BGH Beschluss v. - 4 StR 301/24

Instanzenzug: Az: 39 Ks 19/23

Gründe

1Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Hiergegen richtet sich die mit der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründete Revision des Beschuldigten. Das Rechtsmittel hat im Umfang der Beschlussformel Erfolg und ist im Übrigen unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

21. a) Nach den Feststellungen leidet der nicht vorbestrafte Beschuldigte an einer schizophrenen oder schizoaffektiven Psychose. Während seines Medizinstudiums in Ägypten zeigte er im Alter von etwa 23 Jahren erstmals psychische Auffälligkeiten, als er begann Stimmen zu hören, die ihm Befehle erteilten und seine Familie beleidigten. Während seines Studiums und seiner anschließenden Tätigkeit als Arzt verleugnete der Beschuldigte seine Erkrankung, da er mit einer solchen starke Schamgefühle verband. Daher blieb seine psychische Erkrankung die meiste Zeit seines Lebens unbehandelt und verstärkte sich über die Jahre.

3Im Jahr 2010 kam der Beschuldigte nach Deutschland, um hier als Mediziner zu arbeiten und sich zu spezialisieren. Dies gelang aufgrund des fehlenden Aufenthaltstitels nicht. Im Jahr 2012 heiratete der Beschuldigte vor dem Standesamt in Kairo die Nebenklägerin. Sie gingen eine Scheinehe ein, um dem Beschuldigten einen dauerhaften Verbleib in Deutschland zu ermöglichen. Für ihre Mitwirkung erhielt die Nebenklägerin ratenweise insgesamt 10.000 €. Kurz nach der Heirat brach sie jedoch nach einem telefonischen Konflikt den Kontakt zu dem Beschuldigten vollständig ab und beantragte in der Folgezeit dessen Nachzug in die Bundesrepublik nicht.

4Im Jahr 2016 begab sich der Beschuldigte erneut nach Deutschland, wo er schnell seine Ersparnisse aufgebraucht hatte. Zu dieser Zeit war seine Erkrankung erheblich fortgeschritten. Der Beschuldigte, der sich ohne Arbeit und ohne Obdach perspektivlos fühlte, litt unter Wahnvorstellungen und Halluzinationen. Er fühlte sich zunehmend verfolgt und nahm häufig imperative Stimmen wahr, was ihn zu einer Bewaffnung gegen vermeintliche Angriffe veranlasste. Im Jahr 2017 wurde er etwa einen Monat in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Im Anschluss lebte er wieder auf der Straße. In dieser Zeit klopfte er eines Abends an das Küchenfenster der Nebenklägerin. Als diese das Fenster öffnete, versetzte er ihr eine Ohrfeige und drohte sie umzubringen. Am kam es zu einem vereinbarten Treffen in einem Park, bei dem die Nebenklägerin das Ansinnen des Beschuldigten auf eine Familienzusammenführung erneut vehement ablehnte. Zu dieser Zeit vernahm der ihr verwahrlost erscheinende Beschuldigte verstärkt imperative Stimmen.

5Diese Stimmen befahlen ihm am , die Geschädigte anzugreifen und zu verletzen. Aufgrund der Zurückweisung durch die Geschädigte und seiner zunehmenden Perspektivlosigkeit sah sich der Beschuldigte gezwungen, dem Folge zu leisten. Er bewaffnete sich zu diesem Zweck mit einer Haushaltsschere und begab sich zur Wohnung der Nebenklägerin. Als ein „Drogenlieferant“ deren Wohnung verlassen hatte, nahm die im Türrahmen stehende Nebenklägerin den wartenden Beschuldigten wahr und forderte ihn auf, sich „zu verpissen“. Er griff sie unvermittelt an, schlug ihr zunächst ins Gesicht und stach dann mit der geöffneten Schere mehrfach auf den Oberkörper der Geschädigten ein. Sie trug diverse Schnitt- und Stichverletzungen davon. Dem Beschuldigten war bewusst, dass sein Übergriff auf die Nebenklägerin tödlich verlaufen könnte, was er billigend in Kauf nahm. Infolge des Angriffs schrie die Geschädigte auf und ging zu Boden, wobei der Beschuldigte die Schere verlor. Ein aufmerksam gewordener Wohnungsbesucher eilte hinzu, zog die blutende Nebenklägerin und die Tatwaffe in die Wohnung hinein. Der Beschuldigte griff vergeblich noch nach der Schere. Er erkannte nunmehr, dass er aufgrund des Hinzutretens des Besuchers sein Vorhaben nicht würde beenden können, und flüchtete. Bei der Tat war er in der Lage, deren Unrecht einzusehen, aufgrund seiner psychischen Erkrankung war jedoch seine Steuerungsfähigkeit zumindest erheblich vermindert.

