BGH Urteil v. - X ZR 136/23

Leitsatz

1.    Wenn ein außergewöhnlicher Umstand dazu führt, dass nicht alle vorgesehenen Flüge stattfinden können, ist dem Luftverkehrsunternehmen bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen ein Spielraum zuzubilligen (Bestätigung von , BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 = RRa 2012, 288 Rn. 33).

2.    Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlichen Umstand und der Annullierung eines Fluges auch dann zu bejahen sein, wenn sich das Luftfahrtunternehmen entschließt, einzelne Flüge am Tag des außergewöhnlichen Umstands nicht mehr durchzuführen, um eine Annullierung oder große Ankunftsverspätung am Folgetag zu vermeiden (Ergänzung zu , NJW 2014, 3303 = RRa 2014, 293 Rn. 32).

Gesetze: Art 5 Abs 3 EGV 261/2004

Instanzenzug: Az: 5 S 79/22vorgehend AG Nürtingen Az: 40 C 163/22

Tatbestand

1Die Klägerin nimmt die Beklagte aus abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

2Die Zedentin verfügte über eine bestätigte Buchung für einen von der Beklagten durchzuführenden Flug, der planmäßig am um 18:15 Uhr (Ortszeit) in Stuttgart starten und um 19:30 Uhr in Hamburg landen sollte.

3Die Beklagte annullierte den Flug um 20:26 Uhr. Die Zedentin erreichte Hamburg am mit einer Verspätung von 12 Stunden und 44 Minuten.

4Das Amtsgericht hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 250 Euro nebst Zinsen verurteilt. Das Berufungsgericht hat die Klage durch Versäumnisurteil abgewiesen und dieses Urteil nach Einspruch aufrechterhalten. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Die Beklagte tritt dem Rechtsmittel entgegen.

Gründe

5Die zulässige Revision ist unbegründet.

6I.    Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

7Die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Ausgleichszahlung aus abgetretenem Recht.

8Die Beklagte könne sich auf das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände gemäß Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO berufen.

9Wegen eines Schneesturms in Stuttgart sei der gesamte Flugtag beeinträchtigt worden. Deshalb sei es bereits bei den Vorflügen zur Verzögerungen bei der Zuweisung von Slots gekommen. Diese Vorgänge seien immer noch kausal für die Annullierungsentscheidung des von der Zedentin gebuchten Fluges gewesen.

10Ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu einer streikbedingten Umorganisation komme dem Luftfahrtunternehmen, das darauf hinzuwirken habe, dass die Beeinträchtigungen für die Gesamtheit der Fluggäste möglichst gering ausfallen und nach dem Wegfall der Beeinträchtigung möglichst schnell wieder der Normalbetrieb aufgenommen werden könne, ein Spielraum bei der Beurteilung der zweckmäßigen (Annullierungs-)Maßnahmen zu. Die Beklagte habe dementsprechend zu Recht unter Einbeziehung der Gesamtheit der Fluggäste eine Ermessensentscheidung zu Lasten des von der Zedentin gebuchten Fluges und des Folgefluges getroffen, um weitere Flugumläufe am Folgetag beginnend ab Stuttgart zu retten.

11Die Beklagte habe hinreichend nachgewiesen, dass es weder bei ihr noch bei anderen Luftfahrtgesellschaften eine schnellere anderweitige Beförderungsmöglichkeit nach Hamburg gegeben habe.

12II.    Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung in den entscheidenden Punkten stand.

131.    Zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass die Annullierung im Streitfall auf außergewöhnlichen Umständen im Sinne von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO beruht.

14a)    Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass extreme Wetterbedingungen, die zu verspäteten Startfreigaben durch die Flugsicherungsbehörde führen, außergewöhnliche Umstände darstellen können (dazu , NJW 2014, 859 = RRa 2014, 78 Rn. 12 ff.).

15b)    Ebenfalls zutreffend hat das Berufungsgericht angenommen, dass Störungen, die am gleichen Tag bei vorangegangenen Flügen des eingesetzten Flugzeugs auftreten, auch bei nachfolgenden Flügen als außergewöhnliche Umstände im Sinne des Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO zu berücksichtigen sein können.

16Der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass sich ein ausführendes Luftverkehrsunternehmen auf einen außergewöhnlichen Umstand berufen kann, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Flugzeug durchgeführt hat, sofern ein unmittelbarer ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Auftreten dieses Umstands und der Verspätung oder Annullierung eines späteren Flugs besteht. Ob diese Voraussetzung vorliegt, ist von den nationalen Gerichten unter Berücksichtigung des Betriebsmodus des betreffenden Flugzeugs zu beurteilen (, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 51 ff. - LE/TAP).

17Wie der Senat auf der Grundlage dieser Rechtsprechung bereits entschieden hat, ist ein unmittelbarer Zusammenhang regelmäßig nicht mehr gegeben, wenn zwischen dem Auftreten des außergewöhnlichen Umstands und einem späteren Flug ein Zeitraum zur Verfügung steht, der es ermöglicht, die entstandene Verspätung mit zumutbaren Maßnahmen aufzuholen. Eine solche Möglichkeit kann insbesondere dann bestehen, wenn der Einsatzplan entsprechende Zeitpuffer vorsieht. Letzteres wird häufig während der Nachtzeit der Fall sein. Eine abweichende Beurteilung kann aber insbesondere dann geboten sein, wenn die Möglichkeit, eingetretene Verspätungen über Nacht aufzuholen, aufgrund von Nachtflugverboten eingeschränkt ist oder ausscheidet (, NJW-RR 2021, 926 = RRa 2021, 188 Rn. 32 f.).

