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BGH Urteil v. - IX ZR 60/24

Leitsatz

Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) folgende Frage vorgelegt:

Ist Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren dahingehend auszulegen, dass er in Ansehung der Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren einen konkludenten Verzicht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Grundsatz der Staatenimmunität für Klagen enthält, mit denen der Insolvenzverwalter nach Maßgabe des anwendbaren Insolvenzrechts geltend macht, Rechtshandlungen gegenüber einem Mitgliedstaat seien anfechtbar, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen?

Gesetze: Art 6 Abs 1 EUV 2015/848, Art 25 GG, § 20 Abs 2 GVG

Instanzenzug: Az: 3 U 43/23 Urteilvorgehend LG Offenburg Az: 2 O 343/22

Gründe

I.

1Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der O.     GmbH (im Folgenden: Schuldnerin). Er begehrt Rückzahlung von Umsatzsteuerzahlungen, die die Schuldnerin an den Beklagten, den Fiskus der Republik Polen, geleistet hat.

2Die Schuldnerin, deren Sitz sich in Deutschland befindet, stellte am beim Amtsgericht Offenburg (Deutschland) einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen. Sie informierte den Beklagten mit Schreiben vom über diesen Insolvenzantrag. Die Schuldnerin leistete von ihrem Geschäftskonto an den Beklagten am eine Zahlung in Höhe von 2.773.179 PLN und am eine Zahlung in Höhe von 3.557.487 PLN. Beide Zahlungen betrafen in den Monaten Oktober und November 2021 begründete Umsatzsteuerverbindlichkeiten. Sie entstanden, weil die Schuldnerin außereuropäische Waren in das von ihr unterhaltene Logistikzentrum in Bielany/Polen eingeführt hatte. Das Amtsgericht Offenburg eröffnete am das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin in Eigenverwaltung und bestellte den Kläger zum Sachwalter. Zum hob das Amtsgericht die angeordnete Eigenverwaltung auf und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter.

3Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die erste Zahlung vollständig und die zweite Zahlung in Höhe von 2.964.572,50 PLN, insgesamt also 5.737.751,50 PLN, zur Masse zurückzuzahlen. Den restlichen Teil der zweiten Zahlung greift er nicht an, weil es sich bei der Umsatzsteuer insoweit aufgrund einer zwischenzeitlich erfolgten Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter um Masseverbindlichkeiten handele. Der Beklagte rügt, er sei nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit, weil er als Fiskus der Republik Polen im Rahmen der Einziehung der polnischen Umsatzsteuer hoheitlich gehandelt habe. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat keinen Erfolg gehabt. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Anträge in vollem Umfang weiter.

II.

4Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (im Folgenden: Europäische Insolvenzverordnung oder EuInsVO) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel des Klägers ist deshalb das Verfahren auszusetzen und gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union einzuholen.

51. Die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, sind nach Art. 6 Abs. 1 EuInsVO zuständig für alle Klagen, die unmittelbar aus dem Insolvenzverfahren hervorgehen und in engem Zusammenhang damit stehen, wie beispielsweise Anfechtungsklagen. Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, hier also deutsches Recht, regelt insbesondere gemäß Art. 7 Abs. 2 Satz 2 Buchst. m EuInsVO, welche Rechtshandlungen anfechtbar sind, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen. Nach deutschem Recht bestimmen § 129 Abs. 1, § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO, dass eine vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommene und die Insolvenzgläubiger benachteiligende Rechtshandlung anfechtbar ist, die einem Insolvenzgläubiger eine Befriedigung gewährt hat, wenn sie nach dem Eröffnungsantrag vorgenommen worden ist und wenn der Gläubiger zur Zeit der Handlung den Eröffnungsantrag kannte. Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners weggegeben ist, muss gemäß § 143 Abs. 1 InsO zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden. Danach wäre der Klage stattzugeben.

