BGH Urteil v. - IX ZR 247/22

Einordnung eines vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer Fluggesellschaft begründeten Beförderungsanspruchs als Insolvenzforderung oder Masseverbindlichkeit

Gesetze: Art 5 Abs 1 Buchst a EGV 261/2004, Art 5 Abs 1 Buchst c EGV 261/2004, Art 7 Abs 1 S 1 Buchst a EGV 261/2004, Art 8 Abs 1 Buchst b EGV 261/2004, § 38 InsO, § 254 InsO, § 254b InsO

Instanzenzug: LG Darmstadt Az: 21 S 193/21vorgehend AG Rüsselsheim Az: 3 C 519/20 (31)

Tatbestand

1Am buchte der Kläger zu 1 für sich und die Klägerin zu 2 bei dem beklagten Luftfahrtunternehmen Flüge von Düsseldorf nach Westerland/Sylt und von Westerland/Sylt zurück nach Düsseldorf. Sie bezahlten den Flugpreis. Die Flüge sollten im Juni 2020 stattfinden. Am wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Die Beklagte setzte den Flugbetrieb fort. Am annullierte die Beklagte aufgrund von Reisebeschränkungen die Flüge und bot einen Fluggutschein an, den die Kläger ablehnten. Ersatzflüge bot sie den Klägern nicht an. Noch an demselben Tag buchte der Kläger zu 1 Ersatzflüge für sich und die Klägerin zu 2 bei einer anderen Fluggesellschaft. Hierfür entstanden Kosten in Höhe von 602,48 €. Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten wurde, nachdem ein Insolvenzplan zustande gekommen war, mit Beschluss vom aufgehoben. Der Insolvenzplan sieht für Insolvenzforderungen eine Quote von 0,1 % und Zusatzquoten vor.

2Die Kläger begehren Zahlung einer Ausgleichszahlung von 250 € pro Person zuzüglich Zinsen, der Kläger zu 1 darüber hinaus Erstattung der für die Ersatzbeförderung aufgewendeten Kosten in Höhe von 602,48 € nebst Zinsen. Das Amtsgericht hat der Klage lediglich in Höhe von 0,1 % der geltend gemachten Forderungen stattgegeben. Auf die Berufung der Kläger hat das Berufungsgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision will die Beklagte die Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils erreichen.

Gründe

3Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Sie führt zur Wiederherstellung des amtsgerichtlichen Urteils.

I.

4Das Berufungsgericht hat ausgeführt: Der Ausgleichsanspruch der Kläger in Höhe von jeweils 250 € folge aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. a, Art. 5 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 295/91 (ABl. L 46 S. 1; im Folgenden: Fluggastrechte-VO oder Fluggastrechte-Verordnung). Zugleich stehe dem Kläger zu 1 aus Art. 8 Fluggastrechte-VO in Verbindung mit § 280 Abs. 1, Abs. 3, § 281 Abs. 1 Satz 1 Variante 1 BGB ein Anspruch auf Erstattung der für die Ersatzbeförderung aufgewendeten Kosten zu. Diese Ansprüche stellten Masseverbindlichkeiten gemäß § 55 Abs. 1 InsO und nicht Insolvenzforderungen nach § 38 InsO dar. Die geltend gemachten Ansprüche seien solche aus gesetzlichen Schuldverhältnissen, welche die aus dem Beförderungsvertrag resultierenden Sekundäransprüche des nationalen allgemeinen Leistungsstörungsrechts ergänzten. Begründet worden seien die Ansprüche mit der Annullierung der Flüge nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Annullierung sei nicht insolvenzbedingt erfolgt. Im Zeitpunkt der Annullierung hätten die Beförderungsansprüche noch bestanden. Sie seien lediglich nicht durchsetzbar gewesen. Aus dem Verhalten der Beklagten nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens hätten die Kläger auf ein Festhalten an der Beförderung schließen dürfen. Weder seien neue Beförderungsverträge geschlossen worden, noch liege eine Schenkung der Beklagten an die Kläger vor.

II.

5Diese Ausführungen halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Kläger können keine über die vom Amtsgericht zuerkannten Forderungen hinausgehenden Ansprüche geltend machen.

61. Grundlage des auf Zahlung eines Ausgleichs gerichteten Begehrens der Kläger ist Art. 5 Abs. 1 Buchst. c in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. a Fluggastrechte-VO, Grundlage des auf Erstattung der für den Ersatzflug aufgewendeten Kosten gerichteten Begehrens des Klägers zu 1 ist die geltend gemachte Verletzung der Pflicht der Beklagten, einen Ersatzflug gemäß Art. 5 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 8 Abs. 1 Buchst. b Fluggastrechte-VO anzubieten.

