BVerwG Urteil v. - 1 C 2/23

COVID-19-bedingte Einreiseverweigerung im Mai 2020 rechtmäßig

Leitsatz

1. Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO setzt in Fällen sich typischerweise kurzfristig erledigender Maßnahmen einen qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen oder schwerwiegenden) Eingriff in ein Grundrecht oder eine unionsrechtliche Grundfreiheit voraus.

2. Art. 21 AEUV gewährt ein subjektiv-öffentliches Recht für jeden Unionsbürger, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten.

3. Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann einem Freizügigkeitsberechtigten - unabhängig von einer individuellen Gefahrenprognose - die Einreise aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes verweigert werden, wenn es sich um eine von der Weltgesundheitsorganisation benannte Krankheit mit epidemischem Potenzial (hier:COVID-19) handelt und eine tatsächliche Gesundheitsgefahr durch das Risiko einer weiteren Ausbreitung der Krankheit vorliegt.

Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz Az: 7 A 10719/21 Urteilvorgehend Az: 3 K 545/20.KO Urteil

Tatbestand

1Der Kläger, ein französischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in Frankreich, begehrt die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Einreiseverweigerung sowie der vorläufigen Schließung eines Grenzübergangs an der deutsch-französischen Grenze während der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020.

2Im Zuge der Pandemie und der in diesem Zusammenhang wiedereingeführten vorübergehenden Binnengrenzkontrollen kam es in der Zeit vom bis zum als Reaktion auf die Ausbreitung des Coronavirus sowohl im Département Moselle als auch auf der gegenüberliegenden deutschen Seite u. a. zur vorübergehenden Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff (F)/Saarbrücken-Güdingen (D). Als der Kläger am nachmittags von seinem Wohnsitz aus über den - wenige Kilometer entfernten - Grenzübergang Grosbliederstroff/​Kleinblittersdorf in das Bundesgebiet zum Zwecke des Einkaufs in einem Supermarkt einreisen wollte, wurde ihm die Einreise von Beamten der Bundespolizei verweigert. Die vom Kläger mit der Begründung, von ihm gehe keine Gesundheitsgefahr aus, erhobene und auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Einreiseverweigerung und der knapp zweimonatigen Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen gerichtete Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben.

3Das Oberverwaltungsgericht hat im Berufungsurteil ausgeführt, die Einreise am habe dem Kläger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit verweigert werden dürfen, weil es sich bei COVID-19 nach der wissenschaftlichen Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts um eine Krankheit mit epidemischem Potenzial handele. Angesichts der sich daraus ergebenden Gefahr für die öffentliche Gesundheit sei die Einreiseverweigerung verhältnismäßig gewesen. Der Kläger sei auch nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert worden. Soweit die Klage die vorübergehende Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff (F)/Saarbrücken-Güdingen (D) betreffe, sei sie mangels Fortsetzungsfeststellungsinteresses unzulässig.

4Mit der vom Oberverwaltungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er ist der Auffassung, für die Einreiseverweigerung fehle es an einer Rechtsgrundlage. Bei COVID-19 handele es sich nicht um eine Krankheit mit epidemischem Potenzial im Sinne des europäischen Freizügigkeitsrechts. Zum Zeitpunkt der Grenzschließungen habe es sich bei COVID-19 um eine Pandemie gehandelt, die sich bereits weltweit ausgebreitet habe. Grenzschließungen seien daher nicht geeignet gewesen, ein Übergreifen auf deutsche Staatsangehörige zu verhindern. Europäisches Recht erlaube keine reisebeschränkenden Maßnahmen gegen Unionsbürger ohne individuelle Gefahrenprognose. Die Einreise dürfe nur für den Fall verweigert werden, dass die Gefahr für die öffentliche Gesundheit von dem Einreisewilligen selbst ausgehe. Die Einreiseverweigerung verstoße zudem gegen das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 AEUV. Maßgebliches Differenzierungskriterium sei allein die nicht deutsche Staatsangehörigkeit des Klägers gewesen. Ein deutscher Staatsangehöriger in der gleichen Lebenssituation hätte keinen dringenden Einreisegrund geltend machen müssen. Das angefochtene Urteil halte auch den Regeln über die Nachprüfung von Ermessensentscheidungen nach § 114 VwGO nicht stand. Die Einreiseverweigerung sei gegenüber dem Kläger schließlich auch nicht verhältnismäßig.

