Eingruppierung einer Retail Assistant - Auslegung der Tätigkeitsbeispiele "Verkäufer/innen, auch wenn sie kassieren" und "Kassierer/innen"
Gesetze: § 1 TVG
Instanzenzug: Az: 1 BV 16/21 Beschlussvorgehend Landesarbeitsgericht Hamburg Az: 8 TaBV 8/21 Beschluss
Gründe
1A. Die Beteiligten streiten über die Ersetzung der Zustimmung des bei der Arbeitgeberin gebildeten Betriebsrats zur beabsichtigten Eingruppierung einer Arbeitnehmerin.
2Die Arbeitgeberin ist ein europaweit tätiges Handelsunternehmen mit 32 Filialen in Deutschland, welches Bekleidung und Accessoires vertreibt. Im Betrieb H sind mehr als 20 Arbeitnehmerinnen beschäftigt.
3Die Arbeitgeberin schloss mit der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft - ver.di (ver.di) am einen Anerkennungs- und Übergangstarifvertrag (AÜTV) sowie am zwei Ergänzungstarifverträge. Nach § 2 Nr. 1 AÜTV finden bei der Arbeitgeberin ab dem die regionalen Tarifverträge für den Einzelhandel, geschlossen zwischen ver.di und den Arbeitgeberverbänden des Einzelhandels, dynamisch in ihrer jeweiligen Fassung Anwendung.
4In den wöchentlichen Dienstplänen der Arbeitgeberin werden die Arbeitnehmerinnen zum Teil einer Abteilung (zB Footwear) zugeteilt, zum Teil einer Etage mit dem Zusatz „Tills“ für Kassen. Die Arbeitnehmerinnen im Verkauf und an der Kasse sind sog. Supervisoren unterstellt. Zudem ist in der Filiale ein „Cash Office“ eingerichtet, bei dem es sich um „eine Art Kassenbüro“ handelt, in dem die Abrechnung der Tageseinnahmen und die Vorbereitung der einzelnen Kassen durchgeführt wird.
5Die Arbeitnehmerin R ist seit dem bei der Arbeitgeberin als „Retail Assistant“ beschäftigt. Zu ihren Tätigkeiten gehören das Kassieren, die Beratung von Kunden auf der Fläche, das Auspacken von Waren und Auffüllen der Warenbestände auf der Fläche, die Preisauszeichnung der Waren, die Warenpräsentation nach vorgegebenen Standards einschließlich der verkaufsfertigen Wiederherrichtung und Präsentation von nicht durch Kunden erworbenen Waren, die Kontrolle bei der Anprobe, die Information von Vorgesetzten über Warenbestandsengpässe und Bestandslücken sowie die Umsetzung von Inventurvorgaben.
6Hauptaufgabe an der Kasse ist das Bedienen der Computerkassenanlage. Vor Beginn einer Schicht erhält die Arbeitnehmerin R eine Kassenlade, die mit Wechselgeld durch die Supervisoren vorbestückt ist. Sie meldet sich an einer Kasse an, wodurch diese für die Schicht personalisiert wird, und registriert den gezählten Betrag. Ggf. bestellt sie Wechselgeld nach, welches durch einen Geldboten überbracht und dann ebenfalls registriert wird. Ein- bis dreimal pro Schicht erfolgt eine Geldabschöpfung an der Kasse, bei der im Vieraugenprinzip Geld aus der Kasse entnommen wird. Die Prüfung sowie das Zählen des aktuellen Kassenbestands erfolgt durch einen Supervisor. Die Abrechnung der Kasse, die Erstellung von Berichten, die Weiterleitung von Einnahmen und Belegen sowie die Ermittlung von Ursachen aufgetretener Kassendifferenzen wird von Mitarbeitern des Cash Office durchgeführt. Der Kassiervorgang erfolgt in der Regel durch Scannen des Etiketts oder manuelle Eingabe des Warenbarcodes. Ist dies nicht möglich, muss die Arbeitnehmerin R einen Supervisor hinzuziehen. Der insgesamt zu zahlende Betrag wird durch die Computerkasse berechnet. Kunden können bar, mit Kredit- oder EC-Karte sowie mit Gutscheinen bezahlen. Bei Zweifeln über die Echtheit von Geldscheinen erfolgt eine Prüfung mittels eines Falschgeldstifts, bei Scheinen im Wert von 100,00 Euro oder mehr im Vieraugenprinzip.
