BGH Beschluss v. - 4 StR 75/24

Instanzenzug: LG Bochum Az: II-12 KLs 6/23

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unrichtiger Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in 207 Fällen, davon in 190 Fällen in Tateinheit mit dem Ausstellen unrichtiger Gesundheitszeugnisse, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten ist unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

A.

2Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3Der Angeklagte ist approbierter Arzt und betreibt in R.                      eine Privatarztpraxis mit Schwerpunkt Naturheilverfahren. Ungeachtet seiner Skepsis gegenüber Impfungen gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 ließ er sich als „Impfarzt“ registrieren und bezog ab Juni 2021 in großem Umfang Impfstoffe.

4Entsprechend seines jeweils zuvor gefassten Tatentschlusses „bescheinigte“ der Angeklagte im Zeitraum vom bis zum in 207 Fällen bewusst wahrheitswidrig seinen Patienten auf deren Wunsch die Durchführung einer Impfung gegen das Coronavirus, ohne eine solche tatsächlich vorgenommen zu haben. Dabei trug er im Wissen darum, dass eine Impfung tatsächlich nicht von ihm vorgenommen worden war, das vermeintliche Datum der Impfung, den vermeintlich verwendeten Impfstoff (Spikevax von Moderna, Comirnaty von Biontech oder Janssen von Johnson & Johnson) in den jeweiligen Impfausweis der Patienten ein bzw. klebte den entsprechenden Chargenaufkleber in den Impfausweis; die jeweilige Eintragung versah er mit einem Stempel seiner Praxis sowie seiner Unterschrift. In sämtlichen Fällen handelte er in der Absicht, seinen Patienten die Vorlage einer Impfdokumentation zur Täuschung im Rechtsverkehr zu ermöglichen. In einigen Fällen bescheinigte der Angeklagte auf Wunsch seiner Patienten auch die Impfung von Familienangehörigen, die in der Praxis des Angeklagten gar nicht vorstellig geworden waren.

5Das Landgericht hat dieses Verhalten des Angeklagten als unrichtige Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in 207 Fällen gemäß § 74 Abs. 2 IfSG gewertet und in den nach Inkrafttreten des § 278 StGB nF begangenen 190 Fällen tateinheitlich den Straftatbestand des § 278 Abs. 1 StGB als verwirklicht angesehen, weil der Angeklagte zugleich zur Täuschung im Rechtsverkehr als Arzt ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausgestellt hat.

B.

6Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.

7I. Den Verfahrensrügen bleibt aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts der Erfolg versagt.

8II. Die auf die Sachrüge veranlasste sachlich-rechtliche Nachprüfung des Urteils hat zum Schuld-, Straf- und Einziehungsausspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler ergeben. Der Erörterung bedarf lediglich das Folgende:

91. Der Schuldspruch wegen unrichtiger Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 in 207 Fällen hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die beweiswürdigend belegten Feststellungen tragen die Verurteilung wegen eines Verstoßes gegen § 74 Abs. 2 IfSG. Die wissentlich wahrheitswidrige Dokumentation einer tatsächlich nicht durchgeführten Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 durch eine impfberechtigte Person, die zur Täuschung im Rechtsverkehr erstellt wird, erfüllt den Straftatbestand des § 74 Abs. 2 IfSG.

10a) Nach der durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze vom (BGBl. I S. 1174) in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz ‒ IfSG) eingefügten und am in Kraft getretenen Strafnorm des § 74 Abs. 2 IfSG macht sich strafbar, wer eine in § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG bezeichnete Handlung begeht, indem er wissentlich eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 zur Täuschung im Rechtsverkehr nicht richtig dokumentiert.

