BGH Beschluss v. - 4 StR 127/24

Instanzenzug: LG Hagen (Westfalen) Az: 51 KLs 7/23

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 242 Fällen, davon in sechs Fällen „im Versuch“, sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 43 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die mit der Sachrüge begründete Revision des Angeklagten führt zu dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

21. Die Schuldsprüche in den Fällen II. A. 1. bis 108. sowie 156. bis 210. der Urteilsgründe halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

3a) Die (tateinheitlichen) Schuldsprüche wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen können nicht bestehen bleiben, weil die Feststellungen das in diesen Fällen erforderliche Obhutsverhältnis nicht zweifelsfrei belegen.

4Der Tatbestand des § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB in der bis zum und damit zur Tatzeit in diesen Fällen geltenden Fassung vom setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist.

5Ein Obhutsverhältnis in diesem Sinne wird durch die Feststellungen nicht belegt.

6Insoweit hat der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift ausgeführt:

„Das Urteil stellt hierzu fest, dass der Angeklagte seine Ex-Frau im Jahr 2011 oder 2012 heiratete und mit seinen Stieftöchtern und der im Jahr 2010 geborenen leiblichen Tochter vom bis in P.                in einem Haushalt zusammenlebte (UA S. 4, 6, 11, 13, 24). Diese waren dem Angeklagten beim Zeitungsaustragen behilflich (UA S. 12, 17). Zudem beschrieb die Zeugin M.           G.         das generelle Verhältnis des Angeklagten als eigentlich gut, sie war von ihm jedoch „eingeschüchtert“ (UA S. 19). Der Geschädigten Mi.          G.        bot er nach jeder sexuellen Handlung Geld oder andere Geschenke an, wodurch sie sich erpresst fühlte (UA S. 13). Damit ist ein Anvertrautsein der Stieftöchter „zur Erziehung oder Betreuung in der Lebensführung“ nach § 174 Absatz 1 Nr. 1 StGB in den Fassungen bis zum und bis zum noch nicht hinreichend begründet.

Der Tatbestand des § 174 Absatz 1 Nr. 1 StGB setzt voraus, dass zwischen Täter und Opfer ein Verhältnis besteht, kraft dessen eine Person unter 16 Jahren dem Täter zur Erziehung, zur Ausbildung oder zur Betreuung in der Lebensführung anvertraut ist, wobei sich die Begriffe der Erziehung, der Ausbildung und der Betreuung in der Lebensführung in ihrem Bedeutungsgehalt überschneiden ( -). Erforderlich ist ein Verhältnis, in welchem einer Person das Recht und die Pflicht obliegt, die Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-seelische Entwicklung zu überwachen und zu leiten ( - BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 1). Erforderlich ist jedoch stets ein Abhängigkeitsverhältnis im Sinne der Unter- und Überordnung die den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich umfasst ( -, - BGHR StGB § 174 Abs. 1 Obhutsverhältnis 10). Das Zusammenleben in häuslicher Gemeinschaft genügt hierfür nicht (BGH NStZ 1989, 21; Senat, Beschluss vom - 4 StR 75/92 -, -; - NStZ-RR 1999, 321). Voraussetzung ist vielmehr, dass ein Verhältnis besteht, kraft dessen einer Person das Recht und die Pflicht obliegen, die Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Entscheidend ist, ob der Stiefvater zur Tatzeit die Stellung eines Familienvaters hatte und den Stieftöchtern - sei es aufgrund ausdrücklichen, sei es aufgrund stillschweigenden Einvernehmens mit der allein sorgeberechtigten Mutter - nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse so übergeordnet war, dass er sich nach der Art eines Vaters verantwortlich fühlte und die Lebensführung der Stieftöchter überwachte und leitete, oder dass ihn zumindest die Stieftöchter als Vertrauensperson anerkannt hätten. Ob ein solches Obhutsverhältnis besteht und welchen Umfang es hat, ist nach den tatsächlichen Verhältnissen des jeweiligen Einzelfalls zu beurteilen ( - BGHSt 33, 340).