7In den Kalenderwochen 21 bis 26 und 46 bis 50 des Jahres 2020 sowie in den Kalenderwochen 25 bis 27 des Jahres 2021 war die Arbeitnehmerin R ausschließlich für „Tills Basement“ eingeteilt. Sie ist insgesamt zu mehr als 50 vH ihrer Arbeitszeit an der Kasse tätig.
8Mit Schreiben vom hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat zur Einstellung der Arbeitnehmerin R sowie zu einer Eingruppierung in „G.2 1 TJ“ an. Der Betriebsrat stimmte der Einstellung zu, widersprach jedoch der Eingruppierung. Mit Schreiben vom hörte die Arbeitgeberin den Betriebsrat erneut zur Eingruppierung der Arbeitnehmerin R an, und zwar in „G2a nach dem 5. BJ“. Für die Berechnung der Berufsjahre berücksichtigte sie dabei die Tätigkeit der Arbeitnehmerin R bei einem früheren Arbeitgeber von November 2000 bis Mai 2019. Der Betriebsrat widersprach mit Schreiben vom . Die Eingruppierung widerspreche der Systematik des Gehaltstarifvertrags, da die Arbeitnehmerin R als „feste“ Kassiererin richtigerweise in Gehaltsgruppe 3 eingruppiert sei.
9Die Arbeitgeberin hat die Auffassung vertreten, die Arbeitnehmerin R sei in Gehaltsgruppe 2a, nach dem 5. Berufsjahr des Gehaltstarifvertrags für den Hamburger Einzelhandel, geschlossen zwischen dem Handelsverband Nord e. V. und ver.di (GTV), eingruppiert. Als „Retail Assistant“ falle sie unter das Tätigkeitsbeispiel „Verkäufer/innen, auch wenn sie kassieren“. Sie sei keine „Kassiererin“ iSd. Gehaltsgruppe 3 GTV. Hierfür seien - unter Rückgriff auf das allgemeine Tätigkeitsmerkmal der Gehaltsgruppe 3 GTV - „gehobene“ Kassentätigkeiten erforderlich, die durch die Supervisoren und die Mitarbeiter des Cash Office, nicht aber durch die Arbeitnehmerin R erbracht würden. Die Tätigkeit der Arbeitnehmerin R sei aufgrund der Verwendung von Computerkassen einfacher als die Tätigkeit an Kassen, die die Tarifvertragsparteien bei Vereinbarung des Tätigkeitsbeispiels im Blick gehabt hätten. Dieses sei daher nur erfüllt, wenn weitere, schwierigere Tätigkeiten auszuüben seien.
10Die Arbeitgeberin hat zuletzt beantragt,
11Der Betriebsrat hat Antragsabweisung beantragt und ausgeführt, die Arbeitnehmerin R sei, da sie zu mehr als 50 vH ihrer Arbeitszeit an den Kassen im Untergeschoss eingesetzt sei, „Kassiererin“ iSd. Gehaltsgruppe 3 GTV.
12Das Arbeitsgericht hat den Antrag der Arbeitgeberin abgewiesen, das Landesarbeitsgericht die hiergegen gerichtete Beschwerde zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Arbeitgeberin ihr Begehren weiter.
13B. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde gegen den antragsabweisenden Beschluss des Arbeitsgerichts zutreffend zurückgewiesen. Der Zustimmungsersetzungsantrag der Arbeitgeberin ist nicht begründet. Der Betriebsrat hat seine Zustimmung zu Recht verweigert. Die Arbeitnehmerin R ist nicht in Gehaltsgruppe 2a, nach dem 5. Berufsjahr GTV eingruppiert.
