Vorabentscheidungsersuchen – Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV – Körperschaftsteuer – Gruppeninternes grenzüberschreitendes Darlehen zur Finanzierung des Erwerbs oder Zukaufs von Anteilen an einer externen Gesellschaft, die nach diesem geschäftlichen Vorgang mit der Gruppe verbunden ist – Abzug der für dieses Darlehen gezahlten Zinsen – Unter Bedingungen des freien Wettbewerbs abgeschlossenes Darlehen – Begriff ‚rein künstliche Gestaltung‘ – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Leitsatz
Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Gewinns eines Steuerpflichtigen der Abzug von Zinsen im Zusammenhang mit einer Darlehensschuld, die bei einem verbundenen Unternehmen eingegangen wurde und mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen zusammenhängt, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen darstellt, vollständig versagt wird, wenn diese Schuld als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung eingestuft wird, und zwar selbst dann, wenn diese Schuld unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurde und diese Zinsen den Betrag nicht übersteigen, der zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wäre.
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49, 56 und 63 AEUV.
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der X BV, einer Gesellschaft niederländischen Rechts, und dem Staatssecretaris van Financiën (Staatssekretär für Finanzen, Niederlande, im Folgenden: Steuerbehörde) über die Möglichkeit eines steuerlichen Abzugs von Zinsen, die für ein gruppeninternes Darlehen gezahlt wurden, das zur Finanzierung des Erwerbs einer externen Gesellschaft eingegangen wurde.
Niederländischer rechtlicher Rahmen
3 Art. 10a der Wet op de vennootschapsbelasting 1969 (Körperschaftsteuergesetz 1969) in der im Jahr 2007 geltenden Fassung (Stb. 2006, Nr. 631, im Folgenden: Körperschaftsteuergesetz) bestimmt:
„1. Bei der Gewinnermittlung … sind Zinsen – einschließlich Aufwendungen und Wechselkursergebnissen – nicht abzugsfähig, wenn sie sich auf Schulden beziehen, die rechtlich oder tatsächlich unmittelbar oder mittelbar an ein verbundenes Unternehmen oder eine verbundene natürliche Person zu zahlen sind, sofern die Schulden rechtlich oder tatsächlich unmittelbar oder mittelbar mit einem der folgenden Rechtsgeschäfte im Zusammenhang stehen:
…
c. dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen, das nach dem Erwerb oder Zukauf der Anteile zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen wird, durch den Steuerpflichtigen, durch ein mit dem Steuerpflichtigen verbundenes und der Körperschaftsteuer unterliegendes Unternehmen oder durch eine mit dem Steuerpflichtigen verbundene und in den Niederlanden ansässige natürliche Person.
…
3. Absatz 1 ist nicht anzuwenden, wenn der Steuerpflichtige nachweisen kann, dass:
a. das Darlehen und das damit verbundene Rechtsgeschäft überwiegend auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhen oder
b. eine nach niederländischen Kriterien angemessene Gewinn- oder Einkommensteuer letztlich auf die Zinsen bei der Person erhoben wird, an die die Zinsen rechtlich oder tatsächlich unmittelbar oder mittelbar zu zahlen sind, und weder Verluste noch andere Forderungen aus den Jahren vor dem Jahr der Darlehensaufnahme mit der Folge verrechnet werden, dass letztlich nach den genannten angemessenen Maßstäben auf die Zinsen keine Steuer geschuldet ist, außer wenn anzunehmen ist, dass das Darlehen zur Verrechnung von Verlusten oder anderen Forderungen aufgenommen wurde, die im selben Jahr entstanden sind oder kurzfristig entstehen werden. Eine auf den Gewinn erhobene Steuer ist nach den niederländischen Kriterien angemessen, wenn sie zu einer Abgabe in Höhe von mindestens 10 % des nach den niederländischen Kriterien ermittelten steuerpflichtigen Gewinns führt …
4. Für die Zwecke dieses Artikels … gelten folgende Unternehmen als mit dem Steuerpflichtigen verbunden:
a. ein Unternehmen, an dem der Steuerpflichtige zu mindestens einem Drittel beteiligt ist;
b. ein Unternehmen, das eine Beteiligung von mindestens einem Drittel an dem Steuerpflichtigen hält;
c. ein Unternehmen, an dem ein Dritter zu mindestens einem Drittel beteiligt ist, wenn dieser Dritte auch zu mindestens einem Drittel an dem Steuerpflichtigen beteiligt ist;
…“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
4 X gehört zu einer multinationalen Unternehmensgruppe. Die einzige Gesellschafterin von X ist A, eine Gesellschaft belgischen Rechts, deren Anteile B gehörten, einer anderen Gesellschaft belgischen Rechts, die in der Zeit von 2000 bis zum insgesamt 39 % des Kapitals von A hielt und seitdem 44,47 %. Die übrigen Anteile von A notierten an der Börse von Brüssel (Belgien) und gehörten daher der Öffentlichkeit.
5 Die von B und A gebildete Gruppe umfasst C, eine in Belgien ansässige Gesellschaft. Zwischen 1999 und 2010 hatte C nach den belgischen Steuervorschriften den Status eines „Koordinationszentrums“ für Steuerzwecke. Das bedeutete, dass sie von einer steuerlichen Sonderregelung profitierte, bei der u. a. ihr steuerpflichtiger Gewinn pauschal ermittelt wurde und sie keine Vorsteuer auf Zinszahlungen einbehalten musste. 2000 gehörten A 53,05 % und B 46,95 % der Anteile an C. Am stieg die Beteiligung von A auf 64,3 % und sank die von B auf 27,8 %, die restlichen 7,9 % der Anteile gehörten Dritten.
6 Im Jahr 2000 erwarb X 72 % der Anteile an F, einer Gesellschaft niederländischen Rechts, von Dritten, wobei A von diesen Dritten die verbliebenen 28 % dieser Anteile erwarb. X finanzierte den Erwerb dieser Anteile mit Darlehen, die sie bei C aufnahm, die ihr diese Darlehen aus dem Eigenkapital gewährte, das A als Kapitaleinlage zur Verfügung gestellt hatte.
7 In dem an X gerichteten Körperschaftsteuerbescheid für das Steuerjahr 2007 verweigerte die Steuerbehörde den Abzug der von X an C gezahlten Zinsen. X ging zunächst bei der Rechtbank Gelderland (Bezirksgericht Geldern, Niederlande) und anschließend beim Gerechtshof Arnhem Leeuwarden (Berufungsgericht Arnheim-Leeuwarden, Niederlande) gegen diese Ablehnung vor. Das letztgenannte Gericht entschied in seinem Urteil vom insbesondere, dass die Art. 49, 56 und 63 AEUV der in Beschränkung von Zinsabzügen gemäß Art. 10a des Körperschaftsteuergesetzes nicht entgegenstünden, wonach Zinsen für bei einem verbundenen Unternehmen eingegangene Schulden nicht abzugsfähig seien, sofern diese Schulden mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen zusammenhingen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen werde, es sei denn, der Steuerpflichtige erbringe den Nachweis, dass eine der beiden in Art. 10a Abs. 3 genannten Bedingungen erfüllt sei.