11b) Die Strafvorschrift erfasst auch den Fall der wissentlichen Dokumentation einer tatsächlich überhaupt nicht durchgeführten Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 (im Ergebnis ebenso Rn. 12; Neuhöfer/Kindhäuser in BeckOK Infektionsschutzrecht, 22. Ed., IfSG § 74 Rn. 29b; Lutz in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, IfSG § 74 Rn. 5b (Stand Februar 2023); Hergenröder in Sangs/Eibenstein, IfSG, 1. Aufl., § 74 Rn. 24; Kessler in Tsambikakis/Rostalski, Medizinstrafrecht, 1. Aufl., IfSG § 74 Rn. 18; Schmidhäuser medstra 2022, 21, 22; Gaede/Krüger NJW 2021, 2159, 2160; Wolf ZfiStW 2022, 146, 162; Kreutzer JR 2022, 166; a.M. Lorenz/Oğlakcıoğlu in Kießling, IfSG, 3. Aufl., § 74 Rn. 8 i.V.m. § 73 Rn. 7a; Popp, GA 2022, 319, 325).

12aa) Ein solches Verständnis ist vom Wortlaut des § 74 Abs. 2 IfSG gedeckt. Die Tathandlung ist gesetzlich weit umschrieben. Unter Strafe gestellt ist danach jede „nicht richtige“ Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, die wissentlich und zur Täuschung im Rechtsverkehr erfolgt. Nicht richtig in diesem Sinne ist die Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2, wenn deren Inhalt nicht mit dem wirklichen Geschehen übereinstimmt. Wird eine tatsächlich gar nicht vorgenommene Schutzimpfung als geschehen dokumentiert, liegt hierin eine unrichtige Dokumentation im Sinne dieser Strafvorschrift (in diesem Sinne bspw. Neuhöfer/Kindhäuser in BeckOK Infektionsschutzrecht, 22. Ed., IfSG § 74 Rn. 29b; Lutz in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, IfSG § 74 Rn. 5b (Stand Februar 2023); Hergenröder in Sangs/Eibenstein, IfSG, 1. Aufl., § 74 Rn. 24).

13bb) Entgegen einer vereinzelt gebliebenen Auffassung (vgl. Lorenz, medstra 2021, 210, 213; Popp GA 2022, 319, 325) legt die vom Gesetzgeber gewählte Regelungstechnik nicht nahe, § 74 Abs. 2 IfSG dahin zu verstehen, dass die Strafnorm nur Fälle erfasst, in denen der Täter eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 tatsächlich durchführt und dabei seine Pflichten zu wahrheitsgemäßer Dokumentation verletzt.

14Zwar hat der Gesetzgeber zunächst auf die Bußgeldvorschrift des § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG Bezug genommen, welche bestimmte Fehlverhaltensweisen im Hinblick auf die Dokumentation einer tatsächlich durchgeführten Schutzimpfung mit Geldbuße bedroht. Danach handelt ordnungswidrig, wer entgegen § 22 Abs. 1 IfSG eine Schutzimpfung nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig dokumentiert. Da nach § 22 Abs. 1 IfSG die zur Durchführung von Schutzimpfungen berechtigte Person verpflichtet ist, jede durchgeführte Schutzimpfung unverzüglich in einem Impfausweis oder, falls der Impfausweis nicht vorgelegt wird, in einer Impfbescheinigung zu dokumentieren (Pflicht zur Impfdokumentation), setzen jedenfalls drei der vier mit Geldbuße bedrohten Begehungsvarianten („nicht“, „nicht vollständig“, „nicht rechtzeitig“) die tatsächliche Durchführung einer Schutzimpfung voraus.

15Ob auch die verbleibende Begehungsvariante des § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG („nicht richtig“) deshalb aus Gründen der Gesetzessystematik einengend dahin auszulegen ist, dass auch sie eine tatsächlich durchgeführte Impfung vorsieht und deshalb Fälle nicht erfasst, in denen eine Schutzimpfung dokumentarisch fingiert wird, braucht der Senat aber nicht zu entscheiden. Denn die gesetzgeberische Bezugnahme auf § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG dient nur dazu, den tauglichen Täter zu bestimmen (vgl. zu § 75a Abs. 1 i.V.m. § 22 Abs. 5 Satz 1 IfSG aber ‒ 1 StR 146/23 Rn. 12 ff.). Eine abschließende Umgrenzung der tauglichen Tathandlungen begründet sie nicht. Denn § 74 Abs. 2 IfSG ist nicht als Blankettstrafnorm konzipiert, sondern umschreibt das unter Strafe gestellte Verhalten selbstständig und abschließend. Dies führt dazu, dass auch die fiktive Dokumentation einer nicht durchgeführten Schutzimpfung als „nicht richtige“ Dokumentation i.S.v. § 74 Abs. 2 IfSG zu verstehen ist.