14I. Die Arbeitgeberin hat das Zustimmungsverfahren ordnungsgemäß iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG eingeleitet. Sie hat den Betriebsrat über die beabsichtigte personelle Einzelmaßnahme unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen informiert. Der Betriebsrat wiederum hat dem Zustimmungsersuchen der Arbeitgeberin mit Schreiben vom form- und fristgerecht nach § 99 Abs. 2 und 3 BetrVG widersprochen. Er hat dabei Gründe genannt, die es als möglich erscheinen lassen, dass die Zustimmungsverweigerung berechtigt erfolgte.
15II. Der Betriebsrat konnte die Zustimmung zu der geplanten personellen Maßnahme nach § 99 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG verweigern, weil diese gegen die Bestimmungen des maßgebenden Tarifvertrags verstößt. Die Arbeitnehmerin R übt keine Tätigkeit aus, die der Gehaltsgruppe 2a GTV zuzuordnen ist.
161. Bei der Einteilung der Arbeitnehmerin R in die Gehaltsgruppen des GTV handelt es sich um eine mitbestimmungspflichtige Eingruppierung. Eine Eingruppierung iSv. § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ist die Einstufung einer Arbeitnehmerin in die betriebliche Vergütungsordnung. Eine Umgruppierung ist jede Änderung dieser Einreihung ( - Rn. 15). Vorliegend hat die Arbeitgeberin zwar zunächst eine Eingruppierung in „G.2 1 TJ“ beabsichtigt und den Betriebsrat hierzu angehört. Dieses Zustimmungsverfahren ist aber abgebrochen und stattdessen das vorliegend streitgegenständliche Verfahren durch die Arbeitgeberin eingeleitet worden. Daher handelt es sich bei der nunmehr beabsichtigten Eingruppierung in Gehaltsgruppe 2a, nach dem 5. Berufsjahr GTV nicht um eine Umgruppierung, sondern um eine (Erst-)Eingruppierung der Arbeitnehmerin R.
172. Die Eingruppierung der Arbeitnehmerin R richtet sich nach § 6 des Manteltarifvertrags für den Hamburger Einzelhandel vom idF vom , geschlossen zwischen dem Landesverband des Hamburger Einzelhandels e.V. und ver.di, (MTV) sowie den Regelungen des GTV in seiner aktuellen Fassung vom als der im Betrieb geltenden Vergütungsordnung.
18a) § 6 MTV lautet auszugsweise:
19b) Die maßgebenden Bestimmungen des GTV haben folgenden Inhalt:
203. Bei der Tätigkeit der Arbeitnehmerin R handelt es sich um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit.
21a) Gegenstand der tariflichen Bewertung ist gemäß § 6 Nr. 2 Satz 1 MTV die „jeweils tatsächlich verrichtete Tätigkeit“. Im MTV fehlt es zwar an einer ausdrücklichen Bestimmung, nach der die „überwiegende“ Tätigkeit für die Eingruppierung maßgebend sein soll. Dies ergibt sich aber aus den Regelungen in § 2A Gehaltsgruppe 1 GTV und § 2B Gehaltsgruppe 2b GTV, die jedenfalls für die Gehaltsgruppen 1, 2 und 3 GTV die überwiegende Tätigkeit als maßgebend bezeichnen. Zudem handelt es sich um einen allgemein anerkannten Grundsatz des Eingruppierungsrechts, dass sich die auszuübende Tätigkeit einer Arbeitnehmerin aus verschiedenen Teiltätigkeiten unterschiedlicher Gehaltsgruppen zusammensetzen kann (vgl. - Rn. 33; - 4 AZR 111/14 - Rn. 33). Weder der MTV noch der GTV bieten Anhaltspunkte dafür, die Tarifvertragsparteien hätten von diesem Grundsatz abweichen wollen.