Diese Voraussetzung ist bei den Eltern oder denjenigen, denen kraft Gesetzes oder gerichtlicher Entscheidung das Personensorgerecht übertragen ist, gegeben. Ebenso kann sie aber auch bei Personen vorliegen, die im Einverständnis mit dem Personensorgeberechtigten die Erziehung ausüben, gleichgültig ob dieses Einverständnis ausdrücklich oder stillschweigend erteilt wird. Eine ausdrückliche Übertragung auch nur eines Teiles der Erziehungsgewalt auf den Angeklagten konnte das Landgericht nicht feststellen. Bei einer Hausgemeinschaft, in der die personenberechtigte Mutter mit dem Stiefvater und ihrem Kind lebt, liegt es freilich nahe, dass dem Stiefvater wenigstens stillschweigend die (Mit-)Verantwortung für die Lebensführung des Jugendlichen übertragen wird. Hierfür müssen aber selbst bei ständigem Zusammenleben der Eheleute und den Stiefkindern konkrete Anhaltspunkte festgestellt werden (Senat, Beschluss vom - 4 StR 75/92 -).

Vorliegend reichen die festgestellten Tatsachen nicht aus, um von der Annahme eines stillschweigend abgeleiteten Obhutsverhältnisses im Sinne von § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB ausgehen zu können. In welcher konkretisierenden Art und Weise und in welchem zeitlichen Umfang der Angeklagte die Mutter der Stieftöchter bei der Erziehung oder Betreuung der Geschädigten unterstützte, bleibt nach den Feststellungen unklar. So bleibt etwa offen, wie oft und wie lange die Mutter abwesend war und über welche Zeiträume der Angeklagte die Stieftöchter beaufsichtigt hat. Konkrete Anhaltspunkte, die für ein Obhutsverhältnis sprechen könnten, etwa, dass der Angeklagte deren Tagesablauf organisierte, den Schulbesuch überwachte, sich um Ernährung und Körperhygiene kümmerte, an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnahm, im Haushalt half, Ausflüge unternahm oder diese abends zu Bett brachte, sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Dies gilt umso mehr, als die bisherigen Feststellungen der Jugendschutzkammer nicht dafür sprechen, dass der Angeklagte sich als einen für Erziehung und Beaufsichtigung der Lebensführung der Geschädigten verantwortlichen "Familienvater" angesehen hätte oder von den Geschädigten hierfür gehalten worden wäre. Auch lässt das Urteil dahingehende Feststellungen vermissen, dass dem Angeklagten die Mitverantwortung bei der Erziehung der Stieftöchter faktisch eingeräumt war, er etwa Verbote und Erlaubnisse erteilen und Strafen verhängen konnte bzw. solche tatsächlich ausgesprochen hat. Sorgeberechtigt für die Stieftöchter war der Angeklagte nach den Urteilsgründen nicht. Dass der Angeklagte auch einzelne Handlungen erzieherischen Charakters dadurch übernommen haben könnte, dass er die Mädchen in seine Arbeit als Zeitungsaustragens einbezogen hat, hat ebenfalls keine indizielle Bedeutung für das Bestehen eines Obhutsverhältnisses. Die Überwachung und Leitung der geistig-seelischen Entwicklung des Tatopfers durch den Angeklagten versteht sich auch nicht von selbst.“

7Diesen Ausführungen tritt der Senat bei.

8Zur Vermeidung jeglicher Beschwer des Angeklagten hebt der Senat im Tatkomplex II. A. auch die Tat II. A. 108. der Urteilsgründe auf. Das Landgericht vermochte die Tatzeitpunkte in diesem Tatkomplex nicht exakt festzustellen. Auf der Grundlage des umfassenden Geständnisses des Angeklagten und der glaubhaften Angaben der Nebenklägerin hat es sich davon überzeugt, dass er diese „zwischen Ende 2012/Anfang 2013 bis Anfang 2016“ mindestens einmal pro Woche ‒ und damit in 155 Fällen ‒ sexuell missbrauchte. Der Senat ist zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass er Ende des Jahres 2012 eine Tat, in den Jahren 2013 und 2014 jeweils 52 Taten, sowie im Januar 2015 drei Taten begangen hat, die zeitlich vor dem Inkrafttreten der Neufassung des § 174 Abs. 1 StGB durch das 49. Strafrechtsänderungsgesetz vom am lagen. Dies hat zur Folge, dass insgesamt 108 Taten und nicht, wie vom Generalbundesanwalt beantragt, 107 Taten aufzuheben waren.