16(1) § 22 Abs. 1 IfSG wird von § 74 Abs. 2 IfSG  anders als im Ordnungswidrigkeitstatbestand nach § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG – nicht unmittelbar in Bezug genommen. Die in § 74 Abs. 2 IfSG enthaltene Bezugnahme auf die Norm des § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG hat nur eine von insgesamt vier Begehungsalternativen zum Gegenstand, der in Ansehung der Wiederholung der Tathandlung in § 74 Abs. 2 IfSG ersichtlich keine eigenständige Bedeutung zukommt. Die Bedeutung der über § 73 Abs. 1a Nr. 8 IfSG erfolgenden mittelbaren Bezugnahme auf § 22 Abs. 1 IfSG erschöpft sich daher darin, die Legaldefinition des Begriffs der Impfdokumentation aufzugreifen und den tauglichen Täterkreis auf Personen einzugrenzen, die zur Durchführung einer Schutzimpfung berechtigt sind.

17(2) Weiterhin zeigt die Einengung der Tathandlung auf eine einzige Tatvariante ‒ die „nicht richtige“ Dokumentation der Schutzimpfung ‒, dass der Gesetzgeber in der besonderen Konstellation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 einen eigenständigen Bezugspunkt gewählt und das unter Strafe gestellte Verhalten losgelöst von den in § 22 Abs. 1 IfSG normierten Pflichten für impfberechtigte Personen definiert hat.

18(3) § 74 Abs. 2 IfSG enthält sonach eine vollständige, klare und hinreichend bestimmte Umschreibung des mit Strafe bedrohten Verhaltens, denn die Vorschrift benennt das wissentliche nicht richtige Dokumentieren einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 zur Täuschung im Rechtsverkehr als das unter Strafe gestellte Verhalten. Die Einleitung des Nebensatzes mit der Konjunktion „indem“ stellt unmissverständlich klar, dass das nachfolgend gesetzlich umschriebene Verhalten unter Strafe gestellt ist. Der Normbefehl enthält das Verbot, eine Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 zur Täuschung im Rechtsverkehr nicht richtig zu dokumentieren. Damit handelt es sich bei § 74 Abs. 2 IfSG nF ‒ anders als bei § 74 IfSG aF (vgl. dazu Ruppert, medstra 2020, 148, 151) ‒ nicht um eine klassische Blankettstrafnorm, die auf eine eigenständige Umschreibung des strafbaren Verhaltens gänzlich verzichtet und insoweit auf eine andere Norm Bezug nimmt. Sie ist vielmehr ‒ von der Bestimmung des Kreises tauglicher Täter abgesehen, die sich aus der mittelbaren Bezugnahme auf § 22 Abs. 1 IfSG ergibt ‒ aus sich heraus verständlich. Zweifel an der Gesetzesbestimmtheit der Strafnorm hegt der Senat nicht (a.M. Lorenz/Oğlakcıoğlu in Kießling, IfSG, 3. Aufl., § 74 Rn. 8 i.V.m. § 73 Rn. 7a).

19cc) Die Entstehungsgeschichte steht diesem Verständnis der Strafnorm nicht entgegen. Zwar sind die Gesetzesmaterialien wenig aussagekräftig. Sie sind auf den Hinweis beschränkt, dass mit der Ergänzung des § 74 Abs. 2 IfSG ‒ ebenso wie mit der neu geschaffenen Strafvorschrift des § 75a IfSG ‒ Strafbarkeitslücken geschlossen werden sollten (vgl. BT-Drucks. 19/29870 S. 1 und 34). Der Gesetzgeber verfolgte mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze aber erkennbar das Ziel, die Pandemie durch geeignete und verhältnismäßige Schutzmaßnahmen einzudämmen und damit der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit zu entsprechen, sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems als ein überragend wichtiges Gemeingut sicherzustellen (so ausdrücklich BT-Drucks. 19/29870 S. 1). Das staatlich gewählte Schutzkonzept, das zur effektiven Bekämpfung der Pandemie und zur Eindämmung der Zahl der Neuinfektionen zeitweise Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen vorsah, die eine Lockerung unter anderem für Geimpfte vorsahen, spricht dafür, dass der Gesetzgeber mit der Verschärfung der Strafvorschriften auch das Ziel verfolgte, die infolge der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen praktisch bedeutsam gewordenen Fälle wissentlicher Dokumentation einer tatsächlich nicht durchgeführten Impfung zu erfassen.

