BSG Beschluss v. - B 5 R 35/24 B

(Sozialgerichtsverfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensfehler - absoluter Revisionsgrund - Tatsachenangabe - fehlende Entscheidungsgründe - fehlende Unterschrift in einer gerichtlichen Entscheidung in der Gerichtsakte - gerügte Verletzung der Pflicht zur Anhörung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG - fehlende Begründung des LSG - Ermessensreduzierung auf Null bei Vorliegen eines erheblichen Grundes iS von § 224 Abs 2 ZPO)

Gesetze: § 60 Abs 1 SGG, § 65 S 1 SGG, § 103 S 1 Halbs 1 SGG, § 153 Abs 3 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 153 Abs 4 S 2 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 202 S 1 SGG, § 45 ZPO, § 224 Abs 2 ZPO, § 225 ZPO, § 547 Nr 6 ZPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG

Instanzenzug: SG Frankfurt Az: S 6 R 434/14 Urteilvorgehend Hessisches Landessozialgericht Az: L 2 R 331/19 Beschluss

Gründe

1I. Der 1984 geborene Kläger begehrt eine Erwerbsminderungsrente bereits ab Dezember 2013.

2Er bezieht seit April 2014 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Beklagten. Diese bewilligte die Rente ausgehend von einem Leistungsfall im September 2013 befristet bis zum (Bescheid vom ). Den ua gegen die Befristung gerichteten Widerspruch des Klägers wies sie zurück (Widerspruchsbescheid vom ). Das SG hat seine Klage nach Einholung eines Gutachtens des Psychiaters und Psychotherapeuten D abgewiesen (Urteil vom ). Während des gerichtlichen Verfahrens hat die Beklagte die Rente letztlich bis zum weiterbewilligt (Bescheid vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom ; Bescheid vom ; Bescheid vom ) und ab dem neu festgestellt (Bescheid vom ). Einen erneuten Antrag des Klägers auf Gewährung einer unbefristeten Rente hat sie abgelehnt (Bescheid vom ). Mit Bescheid vom hat sie dem Kläger über den hinaus eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer bewilligt. Mit Beschluss vom hat das LSG die aufrechterhaltene Berufung des Klägers zurückgewiesen und seine Klage gegen den Bescheid vom abgewiesen. Nach den medizinischen Feststellungen könne er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer nicht bereits ab Dezember 2013 beanspruchen. Gleichzeitig hat das LSG das erneute Ablehnungsgesuch des Klägers ua gegen die an der Entscheidung mitwirkenden Richter als offensichtlich unzulässig verworfen.

3Der Kläger hat Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung eingelegt, die er mit Schriftsatz vom begründet hat.

4II. 1. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig und daher ohne Zuziehung ehrenamtlicher Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG). Sie ist nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet.

5Die geltend gemachten Verfahrensmängel werden nicht anforderungsgerecht bezeichnet. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), so müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels zunächst die Umstände, aus denen sich der Verfahrensfehler ergeben soll, substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist es erforderlich darzulegen, dass und warum die Entscheidung des Berufungsgerichts ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Berufungsentscheidung besteht. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann ein Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Wird ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 ZPO) als Verfahrensmangel geltend gemacht, müssen die den Mangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen ebenfalls substantiiert dargelegt werden (vgl zB - juris RdNr 5 mwN). Insoweit sind jedoch grundsätzlich die sonst notwendigen Darlegungen zum Beruhen-Können der Entscheidung auf dem Verfahrensmangel entbehrlich, weil dies bei absoluten Revisionsgründen vermutet wird (vgl zB - juris RdNr 3). Die Beschwerdebegründung erfüllt die sich daraus ergebenden Anforderungen nicht.