72. Die auf dieser Grundlage geltend gemachten Ansprüche stellen nur Insolvenzforderungen nach § 38 InsO dar. Sie können gemäß §§ 254, 254b InsO nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nur nach Maßgabe des Insolvenzplans zuerkannt werden.

8a) Dazu, ob Ansprüche aus der Fluggastrechte-Verordnung eine Masseverbindlichkeit oder eine Insolvenzforderung darstellen, wenn der Flug vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Fluggesellschaft gebucht und bezahlt, der Flug aber erst nach der Eröffnung annulliert worden ist, gibt es keine spezialgesetzlichen Regelungen. Die Fluggastrechte-Verordnung sagt hierzu nichts. Auch im Übrigen gibt es keine europarechtlichen Vorschriften zur Qualifizierung von Forderungen gegen einen insolventen Schuldner. Vielmehr ergibt sich aus Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 2015 über Insolvenzverfahren (EuInsVO; ABl. L 141 S. 19), dass für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedsstaates gilt, in dessen Hoheitsgebiet das Verfahren eröffnet wird. Dies ist im Streitfall Deutschland, so dass allein das deutsche Recht maßgeblich ist (vgl. , WM 2023, 882 Rn. 11 zu Art. 8 Abs. 1 Buchst. a Fluggastrechte-VO; vom - IX ZR 91/22, ZIP 2023, 975 Rn. 16 zu Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Fluggastrechte-VO).

9b) Ob ein Anspruch eine Insolvenzforderung oder eine Masseverbindlichkeit ist, richtet sich zunächst nach den Vorschriften der Insolvenzordnung, insbesondere nach den §§ 38, 54 f InsO. Ansprüche, die im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet waren, sind gemäß § 38 InsO Insolvenzforderungen, die nur nach den Vorschriften der Insolvenzordnung verfolgt werden können (§ 87 InsO). Die Beförderungsansprüche der Kläger sind vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten begründet worden und waren damit nur Insolvenzforderungen, die von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten an nicht mehr durchsetzbar waren. Die Beklagte hat sie nicht erfüllt. Sekundäransprüche, die aus der Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht durchsetzbarer Ansprüche folgen, begründen keine Masseverbindlichkeiten (, WM 2022, 1375 Rn. 13; vom - IX ZR 150/21, WM 2023, 880 Rn. 11; vom - IX ZR 90/22, WM 2023, 882 Rn. 12).

10c) Im Streitfall handelt es sich bei den vorliegend aufgrund der Annullierung geltend gemachten Ansprüchen auf Ausgleichsleistung sowie Schadensersatz hinsichtlich der verauslagten Mehrkosten um Sekundäransprüche aus der Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht durchsetzbarer Ansprüche. Der Senat hat in seinen Urteilen vom umfassend dargelegt, dass und warum Handlungen des Verwalters oder des eigenverwaltenden Schuldners, die allein die Nichterfüllung vor der Eröffnung geschlossener, nicht aus der Masse zu erfüllender Verträge betreffen und damit nur der Abwicklung dienen, nicht unter § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO fallen (, WM 2022, 1375 Rn. 18 f; vom - IX ZR 142/21, WM 2022, 1293 Rn. 18 f). Die Angriffe der Revision geben keinen Anlass, hiervon abzuweichen. Motiv und Anlass, aus denen sich der Insolvenzverwalter oder der eigenverwaltende Schuldner für die Nichterfüllung entscheiden, sind insoweit ohne Bedeutung. Es ist mit den gesetzlichen Regelungen der Insolvenzordnung nicht vereinbar, einen auf die Nichterfüllung bloßer Insolvenzforderungen gestützten Schadensersatz- oder Ausgleichsanspruch als Masseverbindlichkeit zu behandeln. Anderenfalls wären der Insolvenzverwalter oder der eigenverwaltende Schuldner entgegen § 87 InsO mittelbar gezwungen, Insolvenzforderungen vollständig aus der Masse zu erfüllen. Dies zeigen auch die Regelung und Wertung des § 103 Abs. 2 Satz 1 InsO, wonach ein Gläubiger Ansprüche wegen Nichterfüllung nur als Insolvenzgläubiger verfolgen kann, wenn der Insolvenzverwalter im Falle noch nicht oder nicht vollständig erfüllter gegenseitiger Verträge die Erfüllung ablehnt.