8 X legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande), dem vorlegenden Gericht, ein. Dieses Gericht ist der Ansicht, dass die im Ausgangsrechtsstreit fragliche nationale Regelung grenzüberschreitende Sachverhalte benachteiligen könne. Ein inländisches mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen erfülle nämlich grundsätzlich die Bedingung von Art. 10a Abs. 3 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes, während ein gebietsfremdes mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen diese Bedingung de facto weniger oft erfülle und die Zinsaufwendungen für ein bei letztgenanntem Unternehmen aufgenommenes Darlehen nur dann abgezogen werden könnten, wenn die Bedingung von Art. 10a Abs. 3 Buchst. a dieses Gesetzes erfüllt sei.
9 Eine solche Beschränkung kann nach Auffassung des vorlegenden Gerichts gleichwohl durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sein, Steuerhinterziehung und ‑umgehung zu bekämpfen, da das spezifische Ziel der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Regelung darin bestehe, Verhaltensweisen von zwei oder mehr verbundenen Unternehmen zu verhindern, die darin bestünden, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu schaffen, mittels künstlich erzeugter Zinsaufwendungen – nämlich Zinsen für eine Darlehensschuld, die willkürlich und nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen eingegangen worden sei – der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet werde.
10 Das vorlegende Gericht erläutert, dass Darlehen insbesondere dann willkürlich und nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen eingegangen worden seien, wenn innerhalb einer Gruppe verbundener Unternehmen die Art und Weise der Finanzierung einer für sich betrachteten wirtschaftlich begründeten Transaktion in einem solchen Grad von steuerlichen Motiven geprägt sei, dass Rechtsgeschäfte dazu gehörten, die für die Verwirklichung dieser wirtschaftlich begründeten Zwecke nicht erforderlich seien und die ohne diese steuerlichen Motive nicht vorgenommen worden wären, selbst wenn die Zinsaufwendungen für diese Darlehen denen entsprächen, die zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wären. Es gehe bei der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Regelung daher nicht um eine Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage durch exzessive Zinsaufwendungen, sondern durch künstlich erzeugte Zinsaufwendungen.
11 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass die vollständige Versagung des Abzugs der auf diese Weise künstlich erzeugten Zinsaufwendungen in einem angemessenen Verhältnis zu dem Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehung und ‑umgehung stehe, da erstens diese Versagung auf Fälle beschränkt sei, in denen das Darlehen innerhalb einer Gruppe verbundener Gesellschaften in einem solchen Grad von steuerlichen Motiven geprägt sei, dass dieses Darlehen für die Verwirklichung von wirtschaftlich begründeten Zwecken nicht notwendig sei und von Unternehmen nicht eingegangen worden wäre, zwischen denen keine besonderen Beziehungen bestünden, und da zweitens die Bedingungen für die Nachweiserbringung und für den Abzug von Zinsaufwendungen nicht so streng seien, dass dieser Abzug faktisch keine Bedeutung habe.
12 Dem vorlegenden Gericht stellt sich gleichwohl die Frage, ob seine Analyse insbesondere angesichts des Urteils vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 51 und 56), Bestand haben kann. Zum einen möchte es wissen, ob aus diesem Urteil abgeleitet werden kann, dass Geschäfte, die unter Bedingungen des freien Wettbewerbs geschlossen worden sind, bereits aus diesem Grund keine rein künstlichen Konstruktionen darstellen. In Rn. 56 dieses Urteils habe der Gerichtshof nämlich im Wesentlichen entschieden, dass Geschäfte vom Anwendungsbereich der in jener Rechtssache fraglichen nationalen Regelung umfasst sein könnten, die unter Bedingungen des freien Wettbewerbs geschlossen worden seien und folglich keine rein künstlichen oder fiktiven Konstruktionen darstellten, die zu dem Zweck errichtet worden seien, die auf aus Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne normalerweise zu entrichtende Steuer zu umgehen. Zum anderen stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob es von Bedeutung ist, dass sich die in der vorliegenden Rechtssache fragliche Regelung – anders als die Regelung, um die es in der Rechtssache ging, in der das vorgenannte Urteil ergangen ist – nicht nur auf eine interne Umhängung bezieht, sondern auch auf die externe Übernahme eines Unternehmens, das nach dieser Übernahme zu einem mit der Gruppe verbundenen Unternehmen wird.
13 Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind die Art. 49, 56 und/oder 63 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach die Zinsen im Zusammenhang mit einer Darlehensschuld gegenüber einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen, die zum Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein verbundenes Unternehmen darstellt, eingegangen wurde, bei der Ermittlung des Gewinns des Steuerpflichtigen nicht abgezogen werden, weil die betreffende Schuld als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung einzustufen ist, und zwar unabhängig davon, ob diese Schuld als solche unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurde?
Bei Verneinung von Frage 1: Sind die Art. 49, 56 und/oder 63 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach der Abzug von Zinsen im Zusammenhang mit einer als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung eingestuften Darlehensschuld gegenüber einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen, die zum Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein verbundenes Unternehmen darstellt, eingegangen wurde, bei der Ermittlung des Gewinns des Steuerpflichtigen vollständig versagt wird, auch wenn diese Zinsen als solche den Betrag nicht übersteigen, der zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wäre?
Macht es für die Beantwortung der Fragen 1 und/oder 2 einen Unterschied, ob sich der betreffende Erwerb oder Zukauf der Anteile a) auf ein Unternehmen bezieht, das bereits vor diesem Erwerb oder Zukauf ein mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen war, oder b) auf ein Unternehmen, das erst nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen wird?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens
14 Mit Schriftsatz, der am bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, hat X nach der Stellung der Schlussanträge des Generalanwalts beantragt, gemäß Art. 83 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs das mündliche Verfahren wiederzueröffnen.