5Das Feststellungsinteresse für die nachträgliche Prüfung der Rechtmäßigkeit der vorübergehenden Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen im Frühjahr 2020 ergebe sich aus dem schwerwiegenden Eingriff in das Freizügigkeitsrecht und dem Umstand, dass die Schließung des Grenzübergangs sich bereits erledigt habe, bevor der Kläger Rechtsschutz in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren hätte erlangen können. Selbst wenn der Beurteilung als schwerwiegender Eingriff nicht gefolgt werde, bestehe ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse. Denn die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses sei nicht auf Fälle gewichtiger Grundrechtseingriffe bei sich gleichzeitig typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakten beschränkt.

6Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil. Die Vertreterin des Bundesinteresses, die sich am Verfahren beteiligt, erklärt, hinsichtlich der vorübergehenden Straßensperrung zwischen Grosbliederstroff und Saarbrücken-Güdingen sei zu beachten, dass es sich hier um eine Maßnahme mit bloßem Lästigkeitswert handele, die die Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit nicht wesentlich behindere. Es bestehe kein individueller Anspruch darauf, die Grenzen zwischen Mitgliedstaaten an beliebigen Stellen und kontrollfrei zu überschreiten. Die Einreiseverweigerung zu Einkaufszwecken am sei gerechtfertigt gewesen, weil es sich bei COVID-19 um eine Krankheit mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation gehandelt habe. Zu Beginn der Pandemie sei die Einreiseverweigerung aufgrund einer relativ unsicheren Wissensbasis über die genauen Verbreitungswege der Pandemie und der erst später ausreichenden Kapazitäten und medizinischen Möglichkeiten zu sicheren Alternativen zu Reisebeschränkungen verhältnismäßig gewesen.

Gründe

7Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil ist mit Bundesrecht vereinbar.

8Das Oberverwaltungsgericht hat die Fortsetzungsfeststellungsklage zutreffend als zulässig, aber unbegründet erachtet, soweit sich der Kläger gegen die ihm gegenüber verfügte Einreiseverweigerung vom wendet (1.). Soweit der Kläger darüber hinaus die vorübergehende Schließung der Grenzübergangsstelle Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen im Frühjahr 2020 angreift, hat das Oberverwaltungsgericht die Klage demgegenüber zu Recht für unzulässig gehalten, weil der Kläger kein berechtigtes Interesse analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der bereits vor Klageerhebung erledigten Allgemeinverfügung hat (2.).

9Maßgeblich für die Prüfung der Rechtmäßigkeit von - wie vorliegend - erledigten Verwaltungsakten ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Erledigung des Verwaltungsakts und die zu diesem Zeitpunkt bestehende Sach- und Rechtslage. Die Einreiseverweigerung und die vorläufige Schließung einer einzelnen Grenzübergangsstelle sind dementsprechend zum Zeitpunkt ihrer Erledigung im Mai 2020 zu prüfen.

10Entscheidungserheblich ist danach § 6 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) in der Fassung vom (BGBl. I S. 86). Das Freizügigkeitsgesetz/EU dient der Umsetzung des primärrechtlich in Art. 21 AEUV gewährleisteten Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger in seiner sekundärrechtlichen Umsetzung durch die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77) - Freizügigkeits-RL.

111. Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Kläger gegen die Einreiseverweigerung vom erhobene Klage zu Recht für zulässig (a), aber unbegründet (b) erachtet.

12a) Bei der Einreiseverweigerung handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der sich kurzfristig erledigt. Dagegen kann sich der Kläger mangels anderweitiger effektiver Rechtsschutzmöglichkeit mit der Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zur Wehr setzen.

13Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann das berechtigte Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsakts, das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage ist, rechtlicher, wirtschaftlicher oder ideeller Natur sein. Es ist typischerweise in den anerkannten Fallgruppen der Wiederholungsgefahr, des Rehabilitationsinteresses sowie der Absicht zum Führen eines Schadensersatzprozesses gegeben (vgl. 6 C 1.16 - BVerwGE 158, 301 Rn. 29 m. w. N.; Beschluss vom - 6 B 133.18 - Buchholz 442.066 § 47 TKG Nr. 5 Rn. 10). Daneben kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse in bestimmten Fällen sich kurzfristig erledigender Maßnahmen vorliegen ( 1 C 19.21 - BVerwGE 178, 8 Rn. 17). Dies setzt indes einen qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen oder schwerwiegenden) Eingriff in ein Grundrecht oder eine unionsrechtliche Grundfreiheit voraus ( 1 CN 1.22 - BayVBl 2023, 819 Rn. 12 und vom - 6 C 2.22 - NVwZ 2024, 1027 Rn. 22; Beschluss vom - 8 AV 1.24 - NVwZ 2024, 1025 Rn. 11).

