BGH Beschluss v. - 4 StR 138/22

Beweiswürdigung zum Vorwurf eines vorsätzlichen Tötungsdelikts bei Menschen im Sterbeprozess; Kausalität nicht indizierter Medikamentengabe durch Intensivmediziner

Gesetze: § 212 StGB, § 213 StGB, § 261 StPO, § 267 StPO

Instanzenzug: LG Essen Az: 22 Ks 8/21 Urteil

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die hiergegen gerichtete und auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

A.

2Die Strafkammer hat – soweit vorliegend von Bedeutung – im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

3I. Der als Facharzt für Anästhesiologie mit intensivmedizinischer Zusatzausbildung praktizierende Angeklagte war zur Tatzeit als sog. Funktionsoberarzt auf der anästhesiologischen Intensivstation (IT II) des Universitätsklinikums Essen tätig, einem so genannten regionalen Maximalversorger mit einem ECMO-Zentrum. Während der zweiten Corona-Welle im Herbst 2020 wurde dort der schwer an einer SARS-CoV-2-Infektion erkrankte Geschädigte         H.      behandelt, der an einem nahezu vollständigen Funktionsverlust seiner Lunge litt und für sein Überleben auf eine ECMO-Behandlung als überbrückendes Lungenersatzverfahren angewiesen war. Trotz maximaler Behandlung trat keine Verbesserung seines Zustands ein. Am konstatierte der Chefarzt Prof. Dr. B.       im Zuge einer Chefarztvisite, an welcher auch der Angeklagte teilnahm, dass trotz mehr als einwöchiger ECMO-Behandlung eine Verbesserung der Lungenfunktion nicht festzustellen sei und nur noch eine sehr geringe Aussicht auf einen kurativen Therapieerfolg bestehe. Für den Fall einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten ordnete er an, die Familie des Patienten einzubestellen, um im Rahmen eines Angehörigengesprächs den mutmaßlichen Patientenwillen zu eruieren und zu klären, ob eine weitere Eskalation der kurativen Therapie oder eine Therapiezieländerung hin auf eine palliative Sterbebegleitung gewünscht sei.

4Nachdem der Angeklagte am seinen Frühdienst angetreten und im Rahmen der Morgenvisite von der Verschlechterung des Gesundheitszustands des Patienten erfahren hatte, nahm er telefonisch Kontakt zu Prof. Dr. B.      auf und setzte ihn über die weitere Entwicklung in Kenntnis. Dieser wiederholte seine Anordnung vom Vortag, die Angehörigen des Patienten einzubestellen, um den mutmaßlichen Patientenwillen ergebnisoffen zu erforschen. In dem Bewusstsein, dass eine Fortsetzung und weitere Eskalation der kurativen Therapie möglich und – vorbehaltlich eines abweichenden mutmaßlichen Patientenwillens – medizinisch indiziert war, erklärte der Angeklagte den wenig später in Essen eintreffenden Angehörigen des Geschädigten – darunter der Nebenklägerin – bewusst wahrheitswidrig, dass die Behandlungsmöglichkeiten erschöpft seien, das ECMO-Gerät in den nächsten Stunden seine Funktion verlieren und dies zu einem Versterben des Patienten führen werde, weil ein Gerätewechsel nicht zeitnah genug zu bewerkstelligen sei. Weiterhin forderte er die Angehörigen auf, sich von dem Patienten zu verabschieden, und kündigte an, die Behandlung anschließend zu beenden.

5Einige Minuten nach 17:54 Uhr schaltete der Angeklagte in Anwesenheit der Nebenklägerin das ECMO-Gerät ab, reduzierte den Beatmungsdruck und verminderte den Sauerstoffgehalt an dem zusätzlich zur Sauerstoffversorgung des Patienten eingesetzten Beatmungsgerät. Weiterhin schaltete der Angeklagte die Spritzenpumpe („Perfusor“) ab, die den Patienten zuvor kontinuierlich mit dem Katecholamin Noradrenalin versorgt und dadurch seinen Herzkreislauf stabilisiert hatte. Diese Maßnahmen führten unmittelbar zum Einsetzen des Sterbeprozesses; dies war dem Angeklagten bewusst.