15 Zur Stützung dieses Antrags macht X im Wesentlichen geltend, dass sich der Generalanwalt dadurch, dass er dem Gerichtshof nahegelegt habe, den Ansatz, den er im Urteil vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), gewählt habe, zu überdenken, in Nr. 71 seiner Schlussanträge auf Vorbringen stütze, das zwischen den Verfahrensbeteiligten nicht erörtert worden sei. X möchte deshalb zur Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit vortragen, dass ein Übergangszeitraum einzuhalten sei, wenn der vom Generalanwalt vertretene Ansatz vom Gerichtshof übernommen werde, und dass dieser Ansatz für sie womöglich mit diskriminierenden Folgen verbunden sei, weil sie in den Niederlanden und nicht in Schweden ansässig sei. X möchte auch auf die Frage eingehen, welche Folgen dieser Ansatz für die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) habe.
16 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen stellt, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Die Schlussanträge des Generalanwalts oder ihre Begründung binden den Gerichtshof nicht (Urteil vom , Chief Appeals Officer u. a., C‑488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
17 Außerdem kann der Umstand, dass ein Beteiligter im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom , Chief Appeals Officer u. a., C‑488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).
18 Zwar kann der Gerichtshof nach Art. 83 der Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für seine Entscheidung ist, oder wenn ein zwischen den Parteien oder den Beteiligten im Sinne von Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist (Urteil vom , Chief Appeals Officer u. a., C‑488/21, EU:C:2023:1013, Rn. 36).
19 Vorliegend ist dies jedoch nicht der Fall. Zunächst ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Frage nach der Tragweite des Urteils vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung erörtert worden ist. Der Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens enthält auch keine neue Tatsache, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung wäre, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache zu treffen hat.
20 Deshalb sieht sich der Gerichtshof nach Anhörung des Generalanwalts durch die verschiedenen Argumente, die vor dem Gerichtshof erörtert worden sind, ausreichend informiert und gelangt zu der Auffassung, dass kein Grund besteht, die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens zu beschließen.
Zu den Vorlagefragen
21 Mit seinen drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 49, 56 und 63 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach bei der Ermittlung des Gewinns eines Steuerpflichtigen der Abzug von Zinsen im Zusammenhang mit einer Darlehensschuld, die bei einem verbundenen Unternehmen eingegangen wurde und mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen zusammenhängt, das nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen wird, vollständig versagt wird, wenn diese Schuld als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung eingestuft wird, und zwar selbst dann, wenn diese Schuld unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurde und diese Zinsen den Betrag nicht übersteigen, der zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wäre.
22 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass es im Ausgangsrechtsstreit um einen Steuerbescheid für das Steuerjahr 2007 geht, so dass darauf in zeitlicher Hinsicht der EG-Vertrag Anwendung findet. Da die Auslegung der Bestimmung des AEU-Vertrags zur Niederlassungsfreiheit, zum freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr ohnehin auch für die entsprechenden Bestimmungen des EG-Vertrags gilt, wird gleichwohl auf die vom vorlegenden Gericht genannten Art. 49, 56 und 63 AEUV Bezug genommen.
Zur einschlägigen Grundfreiheit
23 Aus ständiger Rechtsprechung ergibt sich, dass für die Feststellung, ob eine nationale Regelung unter die eine oder die andere der nach dem AEU-Vertrag garantierten Grundfreiheiten fällt, auf den Gegenstand der betreffenden Regelung abzustellen ist (Urteil vom , Gallaher, C‑707/20, EU:C:2023:101, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 So fällt eine nationale Regelung, die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen, in den Anwendungsbereich von Art. 49 AEUV (Urteil vom , Gallaher, C‑707/20, EU:C:2023:101, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Zudem ist der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entnehmen, dass nationale Rechtsvorschriften, die nur die Beziehungen innerhalb einer Unternehmensgruppe regeln, vorwiegend die Niederlassungsfreiheit betreffen (Urteil vom , Gallaher, C‑707/20, EU:C:2023:101, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
26 Vorliegend bezieht sich die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung auf die steuerliche Behandlung von Zinsen für Darlehensschulden, die ein Steuerpflichtiger bei einem mit ihm verbundenen Unternehmen oder einer mit ihm verbundenen natürlichen Person eingeht, sofern sich diese Schulden auf den Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen beziehen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen wird.
27 Gemäß Art. 10a Abs. 4 des Körperschaftsteuergesetzes gelten Unternehmen als verbunden, wenn sie unmittelbar oder mittelbar mindestens 33,3 % der Anteile an dem jeweils anderen Unternehmen halten oder wenn ein drittes Unternehmen unmittelbar oder mittelbar mindestens 33,3 % der Anteile an den beiden anderen Unternehmen hält.
28 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann ein solcher Prozentsatz es der beteiligenden Gesellschaft ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der mit ihr verbundenen Gesellschaft auszuüben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Hornbach-Baumarkt, C‑382/16, EU:C:2018:366, Rn. 29).
29 Da sich der Gegenstand der im Ausgangsverfahren fraglichen Regelung auf die steuerliche Behandlung von Zinsen bezieht, die für zwischen Unternehmen innerhalb einer Gruppe eingegangene Schulden gezahlt wurden, wobei diese Unternehmen unmittelbar oder mittelbar sicheren Einfluss aufeinander ausüben können, fällt diese Regelung somit in den Geltungsbereich der Niederlassungsfreiheit.
30 Selbst wenn die Steuerregelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, den freien Dienstleistungs- oder Kapitalverkehr beschränken sollte, wären derartige Beschränkungen die unvermeidliche Folge einer etwaigen Behinderung der Niederlassungsfreiheit und rechtfertigten keine eigenständige Prüfung der Vorlagefragen im Licht der Art. 56 und 63 AEUV (vgl. entsprechend Urteil vom , AllianzGI-Fonds AEVN, C‑545/19, EU:C:2022:193, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Die Vorlagefragen sind daher im Hinblick auf Art. 49 AEUV zu beantworten.
32 Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass nach diesem Artikel Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu beseitigen sind. Mit dieser Freiheit ist für die im Einklang mit den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in der Europäischen Union haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben (Urteil vom , Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
33 Eine sich aus einer Gesetzesregelung eines Mitgliedstaats ergebende Ungleichbehandlung zum Nachteil von Gesellschaften, die ihre Niederlassungsfreiheit ausüben, ist nur zulässig, wenn sie objektiv nicht miteinander vergleichbare Situationen betrifft oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und in einem angemessenen Verhältnis zur verfolgten Zielsetzung steht, was bedeutet, dass diese Ungleichbehandlung geeignet sein muss, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Cilevičs u. a., C‑391/20, EU:C:2022:638, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom , W [Abzugsfähigkeit dauernder Verluste einer gebietsfremden Betriebsstätte], C‑538/20, EU:C:2022:717, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Zur Ungleichbehandlung
34 Es ist darauf hinzuweisen, dass die Niederlassungsfreiheit einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft, die ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat durch eine Tochtergesellschaft ausübt, durch jede Beschränkung berührt werden kann, von der diese Tochtergesellschaft betroffen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Vodafone Magyarország, C‑75/18, EU:C:2020:139, Rn. 41).
