Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - Sachaufklärungsrüge - Beweisantrag in der mündlichen Verhandlung - Gehörsrüge - Verletzung des Fragerechts - Sachdienlichkeit der aufgeworfenen Fragen - Erläuterung eines Sachverständigengutachtens - richterliche Hinweispflicht - Abgrenzung zur richterlichen Aufklärungspflicht - Mängel der Beschwerdebegründung
Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 103 SGG, § 106 Abs 1 SGG, § 116 S 2 SGG, § 118 Abs 1 S 1 SGG, § 62 SGG, § 73 Abs 4 SGG, § 103 SGG, § 122 SGG, § 202 S 1 SGG, § 402 ZPO, § 411 Abs 4 ZPO, § 404 Abs 2 ZPO, § 295 Abs 1 ZPO, § 160 Abs 2 ZPO, § 160 Abs 4 S 1 ZPO, § 164 ZPO
Instanzenzug: Az: S 13 U 5491/19 Gerichtsbescheidvorgehend Landessozialgericht Baden-Württemberg Az: L 8 U 614/22 Urteil
Gründe
1I. Mit vorbezeichnetem Urteil hat es das LSG abgelehnt, das Ereignis vom als Arbeitsunfall und die Innenmeniskusverletzung im linken Knie des Klägers als Unfallfolge festzustellen. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat er Beschwerde zum BSG eingelegt. In der Beschwerdebegründung macht er Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) geltend.
2II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht formgerecht begründet ist (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG). Der Zulassungsgrund des Vorliegens von Verfahrensfehlern ist entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend bezeichnet.
3Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist - außer im Fall absoluter Revisionsgründe - aufzuzeigen, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht.
41. Die Sachaufklärungsrügen (§ 103 SGG) sind nicht hinreichend dargelegt. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel "auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist". Der Kläger behauptet, er habe sowohl schriftsätzlich als auch in den mündlichen Verhandlungen vom 19.4. und erfolglos beantragt, den Sachverständigen S1 "zur Erläuterung seines Gutachtens vom " zu laden, damit er sein schriftliches Gutachten erläutere (§ 411 Abs 3 Satz 1 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG), sowie die Durchgangsärztin S2, den Arbeitskollegen S3 und die Nachbarin B als Zeugen zu vernehmen. Die Beschwerdebegründung versäumt es indes, Fundstelle und Wortlaut prozessordnungskonformer Beweisanträge - im hier maßgeblichen Sinn der ZPO (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG) - wiederzugeben und darzulegen, der im Berufungsverfahren rechtskundig vertretene Beschwerdeführer habe derartige Beweisanträge bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am durch entsprechende Hinweise zu Protokoll aufrechterhalten. Der Beweisantrag hat im sozialgerichtlichen Verfahren Warnfunktion und soll der Tatsacheninstanz unmittelbar vor der Entscheidung signalisieren, dass ein Beteiligter die gerichtliche Aufklärungspflicht noch für defizitär hält (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 113/23 B - juris RdNr 4, vom - B 2 U 14/23 B - juris RdNr 13 sowie grundlegend vom - B 2 U 336/00 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 52 und vom - 9 BV 26/93 - SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21). Diese Warnfunktion des Beweisantrags verfehlen Beweisgesuche, die lediglich in der Berufungsschrift oder sonstigen Schriftsätzen enthalten sind (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 113/23 B - juris RdNr 4 und vom - B 2 U 14/23 B - juris RdNr 13 mwN sowie grundlegend vom - B 13 RJ 193/01 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 73, vom - 9 BV 26/93 - SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und vom - 9 BV 39/88 - SozR 1500 § 160 Nr 67 S 73). Sie sind nur als Hinweise oder bloße Anregungen zu verstehen (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9 S 21 und Nr 35 S 73). Um die Warnfunktion zu aktivieren, muss ein rechtskundig vertretener Beschwerdeführer sein Beweisbegehren deshalb in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG als prozessordnungskonformen "Beweisantrag" iS des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG wiederholen und protokollieren lassen (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 2 und 4 Satz 1 ZPO). Ohne eine solche förmliche Antragstellung ist regelmäßig davon auszugehen (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO), dass er sein Beweisverlangen nicht mehr weiterverfolgt, sondern fallengelassen hat (stRspr; vgl - SozR 3-1500 § 160 Nr 31 S 52 und - SozR 3-1500 § 160 Nr 35 S 74, jeweils mwN).
