BGH Beschluss v. - XII ZB 493/22

Wiedereinsetzung in Ehe- und Familienstreitsachen bei Versäumung der Beschwerdefrist: Unwirksamkeit einer Entscheidungszustellung bei Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung; Rechtsanwaltsverschulden bei Irrtum hinsichtlich des Beginns der Beschwerdefrist; Nachweis für die erfolgte Verkündung von urteilsersetzenden Beschlüssen

Leitsatz

1. Nur wesentliche Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter Ausfertigung führen zur Unwirksamkeit der Zustellung. Wesentlich sind Abweichungen, die die Entschließung über die Einlegung eines Rechtsmittels beeinflussen können (im Anschluss an Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 408/23, MDR 2024, 731 und vom - XII ZB 194/05, FamRZ 2007, 372; , NJW-RR 2006, 1570).

2. Zum (hier verneinten) Verschulden eines Rechtsanwalts, der darauf vertraut, dass für den Beginn der Beschwerdefrist erst eine zweite Beschlusszustellung maßgebend ist.

3. Urteilsersetzende Beschlüsse in Ehe- und Familienstreitsachen sind gemäß § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 311 Abs. 2 ZPO zu verkünden. Der Nachweis für die erfolgte Verkündung kann nach § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. §§ 165 Satz 1, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO nur durch das Protokoll geführt werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - XII ZB 592/11, FamRZ 2012, 1287).

Gesetze: § 85 Abs 2 ZPO, § 160 Abs 3 Nr 7 ZPO, § 165 S 1 ZPO, § 233 ZPO, § 311 Abs 2 ZPO, § 317 Abs 1 S 1 ZPO, § 63 Abs 1 FamFG, § 63 Abs 3 S 1 FamFG, § 113 Abs 1 FamFG

Instanzenzug: Az: II-10 UF 46/22 Beschlussvorgehend AG Geilenkirchen Az: 11 F 7/20

Gründe

1Der Antragsgegner wendet sich in einem güterrechtlichen Verfahren gegen die Verwerfung seiner Beschwerde.

2Das Amtsgericht hat den Antragsgegner mit einem am zugestellten Beschluss, der einen auf den lautenden Verkündungsvermerk trägt, zur Zahlung eines Zugewinnausgleichs in Höhe von 83.248,50 € nebst Zinsen an die Antragstellerin verpflichtet. Auf Beanstandungen der Beteiligten über Unvollständigkeiten des Beschlusses hat das Amtsgericht am darauf hingewiesen, dass den Beteiligten „versehentlich Ausfertigungen des am verkündeten Beschlusses übersandt“ worden seien, die - wahrscheinlich aufgrund von Formatierungsfehlern bei der Textverarbeitung - nicht mit dem Originalbeschluss in der Gerichtsakte übereinstimmten. Zugleich hat es die Beteiligten gebeten, die „übersandten Beschlüsse zurückzureichen“, damit die „Entscheidung (…) erneut zugestellt werden“ könne.

3Gegen den ihm am erneut zugestellten Beschluss hat der Antragsgegner mit am eingegangenem Schriftsatz Beschwerde eingelegt und diese innerhalb der vom Oberlandesgericht antragsgemäß bis zum verlängerten Beschwerdebegründungsfrist begründet. Das Oberlandesgericht hat nach entsprechendem Hinweis auf die Nichtwahrung der Rechtsmittelfrist die Beschwerde verworfen. Hiergegen wendet sich der Antragsgegner mit seiner Rechtsbeschwerde.

4Die Rechtsbeschwerde ist nach §§ 112 Nr. 2, 117 Abs. 1 Satz 4 FamFG iVm §§ Absstatthaft und auch im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Sie führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht. Die rügt zu Recht, dass das Beschwerdegericht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hat, welche ausgehend von seinen Feststellungen von Amts wegen hätte bewilligt werden müssen.

51. Das Beschwerdegericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Beschwerde nicht rechtzeitig eingelegt worden ist. Die in § 63 Abs. 1, 3 Satz 1 FamFG bestimmte Monatsfrist begann nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm §§ 317 Abs. 1 Satz 1, 166 Abs. 2 ZPO ohne Rücksicht auf die Mängel der Beschlussausfertigung bereits mit der am erfolgten Zustellung zu laufen.