6a) Der Kläger rügt als absoluten Revisionsgrund, der angegriffene Beschluss sei nicht mit Gründen versehen (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 6 ZPO), weil er nicht von den Mitgliedern des LSG-Senats unterschrieben worden sei (§ 153 Abs 3 Satz 1 iVm Abs 4 Satz 1 SGG). Er bringt unter Bezugnahme auf Bl 615 bis 641 der Gerichtsakte vor, der Beschluss vom trage keine Unterschriften; soweit es im Beglaubigungsvermerk vom heiße, die Übereinstimmung der Abschrift mit dem Original werde beglaubigt, werde die Existenz eines Originals bestritten; jedenfalls fehle es an einem unterschriebenen Original. Damit ist bereits nicht dargelegt, welches Dokument sich am bezeichneten Ort befindet, insbesondere dass es sich um das Original des Beschlusses handelt und dort die Unterschriften fehlen (vgl zu einem solchen Verfahrensmangel - juris RdNr 6). Wie der Kläger vielmehr selbst herausstellt, handelt es sich bei dem in Bezug genommenen Aktenbestandteil um eine Beschlussabschrift. Allein das Fehlen der Urschrift einer gerichtlichen Entscheidung in der Gerichtsakte belegt nicht das Fehlen von Entscheidungsgründen (vgl zB - juris RdNr 6; - juris RdNr 4). Es ist möglich und im Fall besonderer Aufbewahrungsfristen für gerichtliche Endentscheidungen sogar notwendig, Originalentscheidungen außerhalb der Gerichtsakte aufzubewahren (vgl - juris RdNr 6). Auf diese Weise können Entscheidungsausfertigungen oder -abschriften auch dann noch erteilt werden, wenn die Akten nach Abschluss des Verfahrens nicht (mehr) am Gericht aufbewahrt werden, das die Entscheidung getroffen hat (vgl - juris RdNr 4). Vor diesem Hintergrund wäre näher darzulegen gewesen, welche Anhaltspunkte dafür bestehen könnten, dass beim LSG auch außerhalb der Gerichtsakte keine (unterschriebene) Urschrift der angegriffenen Entscheidung vorhanden sei. Das pauschale Bestreiten des Klägers genügt insoweit nicht.

7b) Der Kläger macht als absoluten Revisionsgrund eine Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) geltend, indem das LSG erst mit der Hauptsacheentscheidung über sein Ablehnungsgesuch entschieden habe. Gemäß § 60 Abs 1 SGG iVm § 45 Abs 1 ZPO entscheidet über das Ablehnungsgesuch das Gericht, dem der Abgelehnte angehört, ohne dessen Mitwirkung. Nach der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes und des BVerfG kann das Gericht jedoch über rechtsmissbräuchliche oder gänzlich untaugliche Ablehnungsgesuche ausnahmsweise in geschäftsplanmäßiger Besetzung unter Beteiligung der abgelehnten Richter entscheiden (stRspr; zB BH - juris RdNr 4 mwN). In diesen Fällen bedarf es regelmäßig keiner gesonderten Entscheidung über das Befangenheitsgesuch (vgl hierzu Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 60 RdNr 10d f mit zahlreichen Nachweisen). Im Fall der Entscheidung eines LSG über ein Ablehnungsgesuch, die nach § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar ist, kommt ein Verstoß gegen Art 101 Abs 1 Satz 2 GG nur bei Anhaltspunkten für willkürliche Erwägungen in Betracht oder wenn das Gericht Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des gesetzlichen Richters nach Art 101 Abs 1 Satz 2 GG grundlegend verkannt hat (stRspr; vgl zB - juris RdNr 8 mwN). Zur formgerechten Erhebung einer Besetzungsrüge wegen des Vorwurfs der Befangenheit ist daher darzutun, dass die Zurückweisung des Ablehnungsgesuchs durch das Berufungsgericht nicht nur fehlerhaft, sondern greifbar gesetzeswidrig und damit willkürlich gewesen ist (vgl - juris RdNr 6). Beschwerdevorbringen hierzu fehlt. Ebenso wenig hat der Kläger einen Verfahrensmangel anforderungsgerecht bezeichnet, indem er vorbringt, sein Ablehnungsgesuch sei begründet gewesen.

8c) Soweit der Kläger als weitere Verletzung seines grundrechtsgleichen Rechts auf den gesetzlichen Richter die "interne Zuständigkeit" des 2. Senats des LSG rügt, gibt er schon keine Tatsachen an, aus denen sich hier eine vom Geschäftsverteilungsplan abweichende Besetzung des Berufungsgerichts ergeben könnte (vgl hierzu und zu den weiteren Anforderungen an die Rüge der vorschriftswidrigen Besetzung eines Gerichts zB - juris RdNr 7 mwN). Sein Vorbringen, das LSG habe auf seine mit Schriftsatz vom erhobene Besetzungsrüge hin nicht dargelegt, woraus sich die dortige Zuständigkeit ergebe, reicht hierfür nicht aus.