14Allein Letzteres kommt vorliegend in Betracht. Die angefochtenen Maßnahmen haben sich nach ihrer Eigenart so kurzfristig erledigt, dass Rechtsschutz in der Hauptsache nicht rechtzeitig zu erreichen war. Das auf eine grenzüberschreitende Einkaufsfahrt gerichtete Einreisebegehren vom hat sich spätestens mit Wiederaufnahme des kontrollfreien Binnengrenzverkehrs am erledigt.

15Dem Kläger steht ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Kontrolle der Rechtmäßigkeit des erledigten Verwaltungsakts zur Seite. Denn mit der Einreiseverweigerung hat die Bundespolizei qualifiziert in das jedem Unionsbürger nach Art. 21 AEUV zustehende Freizügigkeitsrecht eingegriffen. Das Recht auf Freizügigkeit gilt für Unionsbürger unmittelbar, d. h. ohne Erfordernis einer sekundärrechtlichen Konkretisierung (EuGH <Plenum>, Urteil vom - C-200/02 [ECLI:​EU:​C:​2004:​639], Zhu und Chen - Rn. 26). Art. 21 Abs. 1 AEUV enthält daher ein subjektiv-öffentliches Recht für jeden Unionsbürger, in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats einzureisen und sich dort aufzuhalten ( [ECLI:​EU:​C:​2002:​493] - Rn. 80 <zur inhaltsgleichen Vorgängernorm des Art. 18 EGV>; 1 C 27.19 - NVwZ 2021, 164 Rn. 24). Dies bestätigt die gesetzliche Systematik. Art. 21 Abs. 2 AEUV ermächtigt den Ministerrat und das Parlament, Vorschriften zur Erleichterung der nach Art. 21 Abs. 1 AEUV garantierten Rechte zu erlassen. Diese Ermächtigung setzt die subjektive Gewährleistung der Freizügigkeit voraus.

16Zwar ist der Anlass für die versuchte Einreise ins Bundesgebiet hier von geringerer Bedeutung, da der Kläger nur über die Grenze fahren wollte, um dort im Supermarkt einzukaufen und er diese Einkäufe nach den vorinstanzlichen Feststellungen ebenso gut in Frankreich hätte erledigen können. Dennoch wird das Freizügigkeitsrecht in seinem Kern tangiert, da dem Unionsbürger sein Recht, sich in jedem Mitgliedstaat jederzeit frei zu bewegen, dorthin einzureisen und sich dort aufzuhalten, vollständig genommen worden ist (vgl. EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 [ECLI:​EU:​C:​2023:​951], Nordic Info BV - Rn. 59).

17Angesichts der Bedeutung des primärrechtlich garantierten Freizügigkeitsrechts und des Umstandes, dass dieses Recht für Einreisen von Frankreich nach Deutschland bei Nichtvorliegen eines triftigen Grundes vorläufig aufgehoben wurde, stellt die Einreiseverweigerung bereits für sich genommen einen qualifizierten Eingriff in das Recht der Unionsbürger aus Art. 21 AEUV dar. Da dieser Eingriff sich zugleich typischerweise binnen Kurzem erledigt, sodass gegen ihn kein effektiver Rechtsschutz im Sinne von Art. 47 Abs. 1 GRC, Art. 19 Abs. 4 GG erlangt werden kann, hat das Oberverwaltungsgericht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse des Klägers bundesrechtskonform bejaht.

18b) Die Einreiseverweigerung ist in der Sache rechtmäßig gewesen. Rechtsgrundlage für die Einreiseverweigerung ist § 6 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, der Art. 29 Abs. 1 RL 2004/38/EG ins nationale Recht umsetzt. Danach darf innerhalb der Europäischen Union jedem Freizügigkeitsberechtigten die Einreise aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes verweigert werden. Die Einreiseverweigerung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nach § 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU nur erfolgen, wenn es sich um Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten handelt, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen im Bundesgebiet getroffen werden, und wenn die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise auftritt. COVID-19 ist eine solche Krankheit, die im Frühjahr 2020 nach der maßgeblichen wissenschaftlichen Risikoeinschätzung der Weltgesundheitsorganisation epidemisches Potenzial gehabt hat. In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, aufgrund derer ein Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht erforderlich ist, ist geklärt, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage dieser Bestimmungen die Freizügigkeit beschränkende Maßnahmen erst recht erlassen kann, um eine Bedrohung im Zusammenhang mit einer übertragbaren Infektionskrankheit zu bewältigen, die einen von der Weltgesundheitsorganisation anerkannten pandemischen Charakter aufweist (EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 53).