35 Außerdem hat der Gerichtshof in einem Fall, in dem die Steuerbehörde eines Mitgliedstaats es gegenüber einer Gruppe von Gesellschaften abgelehnt hatte, einer in diesem Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft, deren Muttergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat ansässig war, zu erlauben, bestimmte Zinskosten in Abzug zu bringen, die sie an eine andere, in diesem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft derselben Gruppe gezahlt hatte – während dieser Abzug möglich gewesen wäre, wenn der Zinsempfänger seinen Sitz im erstgenannten Mitgliedstaat gehabt hätte –, entschieden, dass sich eine solche Ungleichbehandlung nachteilig auf die Niederlassungsfreiheit auswirkt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 40 und 41).
36 Deshalb muss geprüft werden, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung zu einer Ungleichbehandlung führt, die sich nachteilig auf die Niederlassungsfreiheit auswirkt.
37 Insoweit sind nicht nur offensichtliche Diskriminierungen aufgrund des Sitzes der Gesellschaften verboten, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (Urteil vom , Tesco-Global Áruházak, C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Insbesondere stellt eine Steuerregelung, die an ein scheinbar objektives Unterscheidungskriterium anknüpft, aber aufgrund ihrer Merkmale in den meisten Fällen Gesellschaften benachteiligt, die ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat haben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Gesellschaften mit Sitz in dem die Abgabe erhebenden Mitgliedstaat befinden, eine nach den Art. 49 und 54 AEUV verbotene mittelbare Diskriminierung aufgrund des Sitzes der Gesellschaften dar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Cofidis, C‑340/22, EU:C:2023:1019, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass Art. 10a Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes, der unter den in dieser Bestimmung geregelten Bedingungen die Versagung des Abzugs von Zinsen vorsieht, die für eine bei einem verbundenen Unternehmen aufgenommene Darlehensschuld gezahlt wurden, nicht danach unterscheidet, ob die betreffende Gruppe von Gesellschaften grenzübergreifend ist oder nicht (vgl. entsprechend Urteil vom , X und X, C‑398/16 und C‑399/16, EU:C:2018:110, Rn. 35).
40 Art. 10a Abs. 3 Buchst. a und b des Körperschaftsteuergesetzes, der die Bedingungen festlegt, unter denen ein solcher Abzug dennoch möglich ist, findet ebenfalls ohne Unterschied auf interne und grenzübergreifende Situationen Anwendung.
41 Wie in Rn. 8 des vorliegenden Urteils dargelegt, ist das vorlegende Gericht gleichwohl hinsichtlich Art. 10a Abs. 3 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes – wonach erstens letztlich eine Steuer auf die betreffenden Zinsen erhoben wird und zweitens diese Steuer nach den Kriterien des niederländischen Rechts angemessen sein muss, was bedeutet, dass sie zu einer Abgabe in Höhe von mindestens 10 % des nach diesen Kriterien ermittelten steuerpflichtigen Gewinns führt – der Ansicht, dass diese Bestimmung trotzdem zur Folge habe, dass grenzübergreifende Situationen benachteiligt würden.
42 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das ausschließlich zuständig ist, den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens zu beurteilen und die betreffende nationale Regelung auszulegen, festzustellen, ob eine Steuer in Höhe unter 10 % des nach diesen Kriterien ermittelten steuerpflichtigen Gewinns auf in den Niederlanden ansässige verbundene Unternehmen, die Zinsen empfangen, angewandt werden kann.
43 Sollte dies nicht der Fall sein oder eine solche Steuer – obwohl theoretisch möglich – in der Praxis nicht angewandt werden, ist davon auszugehen, dass Art. 10a Abs. 3 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes eine Bedingung stellt, die zwar objektiv scheint, aber faktisch erfüllt wird, wenn eine in den Niederlanden ansässige Gesellschaft Zinsen an ein in diesem Mitgliedstaat ansässiges verbundenes Unternehmen zahlt. Daraus ergibt sich auch, dass sich nur in den Niederlanden ansässige Gesellschaften, die Zinsen an ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiges verbundenes Unternehmen zahlen, in einer Situation befinden können, in der diese Bedingung nicht erfüllt ist, wenn der letztgenannte Mitgliedstaat, genauso wie vorliegend das Königreich Belgien, dieses Unternehmen einer niedrigeren Steuer unterwirft.
44 Falls daher im Rahmen der niederländischen Steuerregelung keine Steuer in Höhe von unter 10 % erhoben wird, ist es eine unvermeidliche und sichere Folge (vgl. im Umkehrschluss Urteil vom , Tesco-Global Áruházak, C‑323/18, EU:C:2020:140, Rn. 72) einer Bedingung wie der von Art. 10a Abs. 3 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes, dass sie ausschließlich grenzübergreifende Situationen betrifft.
45 Somit kann die nachteilige Behandlung einer Gesellschaft, die ein Tochterunternehmen einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaft ist, auf der Grundlage des Orts des Sitzes des verbundenen Unternehmens, das die von diesem Tochterunternehmen gezahlten Zinsen empfängt, die Muttergesellschaft davon abhalten, in den Niederlanden eine Tätigkeit über das Tochterunternehmen auszuüben, während das verbundene Unternehmen in diesem anderen Mitgliedstaat unterhalten wird, in dem es einer vorteilhaften Steuerregelung unterliegt. Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, kann eine solche nachteilige Behandlung auch eine in den Niederlanden ansässige Muttergesellschaft davon abhalten, ihre Niederlassungsfreiheit durch die Gründung eines verbundenen Unternehmens in einem anderen Mitgliedstaat mit einer vorteilhaften Steuerregelung auszuüben.
46 Nach alledem ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung zwar ohne Unterschied gilt, jedoch eine Ungleichbehandlung zum Gegenstand hat, die die Ausübung der Niederlassungsfreiheit berühren kann.
47 Entsprechend der in Rn. 33 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung muss daher geprüft werden, ob sich diese Ungleichbehandlung auf objektiv nicht miteinander vergleichbare Situationen bezieht.