62. Allerdings haben die Vorinstanzen angenommen, dass die vom Kläger als Insolvenzverwalter gegen den polnischen Fiskus erhobene Insolvenzanfechtungsklage unzulässig ist, weil die deutsche Gerichtsbarkeit aufgrund der für den Beklagten geltenden Staatenimmunität (§ 20 Abs. 2 GVG, Art. 25 GG) nicht eröffnet ist. Die Frage, ob die deutsche Gerichtsbarkeit nach den Grundsätzen der Staatenimmunität eröffnet ist, ist von Amts wegen (BVerfGE 46, 342, 359; , BGHZ 182, 10 Rn. 20; vom - VI ZR 516/14, ECLI:DE:BGH:2016:080316UVIZR516.14.0, Rn. 11 = BGHZ 209, 191 Rn. 11) und vor Ermittlung der internationalen Zuständigkeit (, ECLI:DE:BGH:2017:191217UXIZR796.16.0, Rn. 15 = BGHZ 217, 153 Rn. 15) zu prüfen.

7a) Da Polen das Europäische Übereinkommen über Staatenimmunität von 1972 nicht ratifiziert hat, ist von dem völkergewohnheitsrechtlich anerkannten Grundsatz auszugehen, dass ein Staat nicht fremdstaatlicher nationaler Gerichtsbarkeit unterworfen ist. Allerdings hat das Recht der allgemeinen Staatenimmunität, nicht zuletzt wegen des zunehmend kommerziellen grenzüberschreitenden Tätigwerdens staatlicher Stellen, einen Wandel von einem absoluten zu einem nur mehr relativen Recht durchlaufen. Es ist keine allgemeine Regel des Völkerrechts mehr, dass ein Staat Immunität auch für nicht-hoheitliches Handeln (acta iure gestionis) genießt (vgl. BVerfGE 16, 27, 33 ff; BVerfG, ECLI:DE:BVerfG:2006:ms20061206.2bvm000903, Rn. 35 = BVerfGE 117, 141, 152 f; BVerfG, ECLI:DE:BVerfG:2014:rk20140317.2bvr073613, Rn. 19 = NJW 2014, 1723 Rn. 19; ,ECLI:DE:BGH:2016:080316UVIZR516.14.0, Rn. 12 = BGHZ 209, 191 Rn. 12). Staatenimmunität besteht aber nach dem als Bundesrecht im Sinne von Art. 25 GG geltenden allgemeinen Völkergewohnheitsrecht (, NJW 1979, 1101) auch heute noch weitgehend uneingeschränkt für solche Akte, die hoheitliches Handeln eines Staates darstellen (acta iure imperii), soweit der ausländische Staat auf sie nicht verzichtet. Andernfalls könnte die rechtliche Prüfung durch die Gerichte eine Beurteilung des hoheitlichen Handelns erfordern, was mit dem Prinzip der souveränen Gleichheit von Staaten und dem daraus folgenden Rechtsprinzip, dass Staaten nicht übereinander zu Gericht sitzen, nicht vereinbar wäre (, ECLI:DE:BGH:2017:191217UXIZR796.16.0, Rn. 16 mwN = BGHZ 217, 153 Rn. 16 mwN).

8b) Die Abgrenzung zwischen hoheitlicher und nicht-hoheitlicher Staatstätigkeit richtet sich mangels völkerrechtlicher Unterscheidungsmerkmale grundsätzlich nach dem Recht des entscheidenden Gerichts (, ECLI:DE:BGH:2017:191217UXIZR796.16.0, Rn. 18 = BGHZ 217, 153 Rn. 18). Maßgebend für die Unterscheidung ist nach deutschem Recht die Natur der staatlichen Handlung oder des entstandenen Rechtsverhältnisses. Es kommt darauf an, ob der ausländische Staat in Ausübung der ihm zustehenden Hoheitsgewalt und damit öffentlich-rechtlich oder wie eine Privatperson, also privatrechtlich, tätig geworden ist ( aaO Rn. 17). Für die Frage der Immunität ist aber nicht auf die Rechtsnatur des Grundverhältnisses abzustellen, sondern auf die Natur der staatlichen Handlung, also die Rechtsnatur der Maßnahme, über deren Berechtigung die Parteien streiten ( aaO Rn. 22). Ein actus iure imperii liegt vor, wenn ein Staat den seiner Hoheitsgewalt Unterworfenen zum Zwecke der Einnahmenerzielung einseitig und gegenleistungsfrei Steuern und sonstige Abgaben auferlegt (BVerfG,ECLI:DE:BVerfG:2020:rk20200506.2bvr033118, Rn. 21 = NJW 2020, 3647 Rn. 21). Die Erhebung öffentlicher Abgaben ist in jedem Staatswesen schon deshalb hoheitlicher Natur, weil erst durch die Erhebung entsprechender Einnahmen die Ausübung staatlicher Tätigkeiten möglich wird (BVerfG,ECLI:DE:BVerfG:2014:rk20140317.2bvr073613, Rn. 22 = NJW 2014, 1723 Rn. 22).