19Eine tatsächliche Gesundheitsgefahr hat nach den bindenden Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts durch das Risiko einer weiteren Ausbreitung dieser Krankheit vorgelegen. Dieses Risiko hat also nicht nur eine hypothetische Gefahr begründet. Die Einreiseverweigerung ist in der Absicht verfügt worden, das Infektionsgeschehen einzudämmen. Zutreffend hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, dass dazu nach § 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU und Art. 29 RL 2004/38/EG keine individuelle Gefahrenprognose in Bezug auf die Gesundheit der einreisenden Person erforderlich ist. Deshalb kommt es darauf, ob von dem Kläger selbst eine Gesundheitsgefahr ausgegangen ist, im Hinblick auf das Ziel, das Infektionsgeschehen auch vorsorglich einzudämmen, bezogen auf den Zeitpunkt der Versagung der Einreise nicht an. Anderes folgt nicht aus der in § 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU in der hier maßgeblichen Fassung (vgl. jetzt § 6 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU) genannten Voraussetzung, dass die Krankheit innerhalb der ersten drei Monate nach Einreise aufgetreten sein muss. Dies bezieht sich allein auf die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU bei bereits ins Bundesgebiet eingereisten Personen, wie schon aus dem Wortlaut deutlich wird, schränkt aber nicht den behördlichen Handlungsspielraum bei der Einreiseverweigerung ein. Dies ergibt sich zudem aus der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drs. 19/21750 S. 43) zur Änderung von § 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU durch Gesetz vom (BGBl. I S. 2416), die ausdrücklich nur klarstellenden Charakter hat (vgl. dazu Thym, Stellungnahme für die Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestags am Montag, den über den Entwurf eines Gesetzes zur aktuellen Anpassung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften an das Unionsrecht, BT-Drs. 19/21750 v. , Deutscher Bundestag, Ausschuss für Inneres und Heimat, Ausschuss-Drs. 19(4)585 E S. 10). Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht sich dafür weiter auf Art. 27 Abs. 2 RL 2004/38/EG bezogen, nach dem bei Einschränkungen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein darf, während für Einschränkungen aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes nach Art. 29 RL 2004/38/EG eine solche Schranke nicht vorgesehen ist. Diese Auslegung hat der Gerichtshof der Europäischen Union in dem Urteil seiner Großen Kammer vom - C-128/22 - (Rn. 63 f.) ausdrücklich als unionsrechtskonform bestätigt.

20§ 6 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU stellt als Rechtsfolge die Einreiseverweigerung - entsprechend der Verlustfeststellung - in das pflichtgemäße Ermessen der zuständigen Behörde. Erforderlich ist eine Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse am Gesundheitsschutz und dem Interesse des Betroffenen an der Ausübung seines Freizügigkeitsrechts (EuGH <GK>, Urteil vom - C-127/08 [ECLI:​EU:​C:​2008:​449], Metock u. a. - Rn. 74). Die widerstreitenden Interessen sind im Rahmen einer Einzelfallentscheidung in einen angemessenen Ausgleich zu bringen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten ( 1 C 30.02 - BVerwGE 121, 297). Das Erfordernis der Ermessensentscheidung hat auch für die von der Beklagten veranlassten freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen gegolten. Die COVID-19-Pandemie hat keinen Ausnahmezustand begründet, der nach Art. 347 AEUV eine außergewöhnliche Möglichkeit zur Abweichung vom Unionsrecht hätte rechtfertigen können. Die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU und Art. 27 ff. RL 2004/38/EG normierten Vorgaben sind ausreichend, um den Besonderheiten des Falles Rechnung zu tragen (Schlussanträge des Generalanwalts vom - C-128/22 [ECLI:​EU:​C:​2023:​645] - Rn. 51-54 und darauf Bezug nehmend EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 65-67).

21In der Rechtsfolgenentscheidung hat die Bundespolizei die Einreiseverweigerung - an diesem Maßstab orientiert - frei von Ermessensfehlern i. S. v. § 114 VwGO verfügt.