Zur Vergleichbarkeit der Sachverhalte
48 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist zum einen die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels sowie ihres Zwecks und ihres Inhalts zu prüfen und sind zum anderen für die Beurteilung, ob die unterschiedliche Behandlung aufgrund dieser Regelung einem objektiven Unterschied der Situationen entspricht, nur die von der betreffenden Regelung aufgestellten maßgeblichen Unterscheidungskriterien zu berücksichtigen (Urteil vom , L Fund, C‑537/20, EU:C:2023:339, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bezieht sich die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung auf die steuerliche Behandlung von Zinsen, die für zwischen Unternehmen innerhalb einer Gruppe eingegangene Schulden gezahlt wurden, wobei diese Unternehmen unmittelbar oder mittelbar sicheren Einfluss aufeinander ausüben können. Diese Regelung soll die Möglichkeit bieten, bei der Ermittlung des Gewinns Zinsen für an ein verbundenes Unternehmen zu zahlende Schulden nur dann abzuziehen, wenn diese Zinsaufwendungen nicht künstlich erzeugt worden sind.
50 Es ist festzustellen, dass sich an der Situation eines Steuerpflichtigen in Bezug auf einen Steuervorteil – wie die Möglichkeit, bei der Ermittlung des Gewinns Zinsen für an ein verbundenes Unternehmen zu zahlende Schulden abzuziehen – nichts ändert, gleichgültig, ob das Unternehmen, das diese Zinsen empfängt, im selben Mitgliedstaat ansässig ist oder nicht und ob dieses Unternehmen in einem anderen Mitgliedstaat einer günstigeren oder einer weniger günstigen steuerlichen Behandlung unterliegt (vgl. entsprechend Urteil vom , SIAT, C‑318/10, EU:C:2012:415, Rn. 31). In allen diesen Fällen können das Darlehen, für das Zinsen gezahlt werden, und das damit verbundene Rechtsgeschäft auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhen.
51 Folglich ist unabhängig von der Frage, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung womöglich durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist, festzustellen, dass sich eine Gesellschaft nicht bloß deswegen in einer anderen Situation befindet, weil das verbundene Unternehmen, dass die betreffenden Zinsen empfängt, in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, in dem diese Zinsen einem Steuersatz von nicht mehr als 10 % des nach den Kriterien des niederländischen Rechts ermittelten steuerpflichtigen Gewinns unterliegen.
52 Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass sich die Situation, in der eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat Zinsen auf ein Darlehen entrichtet, das bei einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen verbundenen Gesellschaft derselben Gruppe aufgenommen wurde, hinsichtlich der Zahlung der Zinsen nicht von einer Situation unterscheidet, in der der Zinsempfänger eine zu der Gruppe gehörende Gesellschaft ist, die ihren Sitz in demselben Mitgliedstaat hat (Urteil vom , Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 44).
Zur Rechtfertigung
53 Im Licht der in Rn. 32 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Ungleichbehandlung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden kann und in einem angemessenen Verhältnis zu dieser Zielsetzung steht.
Zum Bestehen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses
54 Das vorlegende Gericht, die Regierungen, die Erklärungen abgegeben haben, und die Europäische Kommission machen geltend, dass die Beschränkung, die sich aus der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Regelung ergebe, durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sei, Steuerhinterziehung und ‑umgehung zu verhindern. Wie in Rn. 9 des vorliegenden Urteils dargelegt, erläutert das vorlegende Gericht im Besonderen, dass diese Regelung die Aushöhlung der Steuerbemessungsgrundlage in den Niederlanden mittels künstlich erzeugter Zinsaufwendungen verhindern solle, d. h. Zinsen für eine Darlehensschuld, die willkürlich und nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen eingegangen worden sei, insbesondere wenn innerhalb einer Gruppe verbundener Unternehmen die Art und Weise der Finanzierung einer wirtschaftlich begründeten Transaktion in einem solchen Grad von steuerlichen Motiven geprägt sei, dass Rechtsgeschäfte dazu gehörten, die für die Verwirklichung dieser wirtschaftlich begründeten Zwecke nicht erforderlich seien und die ohne diese steuerlichen Motive nicht vorgenommen worden wären.
55 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits entschieden, dass zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses, die eine Beschränkung der vom AEU-Vertrag garantierten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können, die Bekämpfung der Steuerhinterziehung und ‑umgehung gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , SIAT, C‑318/10, EU:C:2012:415, Rn. 36, und vom , Eqiom und Enka, C‑6/16, EU:C:2017:641, Rn. 63).
56 Eine nationale Maßnahme, die die Niederlassungsfreiheit beschränkt, kann außerdem gerechtfertigt sein, wenn sie sich speziell auf rein künstliche Gestaltungen bezieht, die darauf ausgerichtet sind, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen (Urteil vom , Felixstowe Dock and Railway Company u. a., C‑80/12, EU:C:2014:200, Rn. 31).
57 Nach ständiger Rechtsprechung lässt sich eine Beschränkung der in Art. 49 AEUV vorgesehenen Niederlassungsfreiheit nur mit den in den Rn. 55 und 56 des vorliegenden Urteils genannten Gründen rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird (vgl. u. a. Urteile vom , Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 51 und 55, vom , Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, C‑524/04, EU:C:2007:161, Rn. 72 und 74, vom , X [In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften], C‑135/17, EU:C:2019:136, Rn. 73, und vom , Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 49).
58 Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der Grundsatz des Missbrauchsverbots in Steuersachen Anwendung findet, wenn die Erlangung eines Steuervorteils Hauptzweck der betreffenden Transaktionen ist (Urteil vom , N Luxembourg 1 u. a., C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, EU:C:2019:134, Rn. 107 und die dort angeführte Rechtsprechung).
59 Dass der Steuerpflichtige bestrebt ist, das Steuersystem zu finden, das für ihn am Vorteilhaftesten ist, kann nicht bereits generell die Vermutung eines Betrugs oder Missbrauchs begründen. Sofern die betreffende Transaktion wirtschaftlich betrachtet aber eine rein künstliche Gestaltung darstellt und darauf ausgerichtet ist, der Anwendung der Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats zu entgehen, hat der Steuerpflichtige keinen Anspruch auf das Recht oder den Vorteil aus dem Unionsrecht (Urteil vom , N Luxembourg 1 u. a., C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, EU:C:2019:134, Rn. 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Diesbezüglich ist auf die Entscheidung des Gerichtshofs in den Rechtssachen hinzuweisen, in denen das Urteil vom , X und X (C‑398/16 und C‑399/16, EU:C:2018:110, Rn. 46 und 48), ergangen ist und die sich auf Art. 10a Abs. 2 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes in der im Jahr 2004 geltenden Fassung bezogen, der im Wesentlichen Art. 10a Abs. 3 Buchst. b des Körperschaftsteuergesetzes entspricht. Der Gerichtshof hat in diesem Urteil ausgeführt, dass diese Vorschrift – wie das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren betätigt hat – unbestreitbar die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und ‑vermeidung zum Ziel hat und verhindern soll, dass das Eigenkapital eines Konzerns künstlich als von einem niederländischen Konzernmitglied aufgenommene Kreditmittel erscheint und die Darlehenszinsen vom steuerbaren Ergebnis in den Niederlanden abgezogen werden.