11d) Andere Gründe, aus denen eine Masseverbindlichkeit bestehen könnte, sind nicht ersichtlich. Die Fortsetzung des Flugbetriebs wertete die Insolvenzforderung der Kläger nach der Rechtsprechung des Senats weder für sich genommen noch in Verbindung mit etwaigen Erklärungen der Beklagten, der Flugbetrieb werde fortgesetzt, zu Masseforderungen auf (, WM 2023, 882 Rn. 13). Einen den Klägern zeitgleich mit der Annullierung des Flugs angebotenen Reisegutschein haben sie nicht angenommen.

123. Anderes ergibt sich nicht aus dem Gebot einer möglichst wirksamen Anwendung des Gemeinschaftsrechts (effet utile). Die Revisionserwiderung verweist - im Ausgangspunkt zutreffend - darauf, dass die Fluggastrechte-Verordnung gemäß ihrem ersten Erwägungsgrund auf die Sicherstellung eines hohen Schutzniveaus für Fluggäste ziele, ferner dass die Vorschriften, mit denen Fluggästen Ansprüche eingeräumt werden, weit auszulegen seien (, C-432/07, NJW 2010, 43 Rn. 45 mwN).

13Vorliegend geht es jedoch nicht um Inhalt und Reichweite von Fluggastrechten, sondern um deren Schicksal in der Insolvenz des Luftfahrtunternehmens. Hierzu trifft die Fluggastrechte-Verordnung keine Aussage; das Unionsrecht überantwortet die Ausgestaltung des Insolvenzrechts dem nationalen Recht. Dies gilt auch für die insolvenzrechtliche Behandlung unionsrechtlich begründeter Ansprüche. Die vorgenommene Abgrenzung im Rahmen des § 55 InsO, wonach die bloße Nichterfüllung von insolvenzbedingt nicht durchsetzbaren Insolvenzforderungen keine Masseverbindlichkeiten begründet, ist von der zugrundeliegenden Rechtsmaterie unabhängig und lässt eine Sonderbehandlung von Fluggast- oder sonstigen Rechten, bei denen das Unionsrecht ein hohes Schutzniveau anstrebt, etwa im Verbraucherschutz (Art. 169 AEUV), nicht zu.

14Weder aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts noch aus der des Gerichtshofs der Europäischen Union folgt anderes: Die Revisionserwiderung macht geltend, der aus Art. 4 Abs. 3 EUV folgende Grundsatz der Unionstreue verpflichte Gerichte, diejenige Auslegung des nationalen Rechts zu wählen, die dem Inhalt einer EU-Richtlinie in der ihr vom Gerichtshof der Europäischen Union gegebenen Auslegung entspreche. Mehrere mögliche Auslegungsmethoden seien daher hinsichtlich des Richtlinienziels bestmöglich anzuwenden im Sinne eines Optimierungsgebots (BVerfG, ZIP 2012, 911 Rn. 46). Darum geht es vorliegend nicht. Es geht um die Anwendung des außerhalb des Regelungsbereichs der Fluggastrechte-Verordnung liegenden Insolvenzrechts.

154. Schließlich bedarf es keiner Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Ein Vorabentscheidungsersuchen ist erforderlich, wenn sich eine entscheidungserhebliche und der einheitlichen Auslegung bedürfende Frage des Unionsrechts stellt. Das ist hier nicht der Fall. Streitgegenständlich ist die Auslegung nationalen Insolvenzrechts, insbesondere des § 55 InsO. Dass die Fluggastrechte-Verordnung keine insolvenzrechtlichen Regelungen enthält und das Unionsrecht, wie oben ausgeführt, die Rechtsfolgen der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens für bestehende Forderungen nationalem Recht überantwortet, unterliegt keinem vernünftigen Zweifel. Ist aber die Anwendung des Unionsrechts offenkundig ("acte clair"), ist ein Vorabentscheidungsverfahren nicht veranlasst ( 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BVerfG, NVwZ 2015, 52 Rn. 35).

III.

16Das angefochtene Urteil kann daher keinen Bestand haben. Es ist aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO). Da die Aufhebung nur wegen Rechtsverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf das festgestellte Sachverhältnis erfolgt und nach letzterem die Sache zur Endentscheidung reif ist, hat der Senat in der Sache selbst zu entscheiden (§ 563 Abs. 3 ZPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:110724UIXZR247.22.0

Fundstelle(n):
NAAAJ-72784