22Der Kläger ist durch diese Maßnahme nicht aufgrund seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert worden. Art. 21 Abs. 1 i. V. m. Art. 18 AEUV gewährt das Recht, sich im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaates ohne unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit frei zu bewegen und aufzuhalten (EuGH <GK>, Urteile vom - C-247/17 [ECLI:​EU:​C:​2018:​898], Raugevicius - Rn. 27 und vom - C-237/21 [ECLI:​EU:​C:​2022:​1017] - Rn. 30). Eine Beschränkung der Freizügigkeit der Unionsbürger kann indes gerechtfertigt sein, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit den betreffenden Regelungen legitimerweise verfolgten Zweck steht (EuGH <GK>, Urteil vom - C-247/17 - Rn. 31 und [ECLI:​EU:​C:​2019:​497] - Rn. 48). Die differenzierte Behandlung von nicht deutschen Unionsbürgern und deutschen Staatsangehörigen ist vorliegend durch den damit bezweckten öffentlichen Gesundheitsschutz zur Eindämmung der Pandemie - als einem nach § 6 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU und Art. 29 RL 2004/38/EG legitimen Grund - sachlich gerechtfertigt. Dabei ist zu beachten, dass für eigene Staatsangehörige das Einreise- und Aufenthaltsrecht Folge ihrer Stellung als Staatsangehörige ist und nicht eingeschränkt werden darf (vgl. [ECLI:​EU:​C:​1997:​300] - Rn. 30 und vom - C-100/01 [ECLI:​EU:​C:​2002:​712] - Rn. 40).

23Pandemiebedingte Beschränkungen der Freizügigkeit, die zum Schutz der Gesundheit erlassen werden, müssen sich am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Leitgedanke ist dabei die zentrale Bedeutung des Gesundheitsschutzes. Lebens- und Gesundheitsschutz sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Die Schutzpflicht des Staates aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG greift nicht erst dann ein, wenn Verletzungen bereits eingetreten sind, sondern ist auch in die Zukunft gerichtet ( - BVerfGE 161, 299 Rn. 155). Unionsrechtlich kommt dies primärrechtlich in Art. 168 Abs. 1 AEUV und Art. 35 GRC zum Ausdruck, wonach ein hohes Gesundheitsschutzniveau bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und Unionsmaßnahmen sichergestellt wird. Sekundärrechtlich erlauben Art. 27 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 RL 2004/38/EG Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts aus Gründen des öffentlichen Gesundheitsschutzes.

24Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union darf jeder Mitgliedstaat selbst bestimmen, auf welchem Niveau er den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten will und wie dieses Niveau erreicht werden soll ( u. a. [ECLI:​EU:​C:​2013:​791] - Rn. 59 f. und vom - C-663/18 [ECLI:​EU:​C:​2020:​938] - Rn. 90). Folglich bedeutet der Umstand, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt, die weniger streng sind als die in einem anderen Mitgliedstaat erlassenen, nicht, dass Letztere unverhältnismäßig wären ( [ECLI:​EU:​C:​2018:​865], Roche Lietuva - Rn. 42 und EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 78). Die Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit sind im Zeitpunkt des Erlasses der Maßnahmen zu beurteilen, wobei die zu diesem Zeitpunkt bekannten Erkenntnisse und wissenschaftlichen Daten, einschließlich der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Unsicherheiten, zu berücksichtigen sind (EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 82). Das Freizügigkeitsrecht beschränkende Maßnahmen sind danach nur dann geeignet, das Ziel des öffentlichen Gesundheitsschutzes zu gewährleisten, wenn sie tatsächlich dem Anliegen gerecht werden, es zu erreichen, und wenn sie in kohärenter und systematischer Weise durchgeführt werden (EuGH <GK>, Urteile vom - C-391/20 [ECLI:​EU:​C:​2022:​638], Cilevičs u. a. - Rn. 75 und vom - C-128/22 - Rn. 84). Was dabei die Frage betrifft, ob es weniger einschneidende, aber ebenso wirksame Maßnahmen gegeben hätte, ist auf den Beurteilungsspielraum hinzuweisen, über den die Mitgliedstaaten im Bereich des Schutzes der öffentlichen Gesundheit aufgrund des Vorsorgeprinzips verfügen. Das zuständige Gericht hat sich dafür auf die Prüfung zu beschränken, ob es offensichtlich ist, dass unter Berücksichtigung insbesondere der Informationen, die zur im Ausgangsverfahren maßgeblichen Zeit über das Coronavirus vorlagen, Maßnahmen wie die Verpflichtung zur räumlichen Distanzierung oder zum Tragen von Masken sowie die Verpflichtung eines jeden, regelmäßig Screeningtests vorzunehmen, genügt hätten, um das gleiche Ergebnis wie die beschränkenden Maßnahmen zu gewährleisten (EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 90).