6Nach der Tat begab er sich in die Niederlande, wo er einen Asylantrag stellte. Etwa 2020 kam es in der Asylunterkunft zu „einem aggressiven Übergriff des Beschuldigten auf eine Person und infolgedessen zu einer Einweisung des Beschuldigten in eine psychiatrische Klinik“. Er wurde ca. zweieinhalb Jahre in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Nach der Entlassung unterzog er sich regelmäßigen psychiatrischen Behandlungen, bis er wegen des hiesigen Tatvorwurfs am in Amsterdam festgenommen wurde. Seit dem ist er vorläufig untergebracht.

7b) Das Landgericht hat die Anlasstat vom als versuchten Totschlag in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB gewertet.

82. Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Strafkammer hat die für eine solche Unterbringungsanordnung vorausgesetzte Gefährlichkeitsprognose nicht rechtsfehlerfrei begründet.

9a) Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf daher nur dann angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln. Sie muss sich darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Dabei sind die individuell bedeutsamen Bedingungsfaktoren für die bisherige Delinquenz, deren Fortbestand, ihre fehlende Kompensation durch protektive Umstände und das Gewicht dieser Faktoren in künftigen Risikosituationen besonders in den Blick zu nehmen (vgl. Rn. 10; Urteil vom – 4 StR 380/21 Rn. 7; Urteil vom – 5 StR 390/20 Rn. 16).

10Der Umstand, dass ein Täter trotz bestehender Grunderkrankung in der Vergangenheit über einen längeren Zeitraum nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten ist, kann im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung ein gewichtiges Indiz gegen die Wahrscheinlichkeit künftiger erheblicher Straftaten sein und ist deshalb regelmäßig in den Urteilsgründen zu erörtern (st. Rspr.; vgl. etwa Rn. 8 mwN; Beschluss vom ‒ 1 StR 253/19 Rn. 5; Beschluss vom ‒ 4 StR 419/18 Rn. 13).

11b) An diesen Anforderungen gemessen erweist sich die der Gefahrenprognose zugrundeliegende Abwägung des Landgerichts als lückenhaft.

12aa) Die Gefahr für die Allgemeinheit hat die Strafkammer – der psychiatrischen Sachverständigen folgend – damit begründet, dass der unbehandelte Beschuldigte aufgrund der imperativen Stimmen und seiner Verfolgungswahnideen mit höherer Wahrscheinlichkeit ähnlich gelagerte Straftaten begehen werde. Der prognosegünstige Umstand, dass der Beschuldigte bisher strafrechtlich unvorbelastet ist, findet hingegen in den Ausführungen des Landgerichts rechtsfehlerhaft keine Berücksichtigung. Die Erörterung dieses Gesichtspunkts war wie im Regelfall ungeachtet der Schwere der Anlasstat auch hier geboten. Denn die Strafkammer hat festgestellt, dass die Erkrankung des 53-jährigen Beschuldigten vor etwa drei Jahrzehnten begann. Dass die fortschreitende Krankheit seither die meiste Zeit unbehandelt blieb und es dennoch über einen langen Zeitraum nicht zu krankheitsbedingten Übergriffen des Beschuldigten kam, hätte daher in die Gefahrenprognose Eingang finden müssen. Dies betrifft auch den ebenfalls unerörterten Umstand, dass die Anlasstat bei Urteilsverkündung bereits mehr als fünf Jahre und acht Monate zurücklag.