6Gegen 18:29 Uhr verabreichte der Angeklagte dem Geschädigten über weitere Perfusoren jeweils 30 ml der Medikamente Sufentanil (des stärksten in der Humanmedizin zugelassenen Opioids), Clonidin (eines Blutdrucksenkers) und Sedalam (eines Sedativums). Als dem Angeklagten anhand eines erhöhten Blutdrucks und Herzschlags eine Stressreaktion des Geschädigten auffiel, verabreichte er um ca. 18:32 Uhr über die so genannte Bolusfunktion der Perfusoren, die größere Einmalgaben eines Medikaments ermöglichen, Sufentanil (16,36 ml) und Sedalam (15,85 ml), bis beide Spritzen vollständig entleert waren. In der Folge senkten sich Blutdruck und Herzschlag des Patienten. Anhand dieser Vitalparameter war ersichtlich, dass der Sterbeprozess des Geschädigten weiter andauerte.

7Spätestens gegen 18:38 Uhr fasste der Angeklagte den Entschluss, den Sterbeprozess und damit das Leben des Patienten          H.      durch die Gabe einer hohen Dosis Kaliumchlorid zu beenden. Ein entsprechender Perfusor mit Kaliumchloridlösung war im Krankenzimmer des Geschädigten vorhanden; das Medikament hatte während der kurativen Therapie dazu gedient, den gesunden Herzrhythmus des Geschädigten aufrechtzuerhalten. Dem Angeklagten war bewusst, dass die Gabe einer hohen Dosis Kaliumchlorid im Sterbeprozess medizinisch nicht indiziert war; es kam ihm darauf an, hierdurch einen Herzstillstand und damit den Tod des Geschädigten herbeizuführen. In Umsetzung seines Tatentschlusses entleerte er durch Verabreichung von 9,31 ml Kaliumchlorid die im Perfusor vorhandene Spritze und verabreichte um etwa 18:40 Uhr – weiterhin in Tötungsabsicht handelnd – aus einer neuen Spritze einen Kaliumchloridbolus von 49,44 ml sowie mithilfe weiterer Perfusoren drei Sufentanilboli von insgesamt 49,67 ml und einen Sedalambolus von 10 ml. Als der für den Geschädigten zuständige Krankenpfleger ihm schließlich eine Spritze mit 50 ml Propofol reichte, verabreichte der Angeklagte dem Geschädigten auch einen Teil dieser Spritze manuell über den zentralvenösen Katheter. Kurz darauf verstarb         H.      , da sein Herz infolge der Verabreichung von insgesamt 58,75 ml Kaliumchlorid stehenblieb.

8II. Die Strafkammer hat die Verabreichung der 58,75 ml Kaliumchloridlösung durch den Angeklagten als minder schweren Fall des Totschlags (§ 212 Abs. 1, § 213 Var. 2 StGB) gewertet. Ein Tatmotiv vermochte sie nicht festzustellen.

B.

9Das Rechtsmittel des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg. Die Verurteilung wegen vollendeten Totschlags hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Ursächlichkeit der Kaliumchloridgabe für den Todeseintritt nicht tragfähig belegt ist. Bei dieser Sachlage kommt es auf die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr an.

10mwN

11Urteil vom – 2 StR 204/00, NStZ 2001, 29, 30

12II. Die Annahme der Strafkammer, das Herz des Geschädigten sei infolge der Verabreichung von insgesamt 58,75 ml Kaliumchlorid(lösung) durch den Angeklagten stehengeblieben und die Verabreichung des Kaliumchlorids kausal für den (vorzeitigen)Todeseintritt geworden, ist beweiswürdigend nicht tragfähig belegt.

131. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. nur Rn. 6; Beschluss vom – 4 StR 148/23 Rn. 10 – jew. mwN). Aus dem Urteil muss hervorgehen, dass das Tatgericht sämtliche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. Rn. 6). Gemäß § 267 StPO hat das Tatgericht die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung für das Revisionsgericht nachvollziehbar und auf Rechtsfehler überprüfbar ist (vgl. Rn. 13; Beschluss vom – 2 StR 311/22 Rn. 10 – jew. mwN). Die Urteilsgründe müssen außerdem erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen nicht nur eine Vermutung darstellen (vgl. Rn. 12; Beschluss vom – 4 StR 416/20 Rn. 11 – jew. mwN).

142. Hieran gemessen begegnet die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Kausalität der Kaliumchloridgabe für den Tod des Geschädigten durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Sie ist lückenhaft.