22b) Für die Feststellung, ob eine Arbeitnehmerin eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit ausübt oder ob ihre Tätigkeit aus mehreren jeweils eine Einheit bildenden und gesondert zu bewertenden Teiltätigkeiten besteht, sind die gesamten Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, wobei vorrangig auf die Arbeitsaufgabe abzustellen ist. Von einer Gesamttätigkeit ist auszugehen, wenn der Arbeitnehmerin eine einheitliche, nicht weiter trennbare Aufgabe übertragen ist oder wenn zwischen den ihr übertragenen Aufgaben ein sachlicher Zusammenhang besteht. Dagegen sind tatsächlich getrennte und nicht im Zusammenhang stehende Tätigkeiten als Teiltätigkeiten getrennt zu bewerten ( - Rn. 28; - 4 AZR 283/22 - Rn. 28, jeweils mwN).
23c) Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der Tätigkeit der Arbeitnehmerin R um eine einheitlich zu bewertende Gesamttätigkeit. Das Landesarbeitsgericht hat zwar nicht ausdrücklich Gesamt- oder Teiltätigkeiten bestimmt und lediglich darauf abgestellt, die Arbeitnehmerin sei „jedenfalls zu mehr als 50 % an der Kasse tätig“. Die einheitliche Einteilung der Arbeitnehmerin in den Dienstplänen lässt aber den Schluss auf eine einheitliche Gesamttätigkeit zu. Anhaltspunkte dafür, dass die Arbeitgeberin eine organisatorische Trennung zwischen zB Kassen- und sonstigen Tätigkeiten vorgenommen hätte, sind nicht ersichtlich.
244. Die Tätigkeit der Arbeitnehmerin R ist nicht der Gehaltsgruppe 2a GTV zuzuordnen.
25a) Die Arbeitnehmerin R ist, wenn sie nicht über eine abgeschlossene kaufmännische Ausbildung verfügt, nicht zwingend in Gehaltsgruppe 1 GTV eingruppiert. Nach § 2A GTV erfolgt nach vier Tätigkeitsjahren unabhängig von einer abgeschlossenen Ausbildung eine Eingruppierung in die Gehaltsgruppe, der die überwiegend auszuübende Tätigkeit entspricht. Zudem wird einer Berufsausbildung nach § 2B Buchst. b GTV eine kaufmännische Tätigkeit von vier Jahren gleichgestellt. Soweit die Annahme der Arbeitgeberin, die Arbeitnehmerin R verfüge über anrechenbare Beschäftigungszeiten von mehr als 18 Jahren, zutrifft, richtet sich die Eingruppierung daher unabhängig von einer Ausbildung nach der auszuübenden Tätigkeit.
26b) Die Tätigkeit der Arbeitnehmerin R erfüllt nicht die tariflichen Anforderungen der Gehaltsgruppe 2a GTV, sondern der Gehaltsgruppe 3 GTV. Sie ist als „Kassiererin“ tätig.
27aa) Für eine Eingruppierung in Gehaltsgruppe 3 GTV ist die Erfüllung des Tätigkeitsbeispiels „Kassiererin“ ausreichend. Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin ist ein Rückgriff auf die allgemeine Anforderung einer „Tätigkeit, die erweiterte Fachkenntnisse in einem entsprechend übertragenen Aufgabenkreis erfordert“ weder notwendig noch zulässig.
