BGH Urteil v. - 2 StR 290/24

Instanzenzug: Az: 2 StR 290/24 Beschlussvorgehend LG Erfurt Az: 3 KLs 146 Js 854/23 jug

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Raubes in Tateinheit mit Körperverletzung, schwerer Vergewaltigung, schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, Freiheitsberaubung, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt und Einziehungsentscheidungen getroffen. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen.

2Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision, mit der sie den Teilfreispruch des Angeklagten und den Strafausspruch angreift. Das Rechtsmittel hat im Umfang der Anfechtung Erfolg, wobei die Aufhebung des Strafausspruchs auch zugunsten des Angeklagten erfolgt (§ 301 StPO).

I.

3Das Landgericht hat – soweit für das Rechtsmittel von Bedeutung – unter anderem folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

4Anfang September 2022 lernte der Angeklagte, der spätestens am sein 21. Lebensjahr vollendet hatte, die am geborene Nebenklägerin kennen, mit der er in Kenntnis ihres Alters bis Ende des Jahres 2022 eine – von Konflikten und Gewalt gegenüber der Nebenklägerin geprägte –Beziehung führte. Unter anderem vollzog der Angeklagte im Oktober 2022 mit der Nebenklägerin an zwei Tagen jeweils den vaginalen Geschlechtsverkehr.

5Darüber hinaus lag dem Angeklagten mit unverändert zur Hauptverhandlung zugelassener Anklage zur Last, Anfang November 2022 in einer Wohnung eines Freundes in E.      , in der sich der Angeklagte mit der Nebenklägerin aufhielt, seine Hose heruntergezogen, den Kopf der Nebenklägerin ergriffen und diese aufgefordert zu haben, ihn oral zu befriedigen. Die Nebenklägerin habe dies nicht gewollt, ihren Mund zugehalten und den Angeklagten weggestoßen. Dieser habe von ihr abgelassen, weil sie eine Freundin angerufen habe.

6Von diesem Vorwurf hat das Landgericht den Angeklagten freigesprochen. In der Hauptverhandlung habe nicht geklärt werden können, weshalb es nicht zu dem vom Angeklagten „gewünschten“ Oralverkehr gekommen sei. Die Nebenklägerin habe bei ihrer richterlichen Vernehmung am angegeben, der Angeklagte habe zu ihr gesagt, sie solle ihn oral befriedigen. Er habe ihren Kopf genommen und es versucht. Sie habe ihn aber wegdrücken können. Im Rahmen der zuvor am durchgeführten polizeilichen Vernehmung habe die Nebenklägerin ausgesagt, es sei nicht zum Oralverkehr gekommen, weil sie ihr Mobiltelefon in die Hand genommen habe, um ihre Freundin anzurufen. Der Angeklagte habe damit freiwillig die weitere Ausführung der Tat aufgegeben und sei strafbefreiend vom Versuch des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zurückgetreten.

7Wegen sonst zulasten der Nebenklägerin verübter Taten und weiterer Taten zum Nachteil einer anderen Geschädigten – davon die beiden ersten zeitlich früher im Juli 2022 – hat das Landgericht auf eine Einheitsjugendstrafe erkannt. Dabei hat es gesehen, dass der Angeklagte nur die beiden ersten abgeurteilten Taten und diese nur wenige Tage vor Vollendung des 21. Lebensjahres begangen habe. Auf diese beiden Taten hat die Jugendkammer Jugendstrafrecht angewandt, weil „auf Grund des brüchigen Lebenslaufs des Angeklagten und seine[r] instabilen Lebensverhältnisse […] während der Jugendzeit erhebliche Entwicklungsverzögerungen und Reifedefizite“ vorlägen. Sie hat fünf weitere, sicher im Erwachsenenalter begangene Taten nach Jugendstrafrecht abgeurteilt, weil „die Straftaten des Angeklagten, auch soweit sie nach seinem 21. Lebensjahr begangen wurden, maßgeblich auf Erziehungsdefizite im Jugend- und Heranwachsendenalter zurückzuführen“ seien. Bei der Entscheidung der Frage, ob gegen den Angeklagten eine Jugendstrafe zu verhängen sei, hat das Landgericht allein auf das Vorhandensein schädlicher Neigungen abgestellt.

II.

8Die Revision der Staatsanwaltschaft ist zulässig und wirksam auf den Teilfreispruch und den Strafausspruch beschränkt.

