Instanzenzug: LG Lüneburg Az: 111 KLs 20/23
Gründe
1Das Landgericht hat die Anordnung der Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt und festgestellt, dass er für die erlittene Untersuchungshaft und Unterbringung zu entschädigen ist. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
21. Nach den Feststellungen lief der 57 Jahre alte, seit vielen Jahren an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie leidende Beschuldigte am Tattag auf die 22-jährige Geschädigte S. zu, deren Körperhaltung er krankheitsbedingt missdeutete, und griff ihr mit einer Hand von vorne über der Kleidung in den Schritt, wobei er Unverständliches murmelte. Die Geschädigte schlug seine Hand weg, woraufhin er von ihr abließ (Fall 1). Wenige Minuten später näherte er sich der mit ihrem Fahrrad an einer roten Ampel wartenden 23-jährigen Geschädigten G. und griff ihr unvermittelt mit der Hand über der Kleidung in den Schritt. Die Geschädigte schlug seine Hand weg und fuhr sofort mit ihrem Fahrrad davon. Sie war durch den Vorfall schockiert, und ihre Hände zitterten bei der mehr als anderthalb Stunden nach dem Vorfall erfolgenden Anzeigenaufnahme (Fall 2). Kurze Zeit darauf fasste der Beschuldigte der an einer Bushaltestelle stehenden 23-jährigen Geschädigten Su. unvermittelt an die rechte Gesäßhälfte. Als sie ihn schockiert aufforderte aufzuhören, hatte er seine Hand schon weggenommen. Su. begab sich mit der zu Hilfe eilenden Geschädigten K. auf die andere Straßenseite (Fall 3). Der Beschuldigte folgte den beiden Frauen, öffnete seine Hose und entblößte sein Glied, an dem er in sexueller Absicht manipulierte. Nachdem er seine Hose wieder hochgezogen hatte, ging er mit den Worten „dich nehme ich auch noch“ auf die Geschädigte K. zu, wobei er seine Arme anwinkelte und kurzzeitig Stoßbewegungen mit seiner Hüfte vollführte. Der Beschuldigte entfernte sich nach der Ankündigung der Geschädigten, die Polizei zu rufen (Fall 4). Kurze Zeit später setzte der Beschuldigte sich auf eine Bank neben die Geschädigte S. , die dort mit ihrer Schwester und deren vier Monate alten Tochter, die sich in einem Kinderwagen befand, saß. Die Geschädigte S. erkannte den Beschuldigten wieder, berichtete ihrer Schwester von dem kurz zuvor erfolgten Übergriff und rief die Polizei. Der Beschuldigte näherte sich nunmehr dem Kinderwagen. Aus Sorge vor „sexuellen Phantasien bezüglich des Babys“ gebot die Schwester dem Beschuldigten verbal und mit einer Geste Einhalt, worauf dieser stehenblieb. Er fasste zunächst über der Hose an seinen Penis, um dann bei geöffneter und heruntergezogener Hose weiter daran zu manipulieren, wobei er seinen Blick auf die beiden Frauen richtete (Fall 5).
3Das Landgericht hat das Verhalten des Beschuldigten in den Fällen 1 und 2 als sexuellen Übergriff (§ 177 Abs. 2 Nr. 3 StGB), im Fall 3 als sexuelle Belästigung (§ 184i StGB) und in den Fällen 4 und 5 als exhibitionistische Handlungen (§ 183 StGB) gewertet. Sachverständig beraten ist es davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten krankheitsbedingt aufgehoben gewesen sei. Seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hat die Strafkammer abgelehnt, weil die von ihm zu erwartenden Taten zwar „sozial unerwünscht und lästig“ seien, aber nicht die notwendige Erheblichkeitsschwelle des § 63 StGB erreichten.
42. Die Ablehnung der Anordnung einer Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält rechtlicher Prüfung nicht stand. Die Erwägungen, mit denen das Landgericht eine Gefährlichkeit des Beschuldigten im Sinne des § 63 StGB verneint hat, begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
5a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur dann in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Waren die Anlasstaten nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB, müssen besondere Umstände vorliegen, die die Erwartung rechtfertigen, dass der Täter infolge seines Zustands erhebliche Taten begehen wird (§ 63 Satz 2 StGB). Bei den zu erwartenden Taten muss es sich um solche handeln, die geeignet erscheinen, den Rechtsfrieden schwer zu stören sowie das Gefühl der Rechtssicherheit erheblich zu beeinträchtigen, und damit zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sind (st. Rspr.; vgl. , NStZ-RR 2019, 41, 42; vom – 3 StR 174/18, Rn. 12). Die zu stellende Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und in den Urteilsgründen nachvollziehbar darzulegen (vgl. ; NStZ-RR 2024, 44; vom – 4 StR 195/18, aaO).
