BSG Beschluss v. - B 7 AS 25/24 B

(Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil statt Sachurteil - Auslegung eines Antrags auf Leistungen für Erstausstattung gemäß § 24 Abs 3 SGB 2 - Meistbegünstigungsprinzip - Zurückverweisung)

Gesetze: § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 54 SGG, § 78 SGG, § 99 Abs 3 SGG, § 123 SGG, § 133 BGB, § 24 Abs 3 SGB 2

Instanzenzug: SG Hildesheim Az: S 24 AS 1320/18 Urteilvorgehend Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen Az: L 7 AS 611/22 Beschluss

Gründe

1I. Die Beteiligten streiten über die Höhe eines dem Kläger zustehenden Erstausstattungsbedarfs. Auf seinen Antrag vom , mit dem er zunächst Leistungen "in Höhe der üblichen Pauschale von 357,- Euro" begehrte, bewilligte das beklagte Jobcenter eine Beihilfe zur Beschaffung einer Erstausstattung für Bekleidung in Höhe von 376 Euro (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Auf die zuletzt auf Zahlung weiterer 1597 Euro gerichtete Klage hat das SG den Beklagten zur Zahlung eines weiteren Betrags in Höhe von 100 Euro verurteilt und die Klage im Übrigen abgewiesen. Im Berufungsverfahren ist der Kläger zu einer Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG angehört worden, mit dem Hinweis, das Sozialgericht dürfte die Klage zu Recht abgewiesen haben. Das LSG hat die Berufung im Folgenden durch Beschluss mit der Begründung zurückgewiesen, die Klage sei unzulässig (Beschluss vom ). Der Kläger habe kein Rechtsschutzbedürfnis. Im Hinblick auf den erstmals in der mündlichen Verhandlung begehrten Betrag von 1597 Euro fehle es an der vorherigen Durchführung des Vorverfahrens.

2Mit seiner Beschwerde wendet sich der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision durch das LSG. Er macht als Verfahrensfehler sinngemäß ua geltend, das LSG hätte durch Sachurteil statt durch Prozessurteil entscheiden müssen. Zu Unrecht sei es von einem fehlenden Rechtsschutzbedürfnis ausgegangen, denn die Nennung eines Betrages von 357 Euro sei unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips nicht als Begrenzung des Antrags auszulegen.

3II. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG.

4Der Kläger macht als Verfahrensfehler ua geltend, das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen und seine Berufung nicht wegen Unzulässigkeit der Klage zurückweisen dürfen. Mit diesem Vorbringen hat er einen Verfahrensmangel, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), hinreichend iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet. Dieser Verfahrensfehler liegt auch vor. Indem das LSG die Klage als unzulässig angesehen hat, hat es dem Kläger insoweit rechtsfehlerhaft eine Sachentscheidung verwehrt. In einer unterlassenen Sachentscheidung liegt ein Verfahrensmangel, der im Rahmen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG zu berücksichtigen ist (stRspr; vgl nur - RdNr 5; B. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Schmidt, SGG, 14. Aufl 2023, § 160 RdNr 19; Meßling in Krasney/ Udsching/Groth/Meßling, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 8. Aufl 2022, IX. Kap RdNr 193, 206, jeweils mwN).

5Entgegen der Auffassung des LSG war die Klage nicht wegen fehlendem Rechtsschutzbedürfnis unzulässig, und auch nicht, weil kein Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren durchgeführt wurden. Wenn der Kläger in seinem Antrag vom einen Betrag von 357 Euro genannt und auf die „übliche Pauschale“ verwiesen hat, schließt dies unter Berücksichtigung der Antragsbegründung (Hinweis auf seine vorhergehende Obdachlosigkeit und gesundheitliche Einschränkungen) nicht aus, dass er auch über diesen Betrag hinausgehende Ansprüche geltend machen wollte, wenn solche in Betracht kommen. Zu Recht verweist die Beschwerde insoweit auf das Meistbegünstigungsprinzip, wonach ein Antrag - auch bereits im Verwaltungsverfahren - im Zweifel so auszulegen ist, dass alles begehrt wird, was dem Antragsteller aufgrund des Sachverhalts rechtlich zusteht, sein Begehren also möglichst weitgehend zum Tragen kommt (stRspr; zuletzt etwa - RdNr 12 mwN). Hiervon ist zu Recht bereits der Beklagte im Verwaltungsverfahren ausgegangen und hat dem Kläger Leistungen bewilligt, die über den Betrag von 357 Euro hinausgingen. Der Kläger hat zudem im Widerspruchsverfahren erklärt, dass er weitere Leistungen - ua auch für orthopädische Einlagen und Schuhe - benötige. Im Widerspruchsbescheid ist über einen Bedarf für orthopädische Schuhe ausdrücklich entschieden worden. Soweit also das LSG zur Begründung seiner Auffassung, es fehle insoweit an der Durchführung eines Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens, darauf abstellt, solche Ansprüche seien erstmals im Klageverfahren geltend gemacht worden, geht dies fehl. Davon abgesehen dürfte schon § 99 Abs 3 SGG, der regelt, wann (noch) keine Klageänderung vorliegt, der Auffassung des LSG entgegenstehen.

6Die Entscheidung des LSG beruht auch auf diesem Verfahrensfehler. Wäre es nicht von der Unzulässigkeit der Klage ausgegangen, hätte es den Anspruch des Klägers in der Sache - ggf nach weiteren Ermittlungen - prüfen müssen. Eine für den Kläger günstigere Entscheidung ist vor diesem Hintergrund nicht auszuschließen. Ob auch, wie die Beschwerde weiterhin rügt, die Entscheidung des LSG durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG statt durch Urteil verfahrensrechtlich zu beanstanden ist, lässt der Senat offen. Nur ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass außer in dem Beschluss des LSG eine mögliche Unzulässigkeit der Klage im Verfahren nicht thematisiert wurde, das entscheidungserhebliche Abstellen auf diesen Gesichtspunkt also durchaus überraschend erscheint.

7Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG - wie hier - vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser Möglichkeit Gebrauch.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BSG:2024:170724BB7AS2524B0

Fundstelle(n):
ZAAAJ-72485