9c) Nach diesen der deutschen Rechtsordnung entnommenen Maßstäben geht es hier um acta iure imperii.

10aa) Zwar ist der nunmehr vom Kläger erhobene anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch von Ansprüchen aus dem zu Grunde liegenden Rechtsverhältnis wesensverschieden und folgt eigenen Regeln. Er verdrängt in seinem Anwendungsbereich die allgemeineren Regeln der zu Grunde liegenden Rechtsverhältnisse, insbesondere des Steuer- und Abgabenrechts, und eröffnet dem Insolvenzverwalter eine Rückforderungsmöglichkeit, die nach dem außerhalb der Insolvenz geltenden Recht dem Verfügenden selbst verwehrt ist (, NZI 2011, 323 Rn. 6). Der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch wird nicht aus der vormaligen Rechtsbeziehung zwischen Insolvenzschuldner und Anfechtungsgegner hergeleitet und gestaltet dieses Rechtsverhältnis auch nicht um (BFH, NZI 2013, 102 Rn. 11).

11bb) Im Schrifttum wird deshalb teilweise angenommen, da es um zivilrechtliche Ansprüche gehe und die Steuererhebung als solche, insbesondere deren Rechtmäßigkeit, nicht in Frage stehe, gehe es nicht um hoheitliches Handeln (Skauradszun in Skauradszun/Fridgen, BeckOK StaRUG, 2024, § 2 Rn. 44c; Thole, ZRI 2024, 384 f). Diesen Erwägungen kann nicht gefolgt werden.

12cc) Unbeschadet der privatrechtlichen Einkleidung des Anspruchs greifen die Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung in besonders starker Weise in die ausländische Steuererhebung ein. Der Beklagte hat gegenüber der Schuldnerin ausschließlich hoheitlich und gegenüber dem Kläger, soweit hier von Interesse, überhaupt nicht gehandelt. Auch wenn deutsche Gerichte nicht die - im Rahmen der Anfechtung nach § 130 Abs. 1 InsO irrelevante - Rechtmäßigkeit der Steuererhebung zu beurteilen hätten, könnten sie doch die Finanzbehörden eines fremden Staates zur Rückgewähr erhobener Steuern zur Insolvenzmasse verurteilen und dadurch Einfluss auf den Verbleib von Steuermitteln beim ausländischen Fiskus nehmen. Damit betrifft das vorliegende Verfahren Maßnahmen, die dem Kernbereich des völkerrechtlich anerkannten staatlichen Handelns zuzurechnen sind. Ein Staat muss es sich nicht auch dann gefallen lassen, dass ein fremdes Gericht die Wirkungen seiner hoheitlichen Handlungen rückgängig macht, wenn das Gericht dabei deren Rechtmäßigkeit nicht überprüft (Kopp, NZI 2021, 657, 662; im Ergebnis ebenso Reimer, IWRZ 2024, 247, 249). Das Unterbleiben einer Prüfung der Rechtmäßigkeit der hoheitlichen Maßnahme berührt nur vordergründig nicht die Staatenimmunität; denn bei näherer Betrachtung greift eine Verurteilung zur Rückgewähr ohne Rücksicht auf die Rechtmäßigkeit des Hoheitsakts in wesentlich stärkerem Maße in das ausländische staatliche Handeln ein.

13d) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann der Verzicht auf die Staatenimmunität von einem ausländischen Staat in einem völkerrechtlichen Vertrag, einem privatrechtlichen Vertrag oder, speziell für ein bestimmtes gerichtliches Verfahren, vor Gericht erklärt werden; allenfalls kann auch in rügelosen Einlassungen eines ausländischen Staates zur Sache ein konkludenter Verzicht auf die Staatenimmunität gesehen werden (BVerfG,ECLI:DE:BVerfG:2014:rk20140317.2bvr073613, Rn. 24 = NJW 2014, 1723 Rn. 24). Eine demnach grundsätzlich mögliche Verzichtserklärung durch rügelose Einlassung im Prozess ist von Seiten des Beklagten, der sich durchgängig auf die Staatenimmunität berufen hat, nicht erfolgt.

