Instanzenzug: OLG Dresden Az: 3 U 79/23 Urteilvorgehend LG Dresden Az: 8 O 1530/21
Gründe
1I. Die Klägerin und ihr später verstorbener Ehegatte schlossen mit dem Beklagten im Jahr 2017 einen schriftlichen Maklervertrag über Versicherungsleistungen. Der Beklagte vermittelte und verwaltete in der Folgezeit mehrere Versicherungsverträge der Eheleute. Im Mai 2020 versandte der Beklagte einen als "Jahrescheck 2020" betitelten Erfassungsbogen an die Eheleute, in welchem diese ihre etwaigen weiteren Beratungswünsche angeben konnten. Die Eheleute machten hiervon Gebrauch und gaben dabei an, Beratungsbedarf bestehe unter anderem im Bereich der "Hinterbliebenen/Familien-Absicherung".
2Es kam am zu einem persönlichen Beratungsgespräch in den Wohnräumen der Eheleute. In diesem Zusammenhang erneuerten die Parteien zunächst den bestehenden Maklervertrag. Festgelegt wurde dabei, dass sich der Maklervertrag auch auf die Sparten "Leben/ Rente/ BU/ Pflege" beziehe. Der Ehemann der Klägerin war zum damaligen Zeitpunkt seit mehreren Jahren Hauptverdiener in der Ehe, während sich die Klägerin vorwiegend der Erziehung der beiden 2017 und 2018 geborenen Kinder widmete. Für seine Tätigkeit als Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin erhielt der Ehemann der Klägerin in den letzten Jahren ein Jahresbruttogehalt in Höhe von rund 75.000 €. Damals bestand eine offene Darlehensverbindlichkeit in Höhe von ungefähr 20.000 € aus dem Erwerb eines Kraftfahrzeugs.
3Inhalt des Beratungsgesprächs mit dem Beklagten war auch der Abschluss einer Risikolebensversicherung für den Fall des Todes des Hauptverdieners. Die Einzelheiten des nicht dokumentierten Beratungsgesprächs sind zwischen den Parteien zum Teil streitig.
4Am verstarb der Ehemann der Klägerin im Alter von 39 Jahren unvermittelt an einem durch Streptokokken induzierten Toxic-Schock-Syndrom.
5Die Klägerin nimmt den Beklagten auf Schadensersatz wegen einer als fehlerhaft erachteten Beratung über den Abschluss einer Risikolebensversicherung in Höhe von 500.000 € sowie auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten, jeweils nebst Zinsen, in Anspruch.
6Das Landgericht hat den Beklagten zur Zahlung eines Betrags von 375.000 € sowie zur Erstattung von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 7.189,98 €, jeweils nebst Zinsen, verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Gegen das landgerichtliche Urteil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und auf die Berufung des Beklagten die Klage in vollem Umfang abgewiesen (OLG Dresden, VersR 2024, 1214).
7II. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Klägerin stehe weder aus eigenem noch ererbtem Recht ein Anspruch gegen den Beklagten zu. Eine schadensverursachende Pflichtverletzung des als Versicherungsmakler tätigen Beklagten sei nicht ersichtlich beziehungsweise nicht nachgewiesen. Der Beklagte habe keine Beratungspflicht aus § 61 Abs. 1 Satz 1 VVG verletzt. Das fehlende Zuraten zum Abschluss einer Risikolebensversicherung stelle in der vorliegenden Konstellation keine Pflichtverletzung dar. Auch sei weder von einer Pflichtverletzung wegen eines Verweises auf ausreichenden anderweitigen Schutz noch wegen Abratens bezüglich des Abschlusses einer Risikolebensversicherung auszugehen.
8Das Berufungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin. Mit der angestrebten Revision will sie ihre Klageanträge weiterverfolgen.
9III. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Sie führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt mit Recht, das Berufungsgericht habe das Verfahrensgrundrecht der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG in entscheidungserheblicher Weise verletzt.
101. Nach Art. 103 Abs. 1 GG haben die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens ein Recht darauf, sich vor Erlass einer Entscheidung zu dem zugrundeliegenden Sachverhalt zu äußern. Diesem Recht entspricht die Pflicht des Gerichts, Anträge und Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. Insbesondere gebietet das Recht auf rechtliches Gehör in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Die Nichtberücksichtigung eines vom Gericht als erheblich angesehenen Beweisangebots verstößt daher gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (vgl. BVerfG, NJW 2011, 49 [juris Rn. 11] mwN).