9d) Der Kläger rügt eine Verletzung der richterlichen Pflicht zur Ermittlung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG). Er trägt vor, nach Einschätzung des Sachverständigen D sei bei Zwangsstörungen der beim Kläger bestehenden Art die Prognose generell hinsichtlich der Aufnahme einer Arbeitstätigkeit ungünstig. Da die weiteren Ausführungen des Sachverständigen zu Frage 7 des Gutachtenauftrags nach dem Dafürhalten des Klägers widersprüchlich seien, hätte das LSG den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Damit ist schon kein ohne Weiteres auffindbarer prozessordnungsgemäßer, bis zuletzt aufrechterhaltener Beweisantrag bezeichnet, dem das Berufungsgericht nicht gefolgt ist (vgl hierzu und zu den weiteren Darlegungsanforderungen an eine Sachaufklärungsrüge zB - juris RdNr 11 mwN).

10Soweit der Kläger in diesem Zusammenhang rügt, das LSG habe die für ihn günstigen Ausführungen des Sachverständigen D nicht berücksichtigt, wendet er sich im Kern gegen die Beweiswürdigung des LSG. Eine Nichtzulassungsbeschwerde lässt sich jedoch nicht auf eine (vermeintliche) Verletzung der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch die Vorinstanz (vgl § 128 Abs 1 Satz 1 SGG) stützen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG; vgl hierzu zB - juris RdNr 5; - juris RdNr 6).

11e) Als weiteren Verfahrensmangel macht der Kläger geltend, das LSG habe die Pflicht zur Anhörung (§ 153 Abs 4 Satz 2 SGG) verletzt, bevor es seine Berufung im Beschlusswege zurückgewiesen habe. Er zeigt jedoch keine Umstände auf, die die Anhörungsmitteilung vom als unzureichend erscheinen lassen könnten. Sein Vorwurf, es fehle eine Begründung für das beabsichtigte Vorgehen des LSG, vermag eine Verletzung der Anhörungspflicht von vornherein nicht zu begründen. Das Berufungsgericht muss in der Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG (lediglich) zum Ausdruck bringen, dass eine Zurückweisung der Berufung in Betracht kommt (vgl - juris RdNr 10; vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 153 RdNr 19). Ist der Berufungsführer, wie hier, anwaltlich vertreten, reicht sogar der bloße Hinweis auf die Bestimmung des § 153 Abs 4 SGG aus (vgl - SozR 3-1500 § 153 Nr 8 S 23; - juris RdNr 9).

12f) Der Kläger trägt vor, das LSG sei seinem Fristverlängerungsantrag vom nicht gefolgt, und rügt dies als eine Verletzung des aus Art 2 Abs 1 GG iVm dem Rechtsstaatsprinzip abgeleiteten Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren sowie als unverhältnismäßig. Seinem Gesamtvorbringen ist zu entnehmen, dass er eine Verlängerung der Erklärungsfrist beantragt hat, die ihm vom LSG in der Anhörungsmitteilung vom gesetzt worden war. Als richterliche Frist kann die Anhörungsfrist des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG verlängert werden, wenn erhebliche Gründe glaubhaft gemacht sind (§ 65 Satz 1, § 202 Satz 1 SGG iVm § 224 Abs 2 ZPO). Das Vorliegen eines erheblichen Grundes iS von § 224 Abs 2 ZPO führt in aller Regel zur Reduzierung des richterlichen Ermessens auf Null, sodass dem Verlängerungsgesuch stattgegeben werden muss, wenn sonst das rechtliche Gehör verletzt wäre (vgl - juris RdNr 9). Auch wenn das Gericht zur Ablehnung des Fristverlängerungsantrag befugt ist, hat es hierüber gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 225 ZPO vorab zu entscheiden und dies dem Beteiligten, zu dessen Ungunsten der Beschluss nach § 153 Abs 4 SGG ergehen soll, mitzuteilen, um ihm gegebenenfalls eine abschließende Stellungnahme zu ermöglichen (vgl - juris RdNr 7 mwN). Der Kläger zeigt nicht ausreichend substantiiert auf, inwiefern das LSG diesen Anforderungen nicht entsprochen haben könnte, indem es sich bei der Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag nicht "mit allen weiteren streitigen Fragen" auseinandergesetzt habe.

13g) Das Vorbringen des Klägers, das LSG habe noch nicht über seinen Antrag vom auf Ergänzung des angegriffenen Beschlusses entschieden, ist durch den von ihm erwähnten überholt. Soweit der Kläger moniert, er habe lediglich im Rahmen des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens vor dem BSG von diesem Beschluss erfahren, zudem sei der Beschluss unvollständig, lässt sich seinem Vorbringen nicht entnehmen, unter welchem Gesichtspunkt hieraus ein rügefähiger Verfahrensmangel erwachsen könnte.

14Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:010824BB5R3524B0

Fundstelle(n):
VAAAJ-74426