5So liegt der Fall hier. Die Beschwerdebegründung (Gliederungspunkt 3.0, Bl 7 f) räumt selbst ein, dass sich die angebliche "Aufrechterhaltung aller gestellten Anträge und Rügen" in der letzten mündlichen Verhandlung "nicht exakt so aus dem Protokoll vom ergibt". Dass insofern Protokollergänzung oder -berichtigung (§ 122 SGG iVm § 160 Abs 4 Satz 1, § 164 ZPO) beim LSG beantragt worden ist, behauptet der Kläger nicht. Schon deshalb ist ein für die Revisionszulassung erforderlicher Beweisantrag nicht formgerecht bezeichnet (vgl - juris RdNr 6). Im Übrigen fehlt mit Blick auf die erbetene Vernehmung von Zeugen bereits die Angabe ihrer ladungsfähigen Anschriften und im Rahmen des Sachverständigenbeweises die hinreichend konkrete Bezeichnung der Beweistatsachen. Hierfür genügt es nicht, den Sachverständigen global "zur Erläuterung seines Gutachtens vom " aufzufordern.
62. Auch mit seinen Gehörsrügen (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) dringt der Kläger nicht durch. Soweit er in der mangelnden Sachaufklärung zugleich eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs sieht, lässt er unbeachtet, dass das in § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG normierte Erfordernis, einen Beweisantrag zu stellen, mit der Gehörsrüge nicht umgangen werden kann (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 113/23 B - juris RdNr 5 und vom - B 2 U 90/22 B - juris RdNr 17 mwN und grundlegend vom - 5 BKn 5/75 - SozR 1500 § 160 Nr 13).
7Da die geltend gemachte Verletzung des Fragerechts (§ 116 Satz 2, § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 402, 411 Abs 4 ZPO) der Gewährung rechtlichen Gehörs dient (vgl B 5a/5 R 60/07 B - SozR 4-1500 § 116 Nr 1 RdNr 11 mwN), muss der Beschwerdeführer darlegen, alles getan zu haben, um eine Befragung oder Anhörung des Sachverständigen zu erreichen (vgl allgemein dazu - BSGE 68, 205, 210 = SozR 3-2200 § 667 Nr 1 S 6 sowie Beschlüsse vom - B 3 KR 33/20 B - juris RdNr 10 und vom - B 13 RJ 207/97 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 22). Um diese Obliegenheit zu erfüllen, hat ein Beteiligter zumindest aufzuzeigen, dass er die nach seiner Ansicht erläuterungsbedürftigen Punkte dem Gericht rechtzeitig schriftlich mitgeteilt hat, dass die aufgeworfenen Fragen objektiv sachdienlich sind und dass er sein Begehren bis zuletzt aufrechterhalten hat (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 141/21 B - juris RdNr 17, vom - B 3 KR 33/20 B - juris RdNr 10, vom - B 9 V 39/17 B - juris RdNr 16, vom - B 13 R 355/11 B - juris RdNr 15 und grundlegend vom - B 2 U 222/04 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 4 RdNr 5). Es ist aber schon nicht schlüssig dargetan, dass der Kläger seine "die Begutachtung betreffenden Anträge und Ergänzungsfragen zu dem schriftlichen Gutachten" (§ 411 Abs 4 Satz 1 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG) des Sachverständigen S1 bis zuletzt aufrecht erhalten hat. Er legt auch nicht dar, inwieweit die Frage sachdienlich gewesen sein könnte, "warum und mit welcher fachlichen Begründung der Sachverständige" zum "Vorliegen eines Arbeitsunfalls" zu "einem