25An diesem Maßstab orientiert ist die Versagung der Einreise am bezogen auf den Einreisezweck - Einkauf - verhältnismäßig gewesen. Im Mai 2020 - und damit zu Beginn der Anfang 2020 weltweit ausgebrochenen Pandemie - waren die damit verbundenen Risiken nicht abschätzbar, belastbare wissenschaftliche Daten und Fakten sind nicht oder nur sehr begrenzt verfügbar gewesen. Dies hat einen weiten Beurteilungsspielraum der mit dem öffentlichen Gesundheitsschutz befassten staatlichen Stellen in Legislative und Exekutive unter dem Aspekt der zukunftsgerichteten Gesundheitsvorsorge eröffnet. Die Beschränkung der Freizügigkeit ist zugleich geeignet gewesen, die Ausbreitung von COVID-19 einzudämmen oder zumindest zu verlangsamen. Den Kriterien der Erforderlichkeit und Angemessenheit sind die auf § 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU gestützten Maßnahmen gerecht geworden, weil sie die freizügigkeitsbeschränkenden Regeln differenziert umgesetzt haben. Danach sind Einreisen von Unionsbürgern ins Bundesgebiet während der Hochphasen der COVID-19-Pandemie - auch im Mai 2020 - aus vielerlei Gründen - etwa zur Durchreise, als Arbeitspendler, im Rahmen des beruflichen Güter- und Warenverkehrs oder aus einem anderen dringenden Einreisegrund - möglich gewesen.

26In der unter dem 7. Mai 202o schriftlich begründeten "Anordnung der Einreiseverweigerung" sind dem Kläger die Reisebeschränkungen durch die Bundespolizei im Einzelnen erläutert worden. Dabei ist ihm insbesondere erklärt worden, aus welchen Sachgründen Einreisen weiter möglich sind - etwa für durchreisende Unionsbürger, für Arbeitspendler, für pendelnde Schüler und Studenten - und warum sein Einreisewunsch - Einkauf - demgegenüber keinen dringenden Einreisegrund darstellt. Im Übrigen sind die vom Oberverwaltungsgericht angestellten Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit und zur Kohärenz der Maßnahme revisionsrechtlich nicht zu beanstanden (UA S. 25-31).

272. Die vorläufige Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen in der Zeit zwischen dem 20. März und dem stellt zwar ebenfalls einen sich typischerweise kurzfristig erledigenden Verwaltungsakt - hier in der Gestalt einer Allgemeinverfügung - dar. Bei der Feststellung, dass sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass sie regelmäßig keiner Überprüfung im gerichtlichen Hauptsacheverfahren zugeführt werden kann, handelt es sich jedoch nicht um eine hinreichende, sondern nur um eine notwendige Voraussetzung für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses im Sinne dieser Fallgruppe. Zusätzlich muss darüber hinaus - wie bereits ausgeführt (vgl. oben Rn. 13) - die weitere Voraussetzung eines qualifizierten (tiefgreifenden, gewichtigen oder schwerwiegenden) Grundrechtseingriffs erfüllt sein (a). Diese weitere Voraussetzung für die Annahme eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses liegt im Fall des Klägers nicht vor (b).

28a) Das nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung ist in der Fallgruppe sich kurzfristig erledigender Verwaltungsakte nur gegeben, wenn der Verwaltungsakt zu einem qualifizierten (gewichtigen, tiefgreifenden oder schwerwiegenden) Eingriff in ein Grundrecht oder eine unionsrechtliche Grundfreiheit geführt hat. Dies ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt (siehe zuletzt nur 6 C 2.22 - NVwZ 2024, 1027 Rn. 22 ff. m. w. N.).

29b) Das Oberverwaltungsgericht hat zu Recht angenommen, dass diese Voraussetzung eines qualifizierten Eingriffs nicht erfüllt ist.