112. Nach diesen Maßstäben ist im Streitfall Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
12a) Gemäß § 398 Abs. 1 ZPO steht die wiederholte Vernehmung eines Zeugen im Ermessen des Berufungsgerichts. Diesem Ermessen sind aber Grenzen gesetzt. So muss das Berufungsgericht einen bereits in erster Instanz vernommenen Zeugen nochmals gemäß § 398 Abs. 1 ZPO vernehmen, wenn es dessen Aussage anders würdigen will als die Vorinstanz. Die nochmalige Vernehmung eines Zeugen kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Rechtsmittelgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit der Aussage betreffen (, NJW-RR 2023, 636 [juris Rn. 9] mwN). Entsprechendes gilt, wenn die erste Instanz von der Würdigung der Aussagen der von ihr vernommenen Zeugen und der Erörterung der Glaubwürdigkeit der Zeugen ganz abgesehen hat. In der Berufungsinstanz kann ein angetretener Zeugenbeweis durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Zeugenvernehmung nur ersetzt werden, wenn der persönliche Eindruck, den der Zeuge bei seiner Vernehmung hinterließ oder bei einer erneuten Vernehmung hinterlassen würde, für die Würdigung seiner Aussage nicht entscheidend ist. Anderenfalls hat eine Wiederholung der Beweisaufnahme zu erfolgen (BGH, NJW-RR 2023, 636 [juris Rn. 10] mwN). Die genannten Grundsätze gelten entsprechend für die formlose Parteianhörung (BGH, NJW-RR 2023, 636 [juris Rn. 11]).
13b) Diesen Grundsätzen wird das Berufungsurteil nicht gerecht, weil das Berufungsgericht die Parteien nicht erneut angehört, sondern seine Entscheidung auf die Verwertung der Niederschrift der persönlichen Anhörung der Parteien in erster Instanz gestützt hat, ohne sich einen persönlichen Eindruck bei ihrer Vernehmung oder Anhörung verschafft zu haben.
14aa) Das Landgericht hat die Aussagen der von ihm persönlich angehörten Parteien zum Inhalt des Beratungsgesprächs am in seinem Urteil wiedergegeben.
15Die Klägerin habe bekundet, sie und ihr Mann hätten Angst gehabt, dass der als Intensivmediziner tätige Ehemann und Alleinverdiener sich mit dem Coronavirus infizieren könnte. Sie hätten den Beklagten gefragt, ob sie ausreichend abgesichert seien und ob es sinnvoll sei, eine Lebensversicherung auf den Todesfall des Ehemanns abzuschließen. Der Beklagte habe der Klägerin und ihrem Ehemann mitgeteilt, der Abschluss einer Risikolebensversicherung sei zu diesem Zeitpunkt zum Erhalt des Lebensstandards nicht erforderlich aufgrund der für den Ehemann abgeschlossenen privaten Renten- und Unfallversicherung. Erforderlich sei eine Risikolebensversicherung erst, wenn die Eheleute eine Immobilie erwerben würden.
16Der Beklagte habe in seiner persönlichen Anhörung demgegenüber erklärt, er habe der Klägerin und ihrem Ehemann zumindest ansatzweise zu dem Abschluss einer Risikolebensversicherung geraten. Dies sei jedoch ohne umfassende Analyse bereits vorhandener Absicherungen erfolgt, er habe dies nach Abblocken durch den Ehemann der Klägerin nicht weiterverfolgt.
17Das Landgericht hat hierzu ausgeführt, hier stehe Aussage gegen Aussage. Es hat die widerstreitenden Aussagen der Parteien im Ergebnis nicht abschließend gewürdigt, sondern hat angenommen, aufgrund des Versicherungsmaklervertrags sei der Beklagte zu einer bedarfsgerechten Beratung der Klägerin und ihres verstorbenen Ehemanns verpflichtet gewesen. Dagegen habe er verstoßen, da er der Klägerin und ihrem Ehemann ohne ausreichende Analyse nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung geraten habe.
18bb) Das Berufungsgericht hat angenommen, der Umstand, dass der Beklagte unstreitig nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung geraten habe, stelle - entgegen der Ansicht des Landgerichts - keinen zum Schadensersatz verpflichtenden Beratungsfehler dar.