61 Der Umstand, dass sich die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung nicht nur auf Situationen bezieht, in denen ein Steuerpflichtiger bei einem verbundenen Unternehmen ein Darlehen zur Finanzierung des Erwerbs oder Zukaufs von Anteilen an einem Unternehmen aufnimmt, das bereits mit diesem Steuerpflichtigen verbunden war, wie es in den Rechtssachen der Fall war, in denen das Urteil vom , X und X (C‑398/16 und C‑399/16, EU:C:2018:110), ergangen ist, sondern auch auf Situationen wie die vorliegende, in denen ein Unternehmen erst nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen wird, lässt dieses Ergebnis unberührt. Wie der Generalanwalt in Nr. 58 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, soll diese Regelung nämlich in allen diesen Fällen den künstlichen Charakter der betreffenden Transaktionen, der auf der Umleitung von Eigenmitteln und der Umwandlung dieser Mittel in Kreditmittel beruht, verhindern.
Zur Verhältnismäßigkeit
62 Wie sich aus Rn. 33 des vorliegenden Urteils ergibt, ist noch zu prüfen, ob die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, geeignet ist, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten.
63 Insoweit ist daran zu erinnern, dass ein Steuerpflichtiger nach der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Regelung Zinsen, die für bei verbundenen Unternehmen eingegangene Darlehensschulden, die mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen zusammenhängen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf zu einem verbundenen Unternehmen wird, gezahlt wurden, von seinem steuerpflichtigen Gewinn nur dann abziehen kann, wenn er nachweist, dass die Bedingungen von Art. 10a Abs. 3 Buchst. a oder b des Körperschaftsteuergesetzes erfüllt sind.
64 Diese Regelung ist deshalb geeignet, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, da sie die Neutralisierung der Folgen der Verhaltensweisen von zwei oder mehr verbundenen Unternehmen, die die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird, dadurch ermöglicht, dass der Abzug von künstlich erzeugten Zinsaufwendungen ausgeschlossen wird oder jedenfalls dafür gesorgt wird, dass diese Zinsen im Mitgliedstaat des Zinsempfängers zu einem angemessenen Steuersatz besteuert werden und die Gewinnsteuer nicht vollständig umgangen wird.
65 Folglich ist zu prüfen, ob die im Ausgangsverfahren fragliche Beschränkung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieser Zielsetzung erforderlich ist.
66 Hierbei ist für die Feststellung des Vorliegens einer rein künstlichen Gestaltung außer einem subjektiven Element, das in dem Streben nach einem Steuervorteil besteht, erforderlich, dass aus objektiven Anhaltspunkten hervorgeht, dass trotz formaler Beachtung der im Unionsrecht vorgesehenen Voraussetzungen der mit der Niederlassungsfreiheit verfolgte Zweck nicht erreicht worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 64 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie entsprechend Urteil vom , N Luxembourg 1 u. a., C‑115/16, C‑118/16, C‑119/16 und C‑299/16, EU:C:2019:134, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung).
67 Der Gerichtshof hat entschieden, dass eine nationale Regelung, die eine Prüfung objektiver und nachprüfbarer Umstände vorsieht, damit festgestellt werden kann, ob ein geschäftlicher Vorgang eine rein künstliche Konstruktion ausschließlich zu steuerlichen Zwecken darstellt, und die dem Steuerpflichtigen, falls das Vorliegen einer derartigen Konstruktion nicht auszuschließen ist, ohne ihn übermäßigen Verwaltungszwängen zu unterwerfen, die Möglichkeit einräumt, Beweise für etwaige wirtschaftliche Gründe für den Abschluss dieses Geschäfts beizubringen, nicht über das hinausgeht, was zur Verhinderung missbräuchlicher Praktiken erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , X [In Drittländern ansässige Zwischengesellschaften], C‑135/17, EU:C:2019:136, Rn. 87 und die dort angeführte Rechtsprechung).
68 Bei der Prüfung, ob ein Vorgang Steuerhinterziehung und Missbrauch als Beweggrund hat, können sich die zuständigen nationalen Behörden nicht darauf beschränken, vorgegebene allgemeine Kriterien anzuwenden; vielmehr müssen sie den Vorgang als Ganzes individuell prüfen. Eine generelle Steuervorschrift, mit der bestimmte Gruppen von Steuerpflichtigen vom Steuervorteil ausgenommen werden, ohne dass die Steuerbehörde auch nur einen Anfangsbeweis oder ein Indiz für die Steuerhinterziehung oder den Missbrauch beizubringen hätte, ginge über das zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen und Missbräuchen Erforderliche hinaus (Urteil vom , Eqiom und Enka, C‑6/16, EU:C:2017:641, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
69 Vorliegend führt die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung eine Vermutung ein, dass die Zinsen für Darlehensschulden, die gemäß den Kriterien von Art. 10a Abs. 1 Buchst. c des Körperschaftsteuergesetzes eingegangen wurden, rein künstliche Gestaltungen darstellen oder Bestandteil solcher Gestaltungen sind.
70 Diese Kriterien, insbesondere der Umstand, dass diese Darlehensschulden einem verbundenen Unternehmen geschuldet werden und mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem Unternehmen zusammenhängen, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein verbundenes Unternehmen darstellt, stellen Indizien im Sinne der in Rn. 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung dafür dar, dass eine rein künstliche Gestaltung vorliegt.
71 Da der Steuerpflichtige die Möglichkeit hat, diese Vermutung durch den Nachweis zu widerlegen, dass die Bedingungen von Art. 10a Abs. 3 Buchst. a oder b des Körperschaftsteuergesetzes erfüllt sind, kann die Versagung des Zinsabzugs auf Fälle beschränkt werden, in denen das Darlehen innerhalb einer Gruppe verbundener Gesellschaften in einem solchen Grad von steuerlichen Motiven geprägt ist, dass dieses Darlehen für die Verwirklichung von wirtschaftlich begründeten Zwecken nicht notwendig ist und von Unternehmen, zwischen denen keine besonderen Beziehungen bestehen, überhaupt nicht eingegangen worden wäre.