gänzlich anderen Ergebnis gelangt, als die Durchgangsärztin S2". Insofern lässt die Beschwerdebegründung unerörtert, warum die Rechtsfrage, ob ein "Arbeitsunfall" (§ 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII) vorliegt, überhaupt im Wege des Beweises durch (medizinische) Sachverständige und nicht nur mithilfe juristischer Methodik beantwortet werden kann. Soweit der Kläger erfragen möchte, wie der Sachverständige mit ihm in der Begutachtungssituation kommuniziert habe, bleibt offen, aus welchen Gründen er diese Frage als unmittelbar Beteiligter nicht selbst beantworten kann und warum er bei angeblich "bestehenden Sprachbarrieren" weder selbst noch über seinen Bevollmächtigten auf die Hinzuziehung eines Dolmetschers hingewirkt hat. Darüber hinaus ist auch nicht schlüssig aufgezeigt, inwieweit es für die rechtliche oder medizinische Beurteilung bedeutsam sein könnte, ob der Kläger seine kniende Position unmittelbar vor der Innenmeniskusverletzung beim Be- oder Entladen eines Flugzeugs verändern wollte. Ferner geht die Beschwerdebegründung mit keinem Wort darauf ein, warum der Kläger im Berufungsverfahren von seinem Antragsrecht nach § 404 Abs 2 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG keinen Gebrauch gemacht hat, vor der Ernennung des Sachverständigen, spätestens vor der Begutachtung, zu dessen Person gehört zu werden, um ihn nach seiner Expertise und "(Miss-)Erfolgsquote" sowie nach etwaigen Auftragsverhältnissen für die Gegenseite zu befragen, die er im Übrigen von sich aus unverzüglich mitzuteilen hatte (§ 407a Abs 2 ZPO iVm § 118 Abs 1 Satz 1 SGG). Dass das LSG die Nichtzulassung der Revision lediglich mit "einem Einzeiler" begründet hat, rechtfertigt die Revisionszulassung nicht; Anhaltspunkte für eine willkürliche Nichtzulassung liegen nicht vor (vgl dazu BVerfG Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 345/16 - NJW 2016, 3295).
8Wenn der Kläger schließlich um einen "richterlichen Hinweis" bittet, falls "das Berufungsgericht in der einen oder anderen Frage eine Ergänzung im Hinblick auf die Substantiierung oder Schlüssigkeit für erforderlich halten" sollte, führt dies nicht dazu, dass zunächst von einer Entscheidung über die unzureichend begründete Beschwerde abzusehen wäre. Denn der Senat ist nicht verpflichtet, den anwaltlich vertretenen Kläger vor einer Entscheidung über seine Beschwerde auf Mängel der Beschwerdebegründung hinzuweisen. Die Bestimmung des § 106 Abs 1 SGG gilt insoweit nicht. Das Gesetz unterstellt vielmehr, dass ein Rechtsanwalt auch ohne Hilfe des Gerichts in der Lage ist, eine Nichtzulassungsbeschwerde formgerecht zu begründen (BSG Beschlüsse vom - B 2 U 70/23 B - juris RdNr 13 mwN, vom - B 5 R 204/21 B - juris RdNr 15, vom - B 5 RS 40/11 B - juris RdNr 9 und vom - B 7 AL 60/10 B - juris RdNr 7). Gerade dies ist ein Grund für den Vertretungszwang des § 73 Abs 4 SGG ( - BeckRS 2012, 70222 RdNr 6).
9Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet ist, zur Klärung der Voraussetzungen der Revisionszulassung beizutragen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:010724BB2U324B0
Fundstelle(n):
SAAAJ-75506