30Der Eingriff - die vorläufige Schließung einer einzelnen Grenzübergangsstelle - beschränkt zwar die unionsrechtlich nach Art. 21 AEUV und Art. 45 GRC gewährleistete Freizügigkeit. Diese Grundfreiheit wird aber - anders als bei einer konkreten Einreiseverweigerung - nicht qualifiziert beeinträchtigt. Zum einen wirkt die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts räumlich nur punktuell, hier bezogen auf den Grenzübergang Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen. Andere während der Pandemie im Frühjahr 2020 errichtete vorläufige Grenzübergänge sind davon nicht betroffen gewesen. Nach den Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts ist vielmehr ein anderer, nur wenige Kilometer vom geschlossenen Grenzübergang Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen entfernt liegender Übergang auch während der COVID-19-Pandemie von Reisenden bei Vorliegen eines dringenden Einreisegrundes nutzbar gewesen. Zum anderen handelt es sich bei der vorläufigen Schließung eines Grenzübergangs - bei gleichzeitig passierbaren Grenzübergängen in räumlicher Nähe - um eine Maßnahme, die nur in sehr begrenztem Maße in das Recht der Freizügigkeit eingreift. Als einen solchermaßen begrenzten und damit unionsrechtskonformen Grundrechtseingriff hat der Gerichtshof der Europäischen Union etwa obligatorische Screeningmaßnahmen während der COVID-19-Pandemie beurteilt (EuGH <GK>, Urteil vom - C-128/22 - Rn. 96). Das Screening erfordert immerhin einen Abstrich aus dem tieferen Mund-, Rachen- und/​oder Nasenraum und damit einen Eingriff in das Recht der körperlichen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GRC; zudem muss das Testergebnis abgewartet werden. Dennoch greifen diese Maßnahmen - so der Gerichtshof - aufgrund der Schnelligkeit der Tests nur begrenzt in die Rechte der Reisenden und das Freizügigkeitsrecht ein, während sie zur Identifizierung von Personen, die Träger des Coronavirus sind, und damit zur Erreichung des Ziels beitragen, die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Diesem Ziel hat auch die vorläufige Schließung der Grenzkontrollstelle Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen gedient. Zudem hat die angefochtene Maßnahme - anders als ein Screeningtest - nicht einmal in die körperliche Unversehrtheit (Art. 3 Abs. 1 GRC) oder in das "Ob" der Freizügigkeit (Art. 45 GRC) eingegriffen, sondern allein die konkrete Art und Weise der Ausübung des Freizügigkeitsrechts berührt, zumal davon auszugehen ist, dass das Passieren einer Grenzkontrolle grundsätzlich weniger Zeit in Anspruch nehmen dürfte als ein Screeningtest. Angesichts von nur wenige Kilometer entfernt erreichbaren offenen Grenzübergangsstellen, die mit Sachgrund passierbar gewesen sind, ist das Freizügigkeitsrecht nicht qualifiziert eingeschränkt worden.

31Der Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG hat hier mangels einer gesteigerten, dem Schutzgut der übrigen Grundrechte vergleichbaren Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung des Klägers ebenfalls kein solches Gewicht, dass die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) es gebieten würde, die Rechtmäßigkeit des Grundrechtseingriffs gerichtlich klären zu lassen, obwohl dieser tatsächlich nicht mehr fortwirkt. Die vorübergehende Schließung des Grenzübergangs Grosbliederstroff/​Saarbrücken-Güdingen hat lediglich die Möglichkeiten zur Gestaltung der Freizeit des in Frankreich wohnenden Klägers und der Erledigung seiner alltäglichen Geschäfte (zu einem vergleichbaren Fall bei einem polizeilichen Platzverweis: - juris Rn. 39) berührt. Auf subjektive Gesichtspunkte wie etwa einen möglicherweise gesteigerten Erlebniswert des Einkaufs in Deutschland gerade für den Kläger kann hierbei nicht abgestellt werden. Damit der sich aus dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO und dem systematischen Zusammenhang mit § 42 VwGO ergebende Grundsatz, dass die Verwaltungsgerichte nur ausnahmsweise für die Überprüfung erledigter Verwaltungsakte in Anspruch genommen werden können, nicht unterlaufen wird, ist vielmehr ein objektiver Maßstab anzulegen. Die Maßnahme steht auch nicht in einem durch weitere Grundrechtseingriffe erheblichen Gewichts geprägten Gesamtkontext.

323. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:130624U1C2.23.0

Fundstelle(n):
JAAAJ-75373