13Die Erörterung dieser Gesichtspunkte war nicht deshalb entbehrlich, weil die Strafkammer weitere Übergriffe des Beschuldigten festgestellt hat. Diese hat sie schon selbst nicht (erkennbar) herangezogen, um dessen Gefährlichkeit zu belegen. Dem stünde zudem entgegen, dass ein sonstiges Verhalten inklusive weiterer Straftaten die Gefährlichkeitsprognose nur stützen kann, wenn es seinerseits in einem inneren Zusammenhang mit der Erkrankung des Täters steht (st. Rspr.; vgl. Rn. 5; Beschluss vom – 1 StR 176/20 Rn. 17; Beschluss vom – 4 StR 79/16 Rn. 9). Diese Voraussetzungen sind nicht festgestellt. Dass eine Auseinandersetzung des Beschuldigten in Saudi-Arabien vor seinem ersten Aufenthalt in Deutschland, die der Geschädigten im Jahr 2017 versetzte Ohrfeige und insbesondere der – nicht näher konkretisierte – „aggressive Übergriff“ in der niederländischen Asylunterkunft in einem symptomatischen Zusammenhang mit seiner Erkrankung stehen, belegen die Urteilsgründe nicht. Auch zu der Frage, ob sich hieraus gleichwohl individuell bedeutsame Bedingungsfaktoren für eine Gefährlichkeit des Beschuldigten ergeben, zu denen dann die Störung als gefährlichkeitserhöhend noch hinzutritt, verhalten sich die Urteilsgründe nicht (vgl. dazu Rn. 15).

14bb) Die Urteilsgründe legen zudem nahe, dass die Anlasstat ihren Ursprung in der besonderen Beziehung des Beschuldigten zu der Nebenklägerin gehabt haben könnte. In einem solchen Fall bedarf die Annahme, dass der Täter im Sinne von § 63 StGB für die Allgemeinheit gefährlich ist, genauerer Prüfung und Darlegung aufgrund konkreter tatsächlicher Feststellungen (vgl. Rn. 35 mwN; Urteil vom – 2 StR 393/14 Rn. 16).

15Hieran fehlt es. Die Strafkammer hat nicht dargelegt, ob die mit der Erkrankung des Beschuldigten verbundenen Symptome trotz des Zeitablaufs weiterhin mit strafrechtlich relevanten Handlungsanreizen gegen die Nebenklägerin – als Repräsentantin der Allgemeinheit – einhergehen oder sich darüber hinaus auch gegen andere Personen richten können. Insoweit bleiben zudem die tatsächlichen Feststellungen zum Verlauf der einstweiligen Unterbringung (vgl. zu dessen Prognoserelevanz etwa Rn. 16) sowie zu der vorausgegangenen Entwicklung des Beschuldigten in den Niederlanden weitgehend unklar. Selbst die Frage, ob er sich dort der stationären psychiatrischen Behandlung freiwillig unterzog, lässt sich nicht eindeutig beantworten. In einem derartigen Verhalten könnten aber zu erörternde protektive Faktoren bei dem Beschuldigten gegen eine weitere Delinquenz zu sehen sein (vgl. Rn. 17; Cirener in LK-StGB, 13. Aufl., § 63 Rn. 127 mwN). Die bloße Mitteilung der Angaben der Sachverständigen, die Gefährlichkeitsprognose der Betreuer des Beschuldigten aus den Niederlanden decke sich mit ihrer Einschätzung, genügt den rechtlichen Anforderungen nicht. Es ist der Strafkammer vorbehalten, aufgrund einer Gesamtabwägung ihre eigene Gefahrenprognose zu stellen. Zudem sind den Urteilsgründen keine konkreten Anknüpfungstatsachen zu der Behandlung in den Niederlanden zu entnehmen. Nicht nachvollziehbar ist auch die nur pauschal mitgeteilte Einschätzung der Sachverständigen, die Behandlungsbereitschaft des Beschuldigten sei derzeit „eher vordergründig“ und es seien noch keine ausreichenden Erfolge erzielt worden.

163. Das angefochtene Urteil unterliegt daher der Aufhebung. Die Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen der Anlasstat sind von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen und können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO). Hingegen hebt der Senat auch die Feststellungen zur inneren Tatseite mitsamt dem Rücktrittshorizont sowie zum Vor- und Nachtatgeschehen auf, um dem neuen Tatgericht eine insgesamt widerspruchsfreie Beurteilung der psychischen Erkrankung des Beschuldigten und ihres Einflusses auf das Tatgeschehen zu ermöglichen.

Quentin                                Bartel                                Scheuß

                   Dietsch                                 Marks

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:130824B4STR301.24.0

Fundstelle(n):
XAAAJ-75351