18c)    In Einklang mit diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht angenommen, dass ein unmittelbarer Zusammenhang auch dann bestehen kann, wenn zuvor aufgetretene außergewöhnliche Umstände der Durchführung des in Rede stehenden Flugs zwar nicht entgegenstehen, die Durchführung dieses Flugs aber zu Beeinträchtigungen nachfolgender Flüge führen würde.

19Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Nichtdurchführung eines einzelnen Flugs auf Grund außergewöhnlicher Umstände in der Regel nicht allein deshalb als vermeidbar angesehen werden kann, weil stattdessen ein anderer Flug hätte annulliert werden können.

20Wenn ein außergewöhnlicher Umstand dazu führt, dass nicht alle vorgesehenen Flüge stattfinden können, ist dem Luftfahrtunternehmen bei der Beurteilung der zweckmäßigen Maßnahmen ein Spielraum zuzubilligen (, BGHZ 194, 258 = NJW 2013, 374 = RRa 2012, 288 Rn. 33). Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlichen Umstand und der Annullierung eines für den Folgetag vorgesehenen Fluges zu bejahen sein, wenn sich das Luftfahrtunternehmen dafür entschieden hat, an dem Tag, an dem der außergewöhnliche Umstand eingetreten ist, alle vorgesehenen Flüge - wenn auch verspätet - noch durchzuführen (, NJW 2014, 3303 = RRa 2014, 293 Rn. 32). Für den Fall, dass sich das Luftfahrtunternehmen entschließt, einzelne Flüge am Tag des außergewöhnlichen Umstands nicht mehr durchzuführen, um eine Annullierung oder große Ankunftsverspätung am Folgetag zu vermeiden, kann nichts anderes gelten.

21Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist es einem Luftfahrtunternehmen allerdings grundsätzlich verwehrt, den Platz eines Fluggastes neu zu vergeben, um andere Fluggäste zu befördern; in solchen Fällen kann sich das Luftfahrtunternehmen von seiner Ausgleichsverpflichtung auch nicht mit der Begründung befreien, die Flüge seien infolge außergewöhnlicher Umstände umorganisiert worden (, NJW 2013, 361 = RRa 2012, 281 Rn. 32 und 37 - Finnair/Lassooy).

22In Fällen, in denen ein außergewöhnlicher Umstand Auswirkungen auf mehrere Flüge hat, die mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt werden sollen, ist hingegen dem Betriebsmodus der Luftfahrzeuge Rechnung zu tragen - insbesondere dem Umstand, dass zumindest in bestimmten Flugkategorien dasselbe Luftfahrzeug mehrere aufeinanderfolgende Flüge an demselben Tag durchführen kann. Deshalb muss es einem ausführenden Luftfahrtunternehmen möglich sein, sich zur Befreiung von seiner Verpflichtung zu Ausgleichszahlungen auf einen außergewöhnlichen Umstand zu berufen, der einen vorangegangenen Flug betroffen hat, den es selbst mit demselben Luftfahrzeug durchgeführt hat (, NJW-RR 2020, 871 = RRa 2020, 185 Rn. 52 f. - TAP).

23Für die Beurteilung der Frage, ob der dafür erforderliche Ursachenzusammenhang besteht, ist der vorgesehene Betriebsmodus in seiner Gesamtheit zu berücksichtigen. Das Luftfahrtunternehmen ist deshalb nicht gehalten, ohne Rücksicht auf damit verbundene Folgen alle vorgesehenen Flüge durchzuführen, solange dies irgendwie möglich ist. Vielmehr darf es nach Möglichkeiten suchen, die Beeinträchtigungen, die ein außergewöhnlicher Umstand auf den Betriebsmodus des betroffenen Luftfahrzeugs hat, möglichst gering zu halten.

24Deshalb kann ein ursächlicher Zusammenhang auch dann zu bejahen sein, wenn von der Durchführung einzelner Flüge am Tag des ungewöhnlichen Umstands abgesehen wird, um Annullierungen oder große Ankunftsverspätungen am Folgetag zu vermeiden.

25d)    Vor diesem Hintergrund ist die Beurteilung des Streitfalls durch das Berufungsgericht aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

26Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte sowohl den von der Zedentin gebuchten und wegen der Wetterbedingungen bei den Vorflügen sowie der dadurch bedingten Verschiebungen von Slotzuweisungen nur verspätet durchführbaren Flug nach Hamburg als auch den vom Nachtflugverbot betroffenen Rückflug nach Stuttgart annulliert, um eine Durchführung der am Folgetag für das betroffene Flugzeug vorgesehenen Flugumläufe ab Stuttgart sicherzustellen.

27Diese Abwägung ist geeignet, den erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen den aufgetretenen außergewöhnlichen Umständen und der Annullierung zu begründen.

28Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob das Flugzeug ohne die in Stuttgart vorgesehene Untersuchung (daily check) am Folgetag überhaupt einsatzbereit gewesen wäre, nicht entscheidungserheblich. Deshalb kann dahingestellt bleiben, ob die Angriffe der Revision gegen die diesbezügliche Feststellung des Berufungsgerichts begründet sind.

292.    Rechtsfehlerfrei und insoweit nicht angegriffen hat das Berufungsgericht festgestellt, dass eine anderweitige Beförderungsmöglichkeit, mit der die Zedentin Hamburg früher hätte erreichen können, nicht bestanden hat.

30III.    Für ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV besteht kein Anlass.

31Der Gerichtshof hat die für den Streitfall entscheidenden Gesichtspunkte bezüglich der Auslegung von Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO in den oben angeführten Entscheidungen bereits aufgezeigt. Die Subsumtion einzelner Fälle unter diese Rechtsgrundsätze ist Aufgabe der nationalen Gerichte.

32IV.    Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

Bacher                         Deichfuß                         Kober-Dehm

                 Marx                            von Pückler

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:240924UXZR136.23.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-77819