72 In dieser Hinsicht geht aus der Schilderung des vorlegenden Gerichts hervor, dass sich die Bedingung von Art. 10a Abs. 3 Buchst. a des Körperschaftsteuergesetzes sowohl auf den Grund für das Darlehen und das damit verbundene Rechtsgeschäft als auch auf die objektiven Elemente, die für dieses Darlehen und dieses Rechtsgeschäft kennzeichnend sind, bezieht, wobei der Steuerpflichtige nachweisen muss, dass sie durch wirtschaftliche Erwägungen gerechtfertigt sind und zwischen Unternehmen ohne diese besonderen Beziehungen hätten vereinbart werden können. Daraus ergibt sich nach Ansicht des vorlegenden Gerichts, wie in Rn. 10 des vorliegenden Urteils angeführt, dass nach seiner Rechtsprechung Darlehensschulden, die willkürlich und nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen eingegangen worden seien, rein künstliche Gestaltungen darstellten, selbst wenn die Zinsaufwendungen für diese Schulden als solche denen entsprächen, die zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wären.
73 Wie aus Rn. 12 des vorliegenden Urteils ersichtlich, stellt sich dem vorlegenden Gericht gleichwohl die Frage, ob aus dem Urteil vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), insbesondere Rn. 56 dieses Urteils, abgeleitet werden kann, dass Geschäfte, durch die Schulden bei einem mit dem Steuerpflichtigen verbundenen Unternehmen eingegangen werden, per definitionem keine rein künstlichen Gestaltungen darstellen, wenn sie unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurden.
74 Insoweit ist erstens daran zu erinnern, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass der Umstand, dass einem Unternehmen von einem anderen Unternehmen ein Darlehen zu Bedingungen gewährt worden ist, die die betreffenden Unternehmen unter Bedingungen des freien Wettbewerbs nicht vereinbart hätten, für den Mitgliedstaat des Sitzes des Darlehensnehmers ein objektives, für Dritte nachprüfbares Kriterium ist, um feststellen zu können, ob der fragliche geschäftliche Vorgang ganz oder teilweise eine rein künstliche Konstruktion darstellt, die im Wesentlichen darauf ausgerichtet ist, der Anwendung des Steuerrechts dieses Mitgliedstaats zu entgehen. Somit ist zu prüfen, ob das Darlehen ohne besondere Beziehungen zwischen den betreffenden Gesellschaften nicht oder aber in anderer Höhe oder zu einem anderen Zinssatz gewährt worden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, C‑524/04, EU:C:2007:161, Rn. 81).
75 Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich, dass sich die Prüfung der Einhaltung der Bedingungen des freien Wettbewerbs nicht nur auf die Klauseln des Darlehensvertrags, die im Besonderen den Betrag oder den Zinssatz betreffen, sondern auch auf die wirtschaftliche Logik des betreffenden Darlehens und der damit verbundenen Rechtsgeschäfte bezieht. Diese Untersuchung erstreckt sich nämlich auf die Prüfung der wirtschaftlichen Sinnhaftigkeit dieses Darlehens und der damit verbundenen Rechtsgeschäfte, wobei zu überprüfen ist, ob diese geschäftlichen Vorgänge ohne besondere Beziehungen zwischen den betreffenden Unternehmen hätten vereinbart werden können.
76 Eine Prüfung, bei der untersucht wird, ob nicht nur die Bedingungen des betreffenden Darlehens, sondern auch der Darlehensabschluss als solcher sowie die damit verbundenen Rechtsgeschäfte dem entsprechen, was die Gesellschaften unter Bedingungen des freien Wettbewerbs vereinbart hätten, läuft auf die Feststellung hinaus, ob die geschäftlichen Vorgänge der wirtschaftlichen Realität entsprechen. Wie aus der in den Rn. 57, 59 und 67 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ersichtlich, stellt das Fehlen dieser wirtschaftlichen Realität eines der entscheidenden Kriterien für die Einstufung einer Transaktion als rein künstliche Gestaltung dar.
77 Wie der Gerichtshof zweitens in seinem Urteil vom , BMW Bank u. a. (C‑38/21, C‑47/21 und C‑232/21, EU:C:2023:1014, Rn. 281 und 283), das nach dem Urteil vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), ergangen ist, in Erinnerung gerufen hat, folgt aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz, wonach sich die Bürger im Fall von Betrug oder Missbrauch nicht auf unionsrechtliche Normen berufen dürfen, dass ein Mitgliedstaat die Inanspruchnahme von Bestimmungen des Unionsrechts versagen muss – auch wenn das nationale Recht keine Bestimmungen enthält, die eine solche Versagung vorsehen –, falls sie von einer Person nicht geltend gemacht werden, um die Ziele der Bestimmungen zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines Vorteils, den das Unionsrecht dieser Person gewährt, zu gelangen, obwohl die im Unionsrecht aufgestellten objektiven Voraussetzungen für die Erlangung des angestrebten Vorteils lediglich formal erfüllt sind.
78 Folglich reicht es nicht aus, nur die formellen Voraussetzungen von geschäftlichen Vorgängen zu prüfen, um die wirtschaftliche Realität einer bestimmten Transaktion zu beurteilen.
79 Drittens hat der Gerichtshof in Rn. 29 des Urteils vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), ausgeführt, dass die schwedischen Vorschriften, um die es in der Rechtssache ging, in der dieses Urteil ergangen ist, und die niederländischen Vorschriften über steuerliche Einheiten zwar in der Theorie ähnlich sind, sich jedoch in ihren praktischen Konsequenzen deutlich voneinander unterscheiden.
80 Der Gerichtshof hat nämlich entschieden, dass der spezifische Zweck der in jener Rechtssache fraglichen Regelung nicht die Bekämpfung rein künstlicher Konstruktionen war, diese Regelung außerdem im Kontext der Bekämpfung aggressiver Steuerplanung in Form des Abzugs von Zinskosten stand sowie sich ihre Anwendung nicht auf solche Konstruktionen beschränkte, da unter das Verbot des Zinsabzugs auch Geschäfte fallen konnten, die unter Bedingungen des freien Wettbewerbs geschlossen wurden, d. h. unter Bedingungen, die denjenigen entsprechen, die zwischen unabhängigen Gesellschaften Anwendung fänden. Die Absicht der betreffenden Gesellschaft, eine Verbindlichkeit hauptsächlich aus steuerlichen Gründen einzugehen, war nämlich ausreichend, um in einer grenzübergreifenden Situation die Verweigerung des Abzugsrechts zu rechtfertigen (Urteil vom , Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 52 bis 54).
81 Der Gerichtshof hat auch ausgeführt, dass die Regelung, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 53), ergangen ist, auf Verbindlichkeiten aus privatrechtlichen Geschäften, also Verbindlichkeiten, die unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurden, Anwendung finden konnte, ohne sich jedoch auf künstliche Konstruktionen zu beziehen.