28(1) Die Erfordernisse eines Tätigkeitsmerkmals sind regelmäßig als erfüllt anzusehen, wenn die Arbeitnehmerin eine dem in der Gehaltsgruppe genannten Tätigkeitsbeispiel entsprechende Tätigkeit ausübt. Das beruht darauf, dass die Tarifvertragsparteien selbst im Rahmen ihrer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewisse häufig vorkommende und typische Aufgaben einer bestimmten Gehaltsgruppe fest zuordnen können. Haben die Tarifvertragsparteien Tätigkeitsbeispiele festgelegt, ist ein Rückgriff auf die Obersätze nicht nur überflüssig, sondern unzulässig. Lediglich wenn ausdrücklich geregelt oder aus anderen Bestimmungen des Tarifvertrags zuverlässig zu entnehmen ist, dass diese Wirkung gerade nicht eintreten soll, sondern es auch bei Vorliegen eines Tätigkeitsbeispiels auf die Erfüllung der in den Oberbegriffen niedergelegten Merkmale ankommt, reicht die Ausübung einer darin genannten Aufgabe allein nicht aus. Auf die allgemeinen Merkmale muss überdies dann zurückgegriffen werden, wenn die von der Arbeitnehmerin ausgeübte Tätigkeit von einem Tätigkeitsbeispiel nicht oder nicht voll erfasst wird. Das ist ua. dann der Fall, wenn das Beispiel in mehreren Gehaltsgruppen genannt ist und damit als Kriterium für eine bestimmte Gehaltsgruppe ausscheidet ( - Rn. 17 mwN, BAGE 167, 78; - 4 AZR 333/08 - Rn. 20).
29(2) Der GTV enthält keine Regelung, nach der die Eingruppierung lediglich anhand der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale erfolgen soll (vgl. zu einer solchen Tarifbestimmung -).
30(3) Das Tätigkeitsbeispiel der „Kassiererin“ wird auch nicht in mehreren Gehaltsgruppen genannt. In Gehaltsgruppe 2a GTV findet sich das Tätigkeitsbeispiel „Verkäufer/innen, auch wenn sie kassieren“, in Gehaltsgruppe 4 GTV die Tätigkeitsbeispiele der „Kassierer/innen der Hauptkasse“ und der „Kassenaufsicht“. Die Tätigkeitsbeispiele sind nicht identisch; allein die Tatsache, dass jeweils das Wort „kassieren“ verwendet wird, führt nicht dazu, dass ein Rückgriff auf die Obersätze erforderlich wird.
31bb) „Kassiererin“ iSd. Gehaltsgruppe 3 GTV ist, wer überwiegend Tätigkeiten einer Kassiererin ausübt. Es sind weder eine ausschließliche Tätigkeit an der Kasse noch „gehobene“ Kassentätigkeiten erforderlich. Das ergibt die Auslegung des Tarifvertrags (zu den Auslegungsgrundsätzen - Rn. 35 mwN, BAGE 164, 326).
32(1) Eine Tätigkeit entspricht einem Tätigkeitsbeispiel idR dann, wenn die in diesem genannte Tätigkeit innerhalb der zu bewertenden Gesamt- oder Teiltätigkeit zeitlich überwiegend, also zu mehr als 50 vH der Arbeitszeit ausgeübt wird. Zwingend erforderlich ist das aber nicht. Die anfallenden Aufgaben können auch durch ihre qualitativen Anforderungen den Schwerpunkt der Tätigkeiten bilden und für die Gesamt- oder Teiltätigkeit so bedeutsam sein, dass diese insgesamt dem „Bild“ der durch das Tätigkeitsbeispiel beschriebenen Tätigkeit entspricht. Es muss sich um dem Tätigkeitsbeispiel typischerweise zuzuordnende Tätigkeiten handeln ( - Rn. 37; - 4 ABR 19/19 - Rn. 30). Der GTV enthält keine abweichende Regelung, insbesondere nicht in Gehaltsgruppe 2b GTV. Darin wird lediglich festgelegt, dass und wie gesondert - und höher - zu bewertende Teiltätigkeiten, die nicht überwiegend ausgeübt werden, sich auf die Eingruppierung auswirken. Die Beschränkung auf nicht überwiegend ausgeübte Tätigkeiten verdeutlicht, dass für eine höhere Eingruppierung keine ausschließliche Tätigkeit erforderlich ist.