143. Die Revision des Klägers beruft sich jedoch darauf, der Regelung des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO könne die Bedeutung eines Verzichts auf den Grundsatz der Staatenimmunität entnommen werden.

15a) Allerdings kommt der Europäischen Insolvenzverordnung nach Auffassung des Senats kein Anwendungsvorrang gegenüber den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu. Bei einem Konflikt mit Bestimmungen des sekundären Unionsrechts - wie der Europäischen Insolvenzverordnung - bewendet es beim Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts (Terhechte in Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl., Art. 47 EUV Rn. 19; Geiger/Khan in Geiger/Khan/Kotzur/Kirchmair, EUV/AEUV, 7. Aufl., Art. 47 EUV Rn. 9).

16b) Der Senat hält es jedoch für möglich, dass die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO einen konkludenten Verzicht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Grundsatz der Staatenimmunität für Klagen enthält, mit denen der Insolvenzverwalter nach Maßgabe des anwendbaren Insolvenzrechts geltend macht, Rechtshandlungen gegenüber einem Mitgliedstaat seien anfechtbar, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen, jedenfalls insoweit, als es die Rückzahlung von Steuerzahlungen des Schuldners betrifft.

17aa) Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union haben die Europäische Insolvenzverordnung gestützt auf den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), insbesondere auf Art. 81 AEUV, erlassen, dessen Vertragspartei auch Polen ist. Indem die Mitgliedstaaten die Europäische Union als supranationale Union gründen und ihr Hoheitsrechte übertragen (Art. 1 AUEV), stellen sie sich unter diese Herrschaft in dem Maß, den das Vertragswerk festschreibt (Ruffert in Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl., Art. 1 AEUV Rn. 7). Über die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EuInsVO dahingehend auszulegen ist, dass er in Ansehung der Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren einen konkludenten Verzicht auf den Grundsatz der Staatenimmunität enthält, besteht ein Meinungsstreit (bejahend Kümpel, ZInsO 2024, 1583, 1585 f; im Ergebnis ebenso Skauradszun in Skauradszun/Fridgen, BeckOK StaRUG, 2024, § 2 Rn. 44d, der allerdings nicht von einem Verzicht, sondern von einem Anwendungsvorrang ausgeht; verneinend Kopp, NZI 2021, 657, 661; Cranshaw, ZInsO 2024, 1797, 1807 unter III.4., 1808 unter III.5.c)). Insoweit ist die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig (vgl. zu dieser Voraussetzung  283/81, C.I.L.F.I.T. u.a.,ECLI:EU:C:1982:335 = NJW 1983, 1257; vom - C-160/14, Ferreira da Silva e Brito u.a., ECLI:EU:C:2015:565, Rn. 38 = EuZW 2016, 111 Rn. 38; vom - C-561/19, Consorzio Italian Management u.a.,ECLI:EU:C:2021:799, Rn. 33 ff, 57 = NJW 2021, 3303 Rn. 33 ff, 57), dass für vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt.

18bb) Die Europäische Insolvenzverordnung enthält weder Privilegien für Mitgliedstaaten und deren Organe und Behörden noch nimmt sie diese generell von der Insolvenzanfechtung aus. Nach Erwägungsgrund 63 EuInsVO sollte jeder Gläubiger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder Sitz in der Union hat, das Recht haben, seine Forderungen in jedem in der Union anhängigen Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners anzumelden, was ausdrücklich auch für Steuerbehörden und Sozialversicherungsträger gelten sollte. Art. 2 Nr. 12 EuInsVO schließt bei der Definition als "ausländischer Gläubiger" ausdrücklich die Steuerbehörden und die Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten ein. Daraus wird zum Teil der Schluss gezogen, die Gleichstellung hoheitlich tätiger Gläubiger mit anderen müsse auch Rechtsstreitigkeiten über die angreifbare Befriedigung solcher Forderungen betreffen (Vallender/Hänel, EuInsVO, 3. Aufl., Art. 6 Rn. 37). Daneben enthält die Europäische Insolvenzverordnung Regelungen zu Sanierungsplänen (Art. 56 Abs. 2 Buchst. c, Art. 60 Abs. 1 Buchst. b EuInsVO), deren Gestaltung sich gemäß Art. 7 Abs. 1 EuInsVO nach der lex fori concursus richten soll. Das könnte es nahelegen, dass Gerichte des eröffnenden Mitgliedstaats auch Entscheidungen treffen dürfen, die Forderungen ausländischer Steuerbehörden im Sinne von Art. 2 Nr. 12 EuInsVO betreffen, und dass diese Entscheidungen in der Folge nach Maßgabe des Art. 32 EuInsVO anzuerkennen sind (so Skauradszun in Skauradszun/Fridgen, BeckOK StaRUG, 2024, § 2 Rn. 44d).