9b) Der Rechtsfehler lässt die Feststellungen in den von der Aufhebung umfassten Fällen unberührt (§ 353 Abs. 2 StPO). Sie können daher bestehen bleiben. Zwar hat der Generalbundesanwalt weitergehend die Aufhebung von Feststellungen beantragt, „die das Obhutsverhältnis zwischen dem Angeklagten und den Nebenklägerinnen Mi.         und M.           G.       betreffen“. Aus der Antragsbegründung des Generalbundesanwalts ergibt sich aber, dass er ‒ wie der Senat ‒ den zur Urteilsaufhebung in diesen Fällen nötigenden Rechtsfehler darin sieht, dass den Urteilsgründen auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs keine ausreichenden Tatsachen zu entnehmen sind, die den Rechtsbegriff des Obhutsverhältnisses auszufüllen vermögen. Bei dieser Sachlage geht der weiter gehende Aufhebungsantrag ins Leere. Der Senat ist daher nicht gehindert, im Beschlusswege zu entscheiden, weil er mit seiner Entscheidung nicht zum Nachteil des Angeklagten vom Antrag des Generalbundesanwalts abweicht.

10c) Die Aufhebung der Schuldsprüche zieht die Aufhebung der für sich genommen rechtsfehlerfreien tateinheitlichen Schuldsprüche wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern sowie die Aufhebung der Aussprüche über die Einzelstrafen nach sich.

112. Die Schuldsprüche wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in den Fällen II. A. 254. bis 259. der Urteilsgründe können nicht bestehen bleiben, weil das Landgericht sich mit der Frage eines Rücktritts vom Versuch (§ 24 Abs. 1 StGB) nicht auseinandergesetzt hat, obwohl hierzu Anlass bestand.

12a) Nach den Feststellungen kam der Angeklagte in das Zimmer seiner Tochter E.       , legte sie auf das Bett und „versuchte“, mit seinem Penis in die Scheide seiner Tochter einzudringen.

13b) Der Senat lässt offen, ob diese Feststellungen, die eine tatsachenbasierte Beschreibung des tatsächlichen Geschehens vermissen lassen, zweifelsfrei belegen, dass der Angeklagte zur Verwirklichung des Qualifikationstatbestands des § 176a Abs. 2 StGB unmittelbar angesetzt hat (vgl. § 22 StGB). Jedenfalls fehlt es an Feststellungen zum Rücktrittshorizont des Angeklagten. Denn dem Urteil kann auch unter Berücksichtigung seines Zusammenhangs nichts zum Vorstellungsbild des Angeklagten zum Zeitpunkt seines Nichtweiterhandelns entnommen werden (vgl. ‒ 3 StR 69/23 Rn. 12; Beschluss vom ‒ 4 StR 587/19 Rn. 6). Bei dieser Sachlage erscheint ein strafbefreiender Rücktritt vom Versuch nicht ausgeschlossen.

14c) Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern (§ 176a Abs. 2, § 22 StGB) zieht die Aufhebung des tateinheitlichen Schuldspruchs wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen nach sich.

153. Die Aufhebungen der Schuldsprüche lassen die zugehörigen Einzelstrafen entfallen und entziehen der Gesamtstrafe die Grundlage.

164. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung.

17Das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht wird zu prüfen haben, ob es ergänzende Feststellungen zu treffen vermag, die belegen, dass die Nebenklägerinnen dem Angeklagten zur Erziehung anvertraut waren, und dass er insoweit bedingt vorsätzlich handelte.

18Der Senat weist vorsorglich darauf hin, dass die Feststellungen zu den persönlichen Verhältnissen für das neu zur Entscheidung berufene Tatgericht bindend geworden sind. Dies gilt auch für die Feststellung, dass der Angeklagte mit der Mutter der Nebenklägerinnen verheiratet war und er mit seinen Stiefkindern bis 2016 in einem gemeinsamen Haushalt lebte.

Quentin                      Bartel                      Scheuß

                  Dietsch                    Marks

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:140824B4STR127.24.0

Fundstelle(n):
MAAAJ-75881