6b) Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
7aa) Der Senat kann offen lassen, ob das Landgericht sämtliche Anlasstaten zu Recht als nicht erheblich im Sinne von § 63 Satz 1 StGB bewertet hat. Zwar begegnet dies hinsichtlich der sexuellen Belästigung (Fall 3) und der exhibitionistischen Handlungen (Fälle 4 und 5) keinen rechtlichen Bedenken. Für die beiden sexuellen Übergriffe (Fälle 1 und 2) versteht sich dies aber nicht von selbst und hätte näherer Begründung bedurft. Straftaten, die ‒ wie der sexuelle Übergriff im Sinne des § 177 Abs. 2 StGB ‒ mit einer erhöhten Mindeststrafe und im Höchstmaß mit mindestens fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet werden können, gehören regelmäßig zum Bereich der mittleren Kriminalität. Die Erheblichkeit solcher Taten kann insbesondere anzunehmen sein, wenn sie Zufallsopfer im öffentlichen Raum treffen und zu erheblichen Einschränkungen der Lebensführung des Opfers oder sonst schwerwiegenden Folgen führen (vgl. ; vom – 5 StR 211/21).
8bb) Die Gefahrenprognose des Landgerichts ist jedenfalls lückenhaft, weil es an der erforderlichen umfassenden Vergangenheitsbetrachtung fehlt. Die Strafkammer hat zwar mitgeteilt, dass das Bundeszentralregister 57 Eintragungen enthält, der Beschuldigte von 1986 bis 2019 in 26 Verfahren zu Geldstrafen verurteilt worden ist und 2016 bis 2023 weitere 26 gegen ihn wegen verschiedener Delikte geführte Verfahren wegen Schuldunfähigkeit eingestellt worden sind. Die Urteilsgründe sind aber auf die rechtliche Bewertung der Delikte sowie den Hinweis beschränkt, dass sich die Staatsanwaltschaften Hannover und Hamburg trotz der Vielzahl der Verfahren nicht zur Einleitung eines Sicherungsverfahrens veranlasst sahen. Vor diesem Hintergrund ist die tatgerichtliche Wertung, dass „die Taten im Einzelfall, aber auch in ihrer Gesamtheit, die Erheblichkeitsschwelle nicht überschritten haben“, nicht nachvollziehbar. Denn es fehlt an Mitteilungen, welche Tathandlungen den eingestellten Verfahren zugrunde lagen. Weitere Darlegungen hinsichtlich der Vortaten waren auch nicht wegen der Art der Delikte entbehrlich. Zwar betrafen sieben Verfahren ausschließlich das Erschleichen von Leistungen und damit nicht erhebliche Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB. Anders verhält es sich aber bezüglich der sechs Verfahren, die den Vorwurf einer Bedrohung nach § 241 StGB zum Gegenstand hatten. Bedrohungen sind nicht von vornherein als unerhebliche Taten im Sinne des § 63 StGB einzustufen. Namentlich Todesdrohungen, die den Bedrohten nachhaltig und massiv in seinem elementaren Sicherheitsempfinden zu beeinträchtigen vermögen, können den Rechtsfrieden schwerwiegend stören. Diese Frage kann grundsätzlich nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls beantwortet werden (vgl. ). Weitere Darlegungen wären zudem zu den drei in den Jahren 2016 und 2019 eingestellten Verfahren wegen Körperverletzung – teilweise in Tateinheit mit räuberischer beziehungsweise versuchter räuberischer Erpressung – geboten gewesen. Die tatgerichtliche Wertung, diese Taten seien nicht erheblich gewesen, weil es sich um länger zurückliegende „Vorfälle in der Familie“ gehandelt habe, ist angesichts fehlender Feststellungen zu den Tathandlungen nicht nachvollziehbar. Zudem können auch Vorfälle in der Familie eine Gefährdung der Allgemeinheit begründen (vgl. ; vom – 1 StR 530/06, NStZ 2007, 464).
93. Die Sache bedarf daher neuer tatgerichtlicher Verhandlung und Entscheidung. Die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zu den rechtswidrigen Taten können nicht bestehen bleiben, weil der Beschuldigte das Urteil, das die Begehung der Taten durch ihn festgestellt hat, mangels Beschwer nicht anfechten konnte (vgl. , aaO; vom – 4 StR 380/21, Rn. 22). Die Aufhebung des Urteils führt zugleich zum Wegfall der Entscheidung über die Zuerkennung der Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft beziehungsweise für die einstweilige Unterbringung (vgl. ).
104. Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird genauer als bisher geschehen Feststellungen zu den konkreten Tathandlungen des Beschuldigten in den Fällen 1 und 2 ‒ insbesondere zu Dauer und Intensität des überraschenden Griffs in den Schritt der Tatopfer ‒ zu treffen haben. Weiterhin wird es bei seiner Bewertung die Anzahl und Frequenz der Taten zu berücksichtigen haben.
Bartel Feilcke Wenske
Fritsche von Schmettau
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:180924U6STR154.24.0
Fundstelle(n):
RAAAJ-77657