20dd) Schließlich spricht auch der Schutzzweck der Norm für ein solches Auslegungsergebnis. Der Straftatbestand des § 74 Abs. 2 IfSG dient ‒ wie die Verortung der Norm im Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (InfektionsschutzgesetzIfSG) zeigt ‒ dem Zweck, übertragbaren Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre Weiterverbreitung zu verhindern (vgl. § 1 IfSG). Mit Blick auf diesen besonderen Schutzzweck des Infektionsschutzgesetzes dient § 74 Abs. 2 IfSG daher speziell der Verhinderung bzw. Begrenzung der Verbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2. Erklärtes Ziel der staatlichen Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der weltweiten Corona-Pandemie war es, die Anzahl der Neuinfektionen zu senken. Hierzu dienten unter anderem bußgeldbewehrte (vgl. § 73 Abs. 1a Nr. 11b IfSG) Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG sowie Beschränkungen des Zugangs zu Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport- und Gaststätten, die jeweils Lockerungen für geimpfte und genesene Personen vorsahen. Die Strafvorschrift des § 74 Abs. 2 IfSG verfolgt vor diesem Hintergrund erkennbar das Ziel, der Umgehung staatlicher Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie entgegenzuwirken und zu diesem Zweck erfolgte Fälschungen unter Strafe zu stellen (vgl. Schmidhäuser in medstra 2022, 21, 22). Weiterhin sollte neben den Kontaktbeschränkungen, die unmittelbar auf eine Verhinderung der Übertragung zielten, durch die einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht bezüglich der COVID19-Immunität (vgl. dazu ‒ 1 BvR 2649/21, BVerfGE 161, 299 ff.) auch ein Impfanreiz geschaffen werden. Der Nachweispflicht bezüglich einer COVID19-Immunität kam nach dem gesetzgeberischen Schutzkonzept daher eine zentrale Rolle bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie zu. Deren Schutzzweck wird durch eine nicht richtige Dokumentation einer Schutzimpfung in besonderem Maße bedroht und sollte daher im Interesse der Pandemiebekämpfung unter den in § 74 Abs. 2 IfSG normierten zusätzlichen Voraussetzungen strafbewehrt sein. Denn tatsächlich nicht geimpfte Inhaber eines Impfnachweises, die durch den Gebrauch dieses unrichtigen Impfnachweises bestehende Corona-Schutzmaßnahmen unterlaufen und als vermeintlich Geimpfte am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, stehen in Gefahr, sich selbst oder andere mit dem SARS-CoV-2 Virus anzustecken (vgl. Hergenröder in Sangs/Eibenstein, IfSG, 1. Aufl., § 74 Rn. 24; Kessler in Tsambikakis/Rostalski, Medizinstrafrecht, 1. Aufl., IfSG § 74 Rn. 18).

21ee) Die Auslegung der Norm steht im Einklang mit der Verfassung. Sie gerät insbesondere nicht in Konflikt mit Art. 103 Abs. 2 GG.

22Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie (vgl. ‒ 2 BvR 1404/20 Rn. 34; Beschluss vom – 2 BvR 2500/09 Rn. 164). Der Gesetzgeber hat zu entscheiden, ob und in welchem Umfang er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich und notwendig erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will (vgl. BVerfGE 130, 1, 43). Den Strafgerichten ist es verwehrt, seine Entscheidung zu korrigieren (vgl. BVerfGE 126, 170, 197; Beschluss vom ‒ 2 BvR 1404/20 Rn. 35 mwN). Sie sind aber durch Art. 103 Abs. 2 GG nicht gehindert, den Wortlaut einer Strafbestimmung weit auszulegen. In Fällen, in denen der Normzweck eindeutig und offensichtlich ist, kann eine daran orientierte weite Auslegung des Wortsinns geboten sein, denn unter dieser Voraussetzung kann der Normadressat das strafrechtlich Verbotene seines Handelns vorhersehen (vgl. ‒ 2 BvR 972/21 Rn. 14; Beschluss vom ‒ 2 BvR 1107/03 Rn. 3).

23Gemessen hieran ist die gewählte Auslegung des § 74 Abs. 2 IfSG mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar. Denn der Normzweck des § 74 Abs. 2 IfSG ist offensichtlich und eindeutig. Bei dieser Sachlage ist für den Normadressaten ohne Weiteres vorhersehbar, dass die Dokumentation einer tatsächlich nicht durchgeführten Impfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 dem Straftatbestand unterfällt.

242. Das Landgericht hat weiterhin zu Recht angenommen, dass der Angeklagte in den urteilsgegenständlichen 190 Fällen, die zeitlich nach dem geschehen sind, jeweils neben dem Tatbestand des § 74 Abs. 2 IfSG tateinheitlich auch den Tatbestand des § 278 Abs. 1 StGB verwirklicht hat.

25Die Tatbestände des § 278 Abs. 1 StGB (in der ab dem geltenden Fassung) und des § 74 Abs. 2 IfSG stehen im Verhältnis der Idealkonkurrenz zueinander, wenn sich das Gesundheitszeugnis auf das Coronavirus SARS-CoV-2 bezieht (so auch Wittig in SSW-StGB, 6. Aufl., § 278 Rn. 10; Neuhöfer/Kindhäuser in BeckOK Infektionsschutzrecht, 22. Ed., IfSG § 74 Rn. 40; Hergenröder in Sangs/Eibenstein, IfSG, 1. Aufl., § 74 Rn. 44; Lorenz/Oğlakcıoğlu in Kießling, IfSG, 3. Aufl., vor §§ 73 ff. Rn. 18; Zieschang in LK-StGB, 13. Aufl., § 278 Rn. 30; Weidemann in BeckOK-StGB, 62. Ed., § 278 Rn. 10.1; Kessler in Tsambikakis/Rostalski, Medizinstrafrecht, 1. Aufl., IfSG § 74 Rn. 23). Keines der ideal konkurrierenden Delikte tritt gesetzeskonkurrierend zurück (a.A. Erb in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 278 Rn. 11 [§ 278 StGB wird verdrängt]; Lorenz/Rehberger NJW 2022, 1295 Rn. 16 [§ 278 StGB wird verdrängt]; Hoven/Weigend KriPoZ 2021, 343, 348 [§ 278 StGB wird verdrängt]; Schuhr in Spickhoff, Medizinrecht, 4. Aufl., § 278 Rn. 17 [§ 74 Abs. 2 IfSG wird verdrängt]).

26a) Gesetzeskonkurrenz liegt vor, wenn ein Verhalten dem Wortlaut nach mehrere Strafvorschriften erfüllt, zur vollständigen Erfassung des Unrechtsgehalts der Tat aber ‒ anders als im Fall der Tateinheit ‒ bereits die Anwendung einer Strafnorm ausreicht (vgl. ‒ 5 StR 157/20, BGHSt 65, 36, 40; Urteil vom – 1 StR 98/83, BGHSt 31, 380; RGSt 7, 116). Maßgebend für die Beurteilung sind die Rechtsgüter, gegen die sich der Angriff des Täters richtet, und die Tatbestände, die das Gesetz zu ihrem Schutz aufgestellt hat (vgl. , BGHSt 39, 100, 108).

27b) Gemessen hieran liegt weder Gesetzeseinheit in Form der Spezialität, der Subsidiarität oder der Konsumtion, sondern Idealkonkurrenz vor.

