten zum Wertverlust des Grundstücks bestimmt.
Brückner Göbel Malik
Laube Schmidt
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:191224BVZB71.23.0
Fundstelle(n):
OAAAJ-84011