33(2) Der GTV definiert nicht, was unter einer „Kassiererin“ zu verstehen ist. Bei der Auslegung ist daher anzunehmen, dass der Begriff in dem Sinne verwendet wird, der dem allgemeinen Sprachgebrauch und dem der beteiligten Kreise entspricht, wenn nicht sichere Anhaltspunkte für eine abweichende Auslegung gegeben sind ( - Rn. 36; - 4 AZR 301/22 - Rn. 35). Danach sind Kassiererinnen für die Abwicklung von Zahlungsvorgängen an der Kasse zuständig. Dabei arbeiten sie meist mit modernen Kassensystemen und erfassen die Einkäufe der Kunden elektronisch mit einem Warenscanner. Beim Bezahlen der Waren prüfen sie die Echtheit der Geldscheine und achten darauf, das richtige Wechselgeld herauszugeben. Häufig wickeln sie die Zahlungen auch bargeldlos ab. Wenn sich keine Kunden an der Kasse befinden, unterstützen sie die Kolleginnen im Lager und im Wareneingang und füllen zB Regale auf. Zudem bearbeiten sie Reklamationen und tauschen Waren um. Bei Bedarf helfen sie den Kunden auch beim Verpacken der gekauften Waren. Am Ende ihres Arbeitstages erstellen sie ggf. die Abrechnung, indem sie den Kassenbestand mit den Einnahmen verrechnen (https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/7717, zuletzt abgerufen am ). Vorliegend haben die Tarifvertragsparteien den Begriff der „Kassiererin“ ohne jeden erläuternden oder einschränkenden Zusatz verwendet. Aus dem Wortlaut ergeben sich somit keine Anhaltspunkte für ein vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichendes Verständnis (vgl. zur insoweit inhaltsgleichen Vorgängerregelung -).
34(3) Auch die Systematik der tariflichen Regelungen spricht entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin für dieses Verständnis.
35(a) Die Abgrenzung zwischen einer Eingruppierung nach Gehaltsgruppe 2b GTV und einer solchen nach Gehaltsgruppe 3 GTV (oder einer höheren Gehaltsgruppe) erfolgt quantitativ. Es sind nicht unterschiedliche Tätigkeiten, sondern dieselben in unterschiedlichem Umfang, die zu einer Eingruppierung in Gehaltsgruppe 2b oder 3 GTV führen. Anspruch auf eine Vergütung nach Gehaltsgruppe 2b GTV hat, wer in erheblichem Umfang, aber nicht überwiegend höherwertige Tätigkeiten zu verrichten hat. Die Gehaltsgruppe 3 GTV ist einschlägig, wenn die dort genannten höherwertigen Tätigkeiten überwiegend ausgeübt werden. Hiervon sind die Tarifvertragsparteien durch die gesonderte Regelung zum „Kassieren“ nur insoweit abgewichen, als eine nicht überwiegende Kassiertätigkeit nicht Gehaltsgruppe 2b GTV, sondern Gehaltsgruppe 2a GTV zugeordnet worden ist. Einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad der Kassentätigkeiten haben sie gerade nicht vorausgesetzt. Wäre mit „Kassieren“ iSd. mit einem Sternchen (*) gekennzeichneten Zusatzes zu Gehaltsgruppe 2b GTV nicht das Kassieren iSd. Gehaltsgruppe 3 GTV gemeint, wäre die Regelung zudem überflüssig. Dann würde „Kassieren“ iSd. Gehaltsgruppe 2a GTV ohnehin nicht der höherwertigen Tätigkeit entsprechen.