19Der Beklagte sei nicht gehalten gewesen, Position zur Frage des "ob" eines Abschlusses zu beziehen und habe dies der freien Entscheidung seiner Kunden überlassen können. Zwar könne den beratenden Versicherungsmakler im Einzelfall eine Pflicht zum Zuraten treffen, wenn objektive Gründe weder für noch gegen den Abschluss einer Risikolebensversicherung sprächen, der Kunde jedoch im Gespräch erkennbar hohen Wert auf die Absicherung lege, weil er sich oder seinen Partner einem erhöhten Todesrisiko ausgesetzt sehe oder weil er generell kein Risiko hätte eingehen und die Hinterbliebenen im Todesfall vollständig hätte absichern wollen. Eine solche Zuratenspflicht des Versicherungsmaklers setze voraus, dass ein solcher Wunsch nach Absicherung im Beratungsgespräch dezidiert geäußert worden sei. Hierfür sei die Klägerin darlegungs- und beweisbelastet.
20Es sei schon fraglich, ob allein ausgehend von den Aussagen der Klägerin im Rahmen ihrer informatorischen Anhörung angenommen werden könne, dass die Eheleute im Zusammenhang mit der Erörterung des Abschlusses einer Risikolebensversicherung eine erhebliche Angst geschildert hätten, der Ehemann der Klägerin könne sich arbeitsbedingt mit dem Coronavirus infizieren und daran versterben. Unabhängig davon aber habe die Beklagtenseite dies bestritten. Der Beklagte habe in seiner informatorischen Anhörung bekundet, dass Covid, wie damals üblich, ein allgemeines Thema gewesen sei und es der Ehemann nicht so dargestellt habe, dass er Angst vor Covid und davor, daran zu sterben, gehabt habe. Es ergebe sich kein anderes Ergebnis als Folge einer Beweislastumkehr. Zwar sei zu berücksichtigen, dass der Beklagte seine Dokumentationspflicht verletzt habe und sich hieraus Beweiserleichterungen zugunsten des Kunden bis hin zu einer Beweislastumkehr ergeben könnten. Dies habe aber nicht zur Folge, dass der (potentielle) Versicherungsnehmer praktisch jedweden Inhalt des Gesprächs behaupten könnte und es sodann an dem Versicherungsmakler wäre, einen widerlegenden Inhalt - meist chancenlos - zu beweisen. Es sei nicht lebensnah, dass die Eheleute ihre Angst vor einem pandemiebedingten Ableben des Ehemanns und damit den Wunsch einer Versicherung auf dessen Todesfall zum Ausdruck gebracht hätten und es dennoch - obwohl die monatlichen Prämien für eine derartige Versicherung überschaubar seien und zudem der Beklagte eine Provision für den Abschluss erhalten hätte - nicht zum Abschluss einer Risikolebensversicherung gekommen sei. Einen triftigen Grund dafür habe die Klägerin nicht angeben können, mit Ausnahme eines Verweises auf abgeschlossene private Rentenversicherungen und die bestehende Unfallversicherung des Ehemanns seitens des Beklagten.
21cc) Da das Landgericht von einer Würdigung der Aussagen der von ihm vernommenen Parteien und einer Erörterung ihrer Glaubwürdigkeit ganz abgesehen hat, war das Berufungsgericht grundsätzlich gehalten, die erstinstanzlich erfolgte persönliche Anhörung der Parteien zu wiederholen.
22Hiervon konnte es nicht ausnahmsweise absehen und die Anhörung durch die Verwertung der Niederschrift der erstinstanzlichen Anhörung ersetzen. Es liegt auf der Hand, dass im Streitfall der persönliche Eindruck, den die Parteien bei ihrer Anhörung hinterlassen würden, für die Würdigung ihrer einander widersprechenden Aussagen und für die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit entscheidend ist.
23c) Auf diesem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG beruht die angegriffene Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Berufungsgericht bei einer Wiederholung der Anhörung der Parteien zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass - da der Beklagte seine Dokumentationspflicht aus § 61 Abs. 1 Satz 2 VVG verletzt hat - der Klägerin Beweiserleichterungen bis hin zu einer Beweislastumkehr zugutekommen (, BGHZ 203, 174 [juris Rn. 18]) und von einer Verletzung der Pflichten des Beklagten aus dem Versicherungsmaklervertrag auszugehen ist.
Koch Löffler Schwonke
Feddersen Schmaltz
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:191224BIZR70.24.0
Fundstelle(n):
KAAAJ-83182