82 Daraus folgt, dass der Gerichtshof in jenem Urteil nicht zu dem Fall Stellung genommen hat, auf den sich die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung bezieht, mit der, wie aus den Rn. 60 und 61 des vorliegenden Urteils ersichtlich, der spezifische Zweck verfolgt wird, rein künstliche Konstruktionen zu bekämpfen, also dem Fall, in dem die Schulden nicht aus betriebswirtschaftlichen Gründen aufgenommen wurden, auch wenn die Bedingungen des Darlehens denen entsprechen, die zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wären.
83 Wie sich aus dem Urteil vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), ergibt, wurde insbesondere die wirtschaftliche Sinnhaftigkeit des Darlehens und der damit verbundenen geschäftlichen Vorgänge in der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache weder vor dem Gerichtshof in Abrede gestellt noch vom Gerichtshof geprüft.
84 Folglich kann aus Rn. 56 des Urteils vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), nicht abgeleitet werden, dass für den Fall, dass ein Darlehen und die damit verbundenen geschäftlichen Vorgänge nicht durch wirtschaftliche Erwägungen gerechtfertigt sind, der bloße Umstand, dass die Bedingungen dieses Darlehens denen entsprechen, die zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wären, impliziert, dass das Darlehen und die geschäftlichen Vorgänge per definitionem keine rein künstlichen Gestaltungen darstellen.
85 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass die Notwendigkeit der Feststellung, dass ein Darlehen und das damit verbundene Rechtsgeschäft überwiegend auf wirtschaftlichen Erwägungen beruhen, nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Zielsetzung erforderlich ist.
86 Das vorlegende Gericht möchte ferner wissen, ob eine vollständige Versagung des Abzugsrechts nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Zielsetzung erforderlich ist, da der Gerichtshof in Rn. 51 des Urteils vom , Lexel (C‑484/19, EU:C:2021:34), an seine Rechtsprechung erinnert habe, wonach für den Fall, dass die Steuerbehörde nach der Prüfung der etwaigen wirtschaftlichen Gründe für den Abschluss eines Geschäfts den Standpunkt einnehme, dass ein von einem Steuerpflichtigen bei einem verbundenen Unternehmen aufgenommenes Darlehen eine rein künstliche Konstruktion darstelle, für die es keine realen wirtschaftlichen Gründe gebe, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erfordere, dass das Abzugsrecht nur insoweit versagt werde, als die für dieses Darlehen gezahlten Zinsen den Betrag überstiegen, der ohne eine besondere Beziehung zwischen den Vertragspartnern vereinbart worden wäre.
87 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 103 bis 105 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Fällen, in denen die Künstlichkeit einer bestimmten Transaktion in einem ungewöhnlich hohen Zinssatz für ein gruppeninternes Darlehen besteht, das im Übrigen die wirtschaftliche Realität widerspiegelt, den über dem marktüblichen Satz liegenden Teil der für dieses Darlehen gezahlten Zinsen zu korrigieren. Es würde über das Ziel, rein künstliche Gestaltungen zu verhindern, hinausgehen, wenn der Abzug dieser Zinsen vollständig verweigert würde.
88 Wenn demgegenüber das Darlehen an sich keine wirtschaftliche Rechtfertigung hat und ohne besondere Beziehungen zwischen den betreffenden Unternehmen sowie den angestrebten Steuervorteil niemals aufgenommen worden wäre, ist es mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar, den Abzug der gesamten Zinsen zu verweigern, da die Steuerbehörde eine solche rein künstliche Gestaltung bei der Berechnung der geschuldeten Körperschaftsteuer außer Acht lassen muss. Würde der Abzug nur eines Teils der Darlehenszinsen verweigert, würde es dem Steuerpflichtigen ermöglicht, einen Teil oder sogar den gesamten mit missbräuchlichen Mitteln angestrebten Steuervorteil zu erlangen, wodurch die Kohärenz der betreffenden Regelung in Frage gestellt wäre.
89 Eine solche Regelung läuft auch nicht den Erfordernissen des Grundsatzes der Rechtssicherheit zuwider, denen entsprochen werden muss, damit hinsichtlich einer Regelung angenommen werden kann, dass sie nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der verfolgten Zielsetzung erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , SIAT, C‑318/10, EU:C:2012:415, Rn. 59).
90 Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit die Auswirkungen von Rechtsvorschriften vor allem dann, wenn sie nachteilige Folgen für Einzelne und Unternehmen haben können, klar, bestimmt und voraussehbar sein müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , SIAT, C‑318/10, EU:C:2012:415, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).
91 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 87 und 88 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist festzustellen, dass Vorschriften zur Bekämpfung von Missbrauch notwendigerweise abstrakte Begriffe enthalten, um möglichst viele Situationen der Steuerhinterziehung und ‑umgehung zu erfassen.
92 Die Verwendung abstrakter Begriffe impliziert gleichwohl nicht, dass die Anwendung der im Ausgangsrechtsstreit fraglichen Regelung insgesamt dem Ermessen der Steuerbehörde überlassen wird, wodurch die Auswirkungen dieser Regelung nicht vorhersehbar wären, da diese Anwendung – wie in den Rn. 70 und 71 des vorliegenden Urteils ausgeführt – Kriterien unterliegt, die klar in dieser Regelung festgelegt sind und die es dem Steuerpflichtigen ermöglichen, von vornherein hinreichend genau den Anwendungsbereich der Regelung zu bestimmen, ohne Unsicherheiten hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit entstehen zu lassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , SIAT, C‑318/10, EU:C:2012:415, Rn. 57).
93 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Gewinns eines Steuerpflichtigen der Abzug von Zinsen im Zusammenhang mit einer Darlehensschuld, die bei einem verbundenen Unternehmen eingegangen wurde und mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen zusammenhängt, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen darstellt, vollständig versagt wird, wenn diese Schuld als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung eingestuft wird, und zwar selbst dann, wenn diese Schuld unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurde und diese Zinsen den Betrag nicht übersteigen, der zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wäre.
Kosten
4 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 49 AEUV
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach bei der Ermittlung des Gewinns eines Steuerpflichtigen der Abzug von Zinsen im Zusammenhang mit einer Darlehensschuld, die bei einem verbundenen Unternehmen eingegangen wurde und mit dem Erwerb oder Zukauf von Anteilen an einem anderen Unternehmen zusammenhängt, das nach diesem Erwerb oder Zukauf ein mit dem Steuerpflichtigen verbundenes Unternehmen darstellt, vollständig versagt wird, wenn diese Schuld als (Bestandteil einer) rein künstliche(n) Gestaltung eingestuft wird, und zwar selbst dann, wenn diese Schuld unter Bedingungen des freien Wettbewerbs eingegangen wurde und diese Zinsen den Betrag nicht übersteigen, der zwischen unabhängigen Unternehmen vereinbart worden wäre.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2024:822
Fundstelle(n):
HAAAJ-83371