28aa) Gesetzeseinheit in der hier in Betracht zu ziehenden Form der Konsumtion liegt vor, wenn der Unrechts- und Schuldgehalt eines Delikts durch die Bestrafung wegen eines anderen Delikts deshalb hinreichend ausgeglichen wird, weil der verdrängte Tatbestand sich im Regelbild der typischen Begleittat hält und keinen eigenständigen, über die Haupttat hinausgreifenden Unrechtsgehalt aufweist (vgl. Rn. 10). Das Unrecht des zurücktretenden Delikts muss bei der Verurteilung wegen des verbleibenden Delikts erschöpfend erfasst werden (vgl. , BGHSt 63, 253, 261 Rn. 24). Die Konsumtion setzt die Verletzung mehrerer Rechtsgüter desselben Rechtsgutsträgers voraus (vgl. BGH aaO Rn. 25). Unterschiedliche Schutzrichtungen der in Rede stehenden Tatbestände können hingegen für die Annahme klarstellender Idealkonkurrenz sprechen (vgl. Rn. 24; Beschluss vom – 3 StR 532/19 Rn. 13).

29bb) Gemessen hieran liegt kein Fall der Konsumtion vor.

30§ 74 Abs. 2 IfSG stellt die wissentlich unrichtige Dokumentation einer Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 durch eine zur Durchführung von Schutzimpfungen berechtigte Person zur Täuschung im Rechtsverkehr unter Strafe. Nach § 278 Abs. 1 StGB macht sich strafbar, wer als Arzt oder eine andere approbierte Medizinalperson ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt. Beide Delikte unterscheiden sich in ihrer Schutzrichtung. Die nebenstrafrechtliche Norm des § 74 Abs. 2 IfSG hat den Zweck, übertragbare Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen. Der Tatbestand des § 278 StGB aus dem Kernstrafrecht – verortet im Abschnitt der „Urkundenfälschungen“ – schützt hingegen die Beweiskraft von Gesundheitszeugnissen (vgl. Zieschang medstra 2020, 202).

31Entsprechend der unterschiedlichen Schutzrichtung der beiden Tatbestände sind deren Anwendungsbereiche nicht deckungsgleich. So stellt zwar eine Impfbescheinigung ein Gesundheitszeugnis i.S.d. § 278 StGB dar (vgl. Rn. 16), da die Bescheinigung einer durchgeführten Impfung eine Erklärung über den Gesundheitszustand eines Menschen ist. Die von § 74 Abs. 2 IfSG erfassten Dokumentationen gemäß § 22 IfSG betreffen jedoch auch Angaben (z.B. Chargenbezeichnung des Impfstoffs i.S.d. § 22 Abs. 2 Nr. 2 IfSG), welche außerhalb des Anwendungsbereichs des § 278 Abs. 1 StGB liegen, da sie nicht den Gesundheitszustand eines Menschen betreffen und nicht zum Inhalt des Gesundheitszeugnisses gehören (vgl. Hoven/Weigend KriPoZ 2021, 343, 348; Kessler in Tsambikakis/Rostalski, Medizinstrafrecht, 1. Aufl., IfSG § 74 Rn. 23).

32Zudem werden durch die Dokumentation einer tatsächlich nicht durchgeführten Impfung entsprechend der unterschiedlichen Schutzrichtung der beiden Tatbestände auch Schutzgüter verschiedener Rechtsgutsträger betroffen. So bezweckt § 74 Abs. 2 IfSG den Schutz der Allgemeinheit vor der Ausbreitung ansteckender Krankheiten, wohingegen § 278 StGB die Dispositionsfreiheit des Rechtsverkehrs als Täuschungsadressaten schützt (vgl. Erb in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 278 Rn. 1).

33Die unterschiedlichen Schutzrichtungen der beiden Tatbestände geben Veranlassung, aus Gründen der Klarstellung Idealkonkurrenz anzunehmen (vgl. Lorenz/ Oğlakcıoğlu in Kießling, IfSG, 3. Aufl., vor §§ 73 ff. Rn. 18).

Quentin                         Bartel                         Maatsch

                 Marks                          Tschakert

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:110924B4STR75.24.0

Fundstelle(n):
ZAAAJ-82260