19cc) Sowohl das Erfordernis eines effektiven Rechtsschutzsystems als auch das Ziel eines funktionierenden Binnenmarktes sprechen dafür, dass die Europäische Insolvenzverordnung die Durchsetzung der nach dem anwendbaren nationalen Insolvenzrecht bestehenden Rechte so weit wie möglich zu ermöglichen sucht. Könnte sich ein Beklagter im Anwendungsbereich der Europäischen Insolvenzverordnung über Insolvenzverfahren gegenüber Anfechtungsklagen auf seine Staatenimmunität berufen, wären Zahlungen an ausländische Mitgliedstaaten und deren Organe im Ergebnis von der Insolvenzanfechtung praktisch ausgenommen. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom über Insolvenzverfahren (ABl. 2000 L 160, 1) dahin ausgelegt, dass die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, für eine Insolvenzanfechtungsklage gegen einen Beklagten, der seinen Sitz oder Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat hat, eine ausschließliche Zuständigkeit ist (, Wiemer & Trachte GmbH,ECLI:EU:C:2018:902, Rn. 36 = NZI 2018, 994 Rn. 36, zu Art. 3 Abs. 1 EuInsVO aF). Der Senat geht davon aus, dass diese Auslegung auch auf Art. 6 Abs. 1 EuInsVO zutrifft. Dies birgt die Gefahr, dass nach dem anwendbaren Insolvenzrecht bestehende Anfechtungsansprüche gegenüber Mitgliedstaaten der Europäischen Union in keinem Gerichtsstand durchgesetzt werden könnten: Klagen vor dem Gericht des Staates der Verfahrenseröffnung wären im Hinblick auf den Grundsatz der Staatenimmunität unzulässig, Klagen vor Gerichten des Mitgliedstaates wären wegen der entgegenstehenden ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichte des Eröffnungsstaates unzulässig. Die Möglichkeit, ein Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 34 ff EuInsVO in Polen einzuleiten, erscheint nicht geeignet, dieses Rechtsschutzdefizit auszugleichen. Es ist schon zweifelhaft, ob sich ein allein zur Verfolgung von Insolvenzanfechtungsansprüchen einzuleitendes Sekundärinsolvenzverfahren nach Art. 34 ff EuInsVO in Polen als zulässig - und für den Verwalter als prozesswirtschaftlich - darstellen würde. Da nach Art. 35 EuInsVO auf das Sekundärinsolvenzverfahren die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates Anwendung finden, in dessen Hoheitsgebiet das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet worden ist, wäre jedenfalls nicht das deutsche Insolvenzanfechtungsrecht, sondern das polnische Insolvenzanfechtungsrecht anwendbar (Art. 7 Abs. 2 Buchst. m EuInsVO). Sieht dieses keine Anfechtungsmöglichkeiten vor, könnte der Anfechtungsanspruch nicht durchgesetzt werden, obwohl der Grundsatz der Staatenimmunität nicht dazu dient, jede Rechtsdurchsetzung gegenüber dem Staat zu verhindern. Es kommt hinzu, dass die Europäische Insolvenzverordnung in Art. 16 EuInsVO eine eigenständige Regelung zum Schutz des Anfechtungsgegners enthält.

Schoppmeyer                        Röhl                        Selbmann

                             Harms                    Weinland

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:160125BIXZR60.24.0

Fundstelle(n):
KAAAJ-83908