36(b) Darüber hinaus haben die Tarifvertragsparteien für das Tätigkeitsbeispiel der „Kassiererin“ keinen Zusatz gewählt, während sie an anderen Stellen durchaus zwischen „einfachen“ und „gehobenen“ Tätigkeiten differenziert haben. So wird in den Gehaltsgruppen 2a und 3 GTV zwischen „Verkäufer/innen, auch wenn sie kassieren“ und „Ersten Verkäufer/innen“; „Angestellten mit kaufmännischer Tätigkeit in Warenannahme, Lager und Versand“ und „Lagerersten“; Telefonisten/innen, die bis zu oder mehr als 3 Amtsanschlüsse bedienen; „Schauwerbegestalter/innen“ und „Ersten Schauwerbegestalter/innen“; Angestellten in „allgemeiner Buchhaltung, Lohnbuchhaltung etc.“ und „Gehobenen Kräften in Buchhaltung, Lohnbuchhaltung etc.“ unterschieden. Es kann nicht angenommen werden, die Tarifvertragsparteien hätten bei dem Tätigkeitsbeispiel „Kassiererin“, anders als im Übrigen, ohne ausdrückliche Regelung „qualifizierte“ Tätigkeiten zur Erfüllung des Tätigkeitsbeispiels voraussetzen wollen.
37(c) Zudem haben die Tarifvertragsparteien „gehobene“ Kassentätigkeiten in Gehaltsgruppe 4 GTV mit den Tätigkeitsbeispielen „Kassierer/innen der Hauptkasse“ und „Kassenaufsichten“ berücksichtigt. „Kassenaufsichten“ sind nach allgemeinem Sprachgebrauch für den reibungslosen Ablauf im Kassenbereich verantwortlich. Sie erstellen die Tagesabrechnung, indem sie die Kassenbestände mit den Einnahmen verrechnen. Teilweise helfen sie auch beim Kassieren aus, unterstützen die Kassierer/innen bei der Abwicklung komplizierter Zahlungsvorgänge oder bearbeiten Reklamationen. Sie planen zudem den Personaleinsatz, so dass zB die Kassen stets ausreichend besetzt sind, und arbeiten neue Mitarbeiter/innen in ihr Kassenteam ein (https://web.arbeitsagentur.de/berufenet/beruf/7716, zuletzt abgerufen am ). Das schließt es aus, diese Tätigkeiten bereits als Voraussetzung für die Erfüllung der tariflichen Anforderungen der Gehaltsgruppe 3 GTV anzusehen.
38cc) Entgegen der Auffassung der Arbeitgeberin ist nicht maßgebend, ob die Kassiertätigkeiten mit denen „aus früheren Zeiten“ vergleichbar sind. Die Tarifvertragsparteien haben die technische Entwicklung und verbreitete Verwendung von Computerkassen nicht zum Anlass genommen, das Tätigkeitsbeispiel „Kassierin“ zu präzisieren. Der Begriff ist daher unverändert und unabhängig von der verwendeten Kasse zu verstehen. Die Gerichte dürfen Tarifnormen nicht wegen neuer technischer Entwicklungen einengend oder ausdehnend auslegen, wenn - wie vorliegend - Wortlaut und Gesamtzusammenhang der tariflichen Regelung hierfür keine Möglichkeit bieten. Andernfalls würden die Gerichte in unzulässiger Weise in die durch das Grundgesetz geschützte Tarifautonomie (Art. 9 Abs. 3 GG) eingreifen (st. Rspr., sh. nur - Rn. 29 mwN).
39dd) Nach diesen Grundsätzen entspricht die Tätigkeit der Arbeitnehmerin R der einer „Kassiererin“ iSd. Gehaltsgruppe 3 GTV. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist sie zeitlich überwiegend an der Kasse tätig. Dort hat sie mit der Abwicklung von Zahlungsvorgängen, der Prüfung der Echtheit von Geldscheinen, der Herausgabe von Wechselgeld und der Sicherstellung der Funktionsfähigkeit der Kasse typische Tätigkeiten einer Kassiererin auszuüben. Unerheblich ist, dass sie weder die Abrechnung der Kasse übernimmt noch die Ursachen für Kassendifferenzen ermittelt. Hierbei handelt es sich um Tätigkeiten, die dem Tätigkeitsbeispiel der „Kassenaufsicht“ iSd. Gehaltsgruppe 4 GTV entsprechen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2024:120624.B.4ABR29.23.0
Fundstelle(n):
SAAAJ-74197