15a) Ihre Überzeugung, dass die Verabreichung von insgesamt 58,75 ml Kaliumchloridlösung ‒ der Angeklagte hatte eine Bolusgabe von 9,31 ml Kaliumchloridlösung eingeräumt und das Landgericht hat sich rechtsfehlerfrei davon überzeugt, dass er entgegen seiner Einlassung dem Patienten mit Hilfe des Kaliumchloridperfusors ab 18:40 Uhr einen weiteren Bolus von 49,44 ml Kaliumchloridlösung verabreichte ‒ den Tod des Geschädigten herbeigeführt hat, stützt die Kammer „maßgeblich“ auf die Angaben des Angeklagten gegenüber der Ermittlungsrichterin. Dieser habe er sechs Tage nach dem Tod des Geschädigten geschildert, dass er dem Patienten          H.       – um dessen Leid zu verkürzen bzw. zu beenden – eine Dosis Kaliumchlorid verabreicht habe, woraufhin das Herz des Patienten aufgehört habe zu schlagen. Unter Berücksichtigung von Ausbildungsstand und beruflicher Erfahrung des Angeklagten bei der intensivmedizinischen Betreuung von Patienten im Sterbeprozess sei dieser sicher in der Lage gewesen, die Ursächlichkeit seiner eigenen Handlung für den kurz darauf eingetretenen Herzstillstand des Geschädigten zutreffend zu beurteilen. Auch im Rahmen der Hauptverhandlung habe der Angeklagte angegeben, dass er bei einer Bolusgabe von über 50 ml Kaliumchloridlösung mit einem Herzstillstand rechnen würde. Die Ursächlichkeit seines Handelns entspreche mithin auch im Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch seiner intensivmedizinischen Einschätzung. Dass der Angeklagte sicher von der Ursächlichkeit dieser Handlung ausging, werde auch dadurch belegt, dass er vier Tage nach der Tat einer Zeugin gegenüber eingeräumt habe, bewusst aktive Sterbehilfe geleistet zu haben.

16Zwar sei mit den wissenschaftlichen Methoden der Rechtsmedizin nicht aufklärbar, ob die Verabreichung der Kaliumchloridlösung kausal für den Todeseintritt gewesen sei; denn eine Kaliumintoxikation sei rechtsmedizinisch nicht mehr nachweisbar gewesen. Ferner habe der Leichnam Zeichen einer massiven Lungenentzündung und eines septischen Multiorganversagens aufgewiesen, welche ebenfalls geeignet seien, den Todeseintritt zu erklären. Die Einschätzung des Angeklagten werde jedoch durch die überzeugenden Ausführungen des toxikologischen und des intensivmedizinischen Sachverständigen bestätigt. Danach liege die verabreichte Gesamtbolusmenge von 58,75 ml Kaliumchloridlösung im tödlichen Bereich und führe zum Herzstillstand, sobald „eine tödliche Dosis Kaliumchlorid“ über den Blutkreislauf das Herz erreiche. Weiterhin sei die Gabe der festgestellten Menge Kaliumchlorid in keiner Situation medizinisch indiziert und liege bereits für sich genommen im tödlichen Dosisbereich; dies gelte unter zusätzlicher Berücksichtigung der weiteren maßlos überdosierten Medikamentengaben durch den Angeklagten erst recht.

17b) Diese Beweiserwägungen greifen unter den hier gegebenen Umständen in mehrfacher Hinsicht zu kurz:

18aa) Zwar ist die generelle Eignung der durch den Angeklagten verabreichten Gesamtmenge von 58,75 ml Kaliumchloridlösung zur Herbeiführung des Todes des Geschädigten tragfähig belegt. Der Nachweis des konkreten Ursachenzusammenhangs wird im Ergebnis jedoch maßgeblich auf die Wiedergabe der äußeren Geschehensabfolge durch den Angeklagten gestützt. Insoweit bleibt aber offen, auf welcher Tatsachengrundlage der Angeklagte selbst zu dieser Einschätzung gelangt ist. Insoweit fehlt es an einer Wiedergabe und Würdigung der Tatsachen, auf deren Grundlage der Angeklagte zu dem Schluss gelangt ist, dass die Kaliumchloridgabe den Tod des Patienten unmittelbar herbeigeführt hat.