9Zwar hat die Beschwerdeführerin die Sachrüge ausdrücklich ohne Einschränkungen erhoben. Hinsichtlich des Angriffsziels ist aber der Sinn der Revisionsbegründung maßgeblich, ausweislich derer die Staatsanwaltschaft ausschließlich den Teilfreispruch und den Strafausspruch beanstandet. Unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV (vgl. nur , Rn. 15 mwN) versteht der Senat das Revisionsvorbringen dahin, dass die Staatsanwaltschaft den Schuldspruch, soweit der Angeklagte verurteilt ist, und die Einziehungsentscheidung nicht angreifen will.

III.

10Das zum Nachteil des Angeklagten geführte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat in vollem Umfang Erfolg.

111. Das angefochtene Urteil hält, soweit der Angeklagte vom Vorwurf des Versuchs des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern freigesprochen wurde (Fall II.5 der Urteilsgründe), rechtlicher Überprüfung nicht stand.

12a) Die Ausführungen des Landgerichts werden insoweit den gemäß § 267 Abs. 5 Satz 1 StPO an ein freisprechendes Urteil zu stellenden Anforderungen nicht gerecht.

13Bei einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen muss der Tatrichter zunächst in einer geschlossenen Darstellung diejenigen Tatsachen feststellen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung darlegt, aus welchen Gründen die für einen Schuldspruch erforderlichen – zusätzlichen – Feststellungen nicht getroffen werden können. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass das Revisionsgericht prüfen kann, ob dem Tatrichter bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind (vgl. , Rn. 10 mwN). Dem genügt das angefochtene Urteil nicht.

14Soweit in den Urteilsgründen mitgeteilt wird, es sei in der Hauptverhandlung ungeklärt geblieben, weshalb es nicht zu dem von dem Angeklagten „gewünschten“ Oralverkehr gekommen sei, ist bereits nicht nachvollziehbar, welche tatsächlichen Feststellungen die Jugendkammer zu diesem Sachverhalt getroffen hat. Die äußerst verkürzte Darstellung der Aussage der im Ermittlungsverfahren mehrfach vernommenen Nebenklägerin ist insoweit nicht ausreichend. Welche den Angeklagten – gegebenenfalls – belastenden Umstände die Nebenklägerin zu diesem Sachverhalt in der Hauptverhandlung gemacht hat, lassen die Urteilsgründe nicht erkennen. Bereits dieser Darlegungsmangel nötigt zur Aufhebung des (Teil-)Freispruchs, da der Senat nicht prüfen kann, ob die Jugendkammer zu Recht die Voraussetzungen eines strafbefreienden Rücktritts vom Versuch gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB bejaht hat.

15b) Das Landgericht hat darüber hinaus seine sich aus § 264 StPO ergebende umfassende Kognitionspflicht verletzt. Diese gebietet es, die Anklage, wie sie im Eröffnungsbeschluss zugelassen ist, zu erschöpfen, also die den Untersuchungsgegenstand bildende angeklagte Tat restlos nach allen tatsächlichen (§ 244 Abs. 2 StPO) und denkbaren rechtlichen (§ 265 StPO) Gesichtspunkten aufzuklären und abzuurteilen, ohne Rücksicht auf die der Anklage und dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte rechtliche Bewertung (st. Rspr.; vgl. nur − 2 StR 308/13, NStZ 2014, 599, 600; vom – 3 StR 482/16, Rn. 10; vom – 3 StR 254/23, Rn. 8 jeweils mwN). Das Landgericht hat sich lediglich damit befasst, ob der Angeklagte vom Versuch eines schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern durch ein freiwilliges Aufgeben der Tat zurückgetreten ist. Es bleibt indes unerörtert, ob sich der Angeklagte unter Zugrundelegung der wiedergegebenen Angaben der Nebenklägerin in ihrer richterlichen Vernehmung („Er habe ihren Kopf genommen und es versucht“) eines vollendeten sexuellen Missbrauchs von Kindern ggf. in Tateinheit mit einer sexuellen Nötigung gemäß § 176 Abs. 1 Nr. 1, § 177 Abs. 5 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB (vgl. zum Konkurrenzverhältnis , Rn. 42, insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 64, 55) schuldig gemacht haben könnte.

162. Der Strafausspruch unterliegt schon wegen der erfolgreichen Anfechtung des Freispruchs im Fall II.5 der Urteilsgründe der Aufhebung. Er weist aber zudem auch Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.

17a) Bereits die Begründung, mit der die Jugendkammer im Hinblick auf die Fälle II.1 und II.2 der Urteilsgründe auf den Angeklagten gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG Jugendstrafrecht angewandt hat, hält der rechtlichen Prüfung nicht stand.