19Eine nähere Erörterung dieser Umstände war hier auch unter Berücksichtigung der spezifischen Kenntnisse und Fähigkeiten des Angeklagten unerlässlich, weil andere mögliche Todesursachen wie die schwere Lungenentzündung, das septische Multiorganversagen, der durch den Angeklagten herbeigeführte und bereits geraume Zeit zurückliegende Behandlungsabbruch sowie die (überdosierte) Gabe weiterer Medikamente im Sterbeprozess  im Raum standen, die möglicherweise für sich genommen bereits geeignet gewesen sein könnten, den Tod des Geschädigten herbeizuführen. Dass der Angeklagte auf der Grundlage unvollständiger Wahrnehmung oder fehlerhafter Bewertung der situativen Umstände einem Fehlschluss erlegen sein könnte, liegt mithin nicht fern und hätte folgerichtig geprüft, erörtert und nachvollziehbar ausgeschlossen werden müssen (vgl. Rn. 18; Urteil vom – 4 StR 673/52 a.E.).

20bb) Weiterhin ist die tatgerichtliche Annahme, die Gesamtbolusmenge von 58,75 ml Kaliumchloridlösung sei vor Todeseintritt tatsächlich wirksam geworden, beweiswürdigend nicht tragfähig belegt. Den Urteilsgründen ist auch unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs nicht zweifelsfrei zu entnehmen, dass die vom Landgericht tragfähig als letal angesehene Dosis tatsächlich vor Todeseintritt über den Blutkreislauf zum Herzen des Geschädigten gelangte. Es fehlt an Feststellungen zur Dauer der um 18:40 Uhr begonnenen zweiten Bolusgabe und zum genauen Zeitpunkt des Todeseintritts. Bei dieser Sachlage bleibt offen, ob die Gesamtmenge des Kaliumchlorids tatsächlich vor Eintritt des Todes wirksam geworden ist oder ob der Tod unabhängig von der Kaliumchloridgabe ‒ möglicherweise aufgrund der festgestellten schweren Erkrankung des Angeklagten, aufgrund des geraume Zeit zurückliegenden Abbruchs der lebensnotwendigen ECMO‒Behandlung, der Medikamentengabe einschließlich der nach Verabreichung der Kaliumchloridlösung erfolgten Gabe einer unbekannten Menge Propofol oder aufgrund eines Zusammenwirkens mehrerer oder aller dieser Umstände ‒ eingetreten sein könnte. Vor diesem Hintergrund erweist sich die tatgerichtliche Annahme der Ursächlichkeit der durch den Angeklagten verabreichten Kaliumchloridgabe für den Todeseintritt letztlich als spekulativ.

21III. Nach alledem kann die Verurteilung des Angeklagten wegen Totschlags nicht bestehen bleiben.

221. Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts sieht sich der Senat aus Rechtsgründen daran gehindert, den Schuldspruch wegen vollendeten Totschlags aufrechtzuerhalten, weil die Urteilsgründe ausweisen, dass der Angeklagte alle denkbaren Ursachen für den Todeseintritt des Geschädigten in strafbewehrter Weise gesetzt habe. Zwar hat das Landgericht im Anschluss an die rechtliche Würdigung zur Kaliumchloridgabe ausgeführt, dass – „ohne dass es hierauf für die Verwirklichung des Tatbestands des § 212 Abs. 1 StGB ankommt“ – auch der vorangegangene Abbruch der kurativen Therapie durch den Angeklagten nicht gerechtfertigt gewesen sei. Denn er habe durch die bewusst wahrheitswidrige Information der Angehörigen des Geschädigten im Gespräch am , wonach es keinerlei Behandlungsmöglichkeiten mehr für den Patienten gebe, jede Grundlage für eine tatsachenbasierte Erörterung des mutmaßlichen Patientenwillens mit den Angehörigen (§ 1901a Abs. 2 BGB a.F., § 1901b BGB a.F.) beseitigt und somit nicht mit der Zielrichtung gehandelt, durch den Abbruch der kurativen Therapie dem mutmaßlichen Patientenwillen Rechnung zu tragen. Auch objektiv habe ein entsprechender mutmaßlicher Patientenwille des Geschädigten nicht vorgelegen.