18Für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG ist nicht entscheidend, ob er das Bild eines noch nicht 18-Jährigen bietet; vielmehr ist maßgebend, ob in dem Täter noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind (vgl. , BGHR JGG § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 8 mwN). Gemessen an diesem Prüfungsmaßstab ist zu besorgen, dass der Jugendkammer bei der von ihr vorgenommenen Gesamtwürdigung, die vornehmlich auf die instabilen Lebensverhältnisse des Angeklagten während seiner Jugendzeit abstellt, aus dem Blick geraten ist, dass der Angeklagte die den Fällen II.1 und II.2 der Urteilsgründe zugrundeliegenden Taten am 28. und und damit nur wenige Tage vor der spätestens am eingetretenen Vollendung seines 21. Lebensjahrs begangen hat.

19b) Auch die Entscheidung des Landgerichts, gemäß § 32 Satz 1 JGG einheitlich Jugendstrafrecht anzuwenden, ist nicht frei von Rechtsfehlern.

20Zwar ist die Beurteilung, bei welchen Straftaten das Schwergewicht liegt, im Wesentlichen Tatfrage, die der Tatrichter nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden hat, und daher der Nachprüfung des Revisionsgerichts grundsätzlich entzogen. Maßgeblich für die Bestimmung des Schwergewichts ist, ob sich die späteren Straftaten als in den früheren bereits angelegt darstellen, ob sie bei Betrachtung der Persönlichkeitsentwicklung ihren Ursprung im Jugendalter haben bzw. wo die „Tatwurzeln“ liegen (vgl. , Rn. 13 mwN).

21Bei der Wertung des Schwergewichts hat das Landgericht zwar geprüft, ob die Wurzeln der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten im Jugend- und (insoweit rechtsfehlerhaft) im Heranwachsendenalter liegen, dabei aber wiederum nicht bedacht, dass die Taten zu II.1 und II.2 der Urteilsgründe unmittelbar vor der festgestellten, spätestens am eingetretenen Vollendung des 21. Lebensjahres des Angeklagten begangen wurden. Eine delinquente Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten, die ihren Ursprung bereits im Jugendalter hatte, ist darin gerade nicht zu sehen.

22c) Weiter hat die Jugendkammer mit den schädlichen Neigungen nur einen der beiden Gründe, die die Anordnung von Jugendstrafe rechtfertigen, erörtert. Die Schwere der Schuld hat sie nicht in den Blick genommen. Dies erweist sich als lückenhaft. Denn die Schwere der Schuld ist immer dann zu erörtern und in einer umfassenden Abwägung nach jugendspezifischen Kriterien zu bestimmen, wenn nach dem maßgeblichen Anknüpfungspunkt der inneren Tatseite und dem hierfür relevanten äußeren Unrechtsgehalt der Tat(en) die Verhängung von Jugendstrafe wegen der Schwere der Schuld in Betracht kommt, so unter anderem bei schweren Gewaltdelikten. Diesen Anforderungen ist das Landgericht mit seinen knappen, den äußeren Unrechtsgehalt der Tat allenfalls plakativ beschreibenden Ausführungen nicht gerecht geworden. Der Strafausspruch beruht auch auf dem aufgezeigten Rechtsfehler, da nicht auszuschließen ist, dass das Landgericht bei Beachtung der aufgezeigten Maßstäbe die Schwere der Schuld im Sinne von § 17 Abs. 2 JGG bejaht und im Folgenden auf eine höhere Jugendstrafe erkannt hätte (vgl. , NStZ 2024, 621, 622).

233. Von der Aufhebung des Freispruchs sind auch die zugehörigen Feststellungen betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO). Bei Aufhebung eines freisprechenden Urteils durch das Revisionsgericht können Feststellungen, deren rechtsfehlerfreies Zustandekommen der Angeklagte vom Revisionsgericht mangels Beschwer nicht überprüfen lassen konnte, bei einem bestreitenden Angeklagten nicht als Grundlage einer möglichen Verurteilung bestehen bleiben (vgl. , Rn. 18 mwN). Um dem neuen Tatgericht eine in sich stimmige Strafzumessung zu ermöglichen, hebt der Senat auch die insoweit getroffenen Feststellungen auf.

IV.

24Die auf die Revision der Staatsanwaltschaft im Umfang des Rechtsmittelangriffs nach § 301 StPO veranlasste Überprüfung des Urteils auf Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten führt ebenfalls zur Aufhebung des Strafausspruchs. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf seinen die Revision des Angeklagten betreffenden Beschluss vom heutigen Tage.

Menges                            Zeng                            Lutz

               Zimmermann                  Herold

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:061124U2STR290.24.0

Fundstelle(n):
MAAAJ-83083