23Den Urteilsgründen ist aber nicht mit der erforderlichen Klarheit zu entnehmen, dass der Angeklagte nach der Überzeugung des Landgerichts bereits zu diesem Zeitpunkt mit Tötungsvorsatz handelte. Nach den Feststellungen fasste der Angeklagte den Tötungsentschluss „spätestens um ca. 18.38 Uhr“ und damit zeitlich nach dem Abbruch der kurativen Therapie. Weiterhin sind die Beweiserwägungen zur subjektiven Tatseite – mit Blick auf die den Schuldspruch tragenden Gründe folgerichtig – ausschließlich auf die Verabreichung der hohen Dosis Kaliumchlorid bezogen. Feststellungen und Beweiserwägungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten im Hinblick auf den Abbruch der kurativen Therapie und auf die weiteren im Sterbeprozess verabreichten Medikamentengaben fehlen.

24Die vom Generalbundesanwalt angeregte Umbewertung des festgestellten Sachverhalts verbietet sich vorliegend zudem unter dem Gesichtspunkt der Gewährung sachgerechter Verteidigungsmöglichkeit, da eine Auswechslung – oder hier: wahldeutige Ergänzung – der Tathandlung mit einer wesentlichen Veränderung des Tatbildes einherginge (vgl. , BGHSt 56, 121 Rn. 9; Beschluss vom – 4 StR 506/90, StV 1991, 502), ohne dass der Angeklagte hierauf in der Tatsacheninstanz hingewiesen worden wäre.

252. Da rechtsfehlerfrei belegte Feststellungen, die eine Verurteilung wegen vollendeten Totschlags – möglicherweise im Wege der gleichartigen bzw. unechten Wahlfeststellung (Verursachung des Todes entweder infolge rechtswidrigen Abbruchs der kurativen Therapie oder infolge (ggf. kombinierter) medizinisch nicht indizierter Medikamentengaben im Sterbeprozess oder infolge des Zusammenwirkens all dieser Faktoren) – tragen könnten, nicht ausgeschlossen erscheinen, bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen, hebt der Senat sämtliche Urteilsfeststellungen auf.

C.

26Der Senat sieht Anlass zu folgendem Hinweis:

27Sollte das zu neuer Verhandlung und Entscheidung berufene Tatgericht (erneut) unter ausschließlicher Bezugnahme auf etwaige Medikamentengaben im Sterbeprozess zu einer Verurteilung des Angeklagten wegen vollendeten Totschlags gelangen und sich nicht davon überzeugen können, dass der Angeklagte bereits im Zeitpunkt des Behandlungsabbruchs mit Tötungsvorsatz handelte, wäre es angesichts der Besonderheiten des Einzelfalls gehalten, die Möglichkeit des konkreten Todeseintritts als (alleinige) Folge des Abbruchs der kurativen Therapie tragfähig auszuschließen. Insoweit könnte namentlich an Bedeutung gewinnen, dass der Geschädigte infolge des Abbruchs der lebensnotwendigen Therapie – abhängig vom festgestellten Zeitpunkt der dann maßgeblichen Tathandlung ggf. schon geraume Zeit – neben der bestehenden Krankheitssymptomatik und ihren Folgen (schwere Lungenentzündung/Multiorganversagen) unter einer akuten massiven Sauerstoffunterversorgung litt. Daher könnte die Problematik eines nicht ausschließbaren irreversiblen Gesamthirntods des Geschädigten vor Eintritt des bislang exklusiv erörterten Herzkreislaufstillstands in den Blick zu nehmen sein (vgl. Rn. 7 und 17; Urteil vom – 5 StR 592/02 Rn. 12 und 20 f.; zum Todesbegriff s.a. Deutscher Ethikrat, Hirntod und Entscheidung zur Organspende, 2015 = BT-Drucks. 18/4256; BeckOK-StGB/Eschelbach, 61. Ed., § 211 Rn. 11; MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., Vorbem. zu § 211 Rn. 14 ff.; LK-StGB/Rosenau, 13. Aufl., Vorbem. zu § 211 ff. Rn. 20 ff. – jew. mwN). Darüber hinaus könnte auch genauer als bisher geschehen in den Blick zu nehmen sein, ob und welche Wirkung das dem Tatopfer durch den Angeklagten zuletzt in unbekannter Menge verabreichte Propofol entfaltete.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:290524B4STR138.22.0

Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 10 Nr. 38
NJW 2024 S. 2856 Nr. 39
NJW 2024 S. 2859 Nr. 39
UAAAJ-74315