6a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kommt es bei Abweichungen zwischen Urschrift und zugestellter beglaubigter Abschrift für die Wirksamkeit der Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist entscheidend darauf an, ob die zugestellte beglaubigte Abschrift formell und inhaltlich geeignet war, den Beteiligten die Entschließung über die Notwendigkeit der Einlegung eines Rechtsmittels zu ermöglichen. Der Zustellungsempfänger muss aus der beglaubigten Abschrift wenigstens den Inhalt der Urschrift und vor allem den Umfang seiner Beschwer und die tragenden Entscheidungsgründe erkennen können (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 408/23 - MDR 2024, 731 Rn. 6 mwN und vom - XII ZB 194/05 - FamRZ 2007, 372;  - 2006, 1114, 1115 mwN).

7b) Dies war hinsichtlich der am zugestellten beglaubigten Abschrift der Fall. Sowohl aus dem Tenor als auch aus den Gründen der Abschrift ergab sich seine Verpflichtung zur Zahlung eines Zugewinnausgleichsbetrags in Höhe von 83.248,50 € nebst Zinsen. Auch wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe unvollständig waren, ließen diese allein noch keine Zweifel am Umfang der Zahlungsverpflichtung aufkommen. Etwas anderes konnte sich entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde nicht aufgrund des erst nachfolgenden Hinweises vom ergeben, zumal auch der Zustellungswille des Amtsgerichts (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 314/21 - FamRZ 2022, 226 Rn. 6 mwN) unzweifelhaft gegeben war und die wesentlichen Förmlichkeiten erfüllt waren.

8c) Da die Zustellung am wirksam war, konnte die nochmalige Zustellung den Lauf der Frist nicht mehr beeinflussen. Denn das Beschwerdegericht konnte durch die Veranlassung der erneuten Zustellung die Rechtswirkungen der bereits erfolgten Zustellung nicht mehr rückgängig machen (vgl. Senatsurteil vom - XII ZR 27/09 - NJW 2011, 522 Rn. 20, 26 mwN). Auch wurde hierdurch keine neue Frist in Lauf gesetzt (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 408/23 - MDR 2024, 731 Rn. 8;  - NJW-RR 2000, 1665, 1666).

92. Die macht dagegen mit Recht geltend, dass das Beschwerdegericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdeeinlegungs- und -begründungsfrist hätte bewilligen müssen. Denn der Antragsgegner hat diese Fristen unverschuldet versäumt (§ 113 Abs. 1 FamFG iVm § 233 Satz 1 ZPO). Ein Verschulden seines Verfahrensbevollmächtigten, welches er sich nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen müsste, ist unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls nicht gegeben.

10a) Zwar ist die verspätete Einlegung des Rechtsmittels auf den Irrtum des Rechtsanwalts über die den Fristlauf auslösende Zustellung zurückzuführen. Dass dieser Irrtum auf der Mitteilung des Gerichts beruhte, entlastet den Rechtsanwalt noch nicht ohne Weiteres. Denn auf eine unzutreffende Rechtsauskunft des Gerichts darf er sich nicht ohne Weiteres verlassen, sondern ist verpflichtet, die sich bei der Verfahrensführung stellenden Rechtsfragen in eigener Verantwortung zu überprüfen. Dementsprechend schließen selbst ursächliche Gerichtsfehler im Allgemeinen ein anwaltliches Verschulden nicht aus (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZR 27/09 - 2011, 362 Rn. 30 mwN).

11Anderes gilt indessen, wenn dem Rechtsanwalt vom Gericht gegebene Informationen sich auf gerichtsinterne Vorgänge beziehen und die Unrichtigkeit der Informationen mithin nicht ohne Weiteres zu erkennen ist. Erklärt etwa das Gericht die bereits erfolgte Zustellung für unwirksam und ist die Unrichtigkeit dieser Information für den Rechtsanwalt nicht ohne Weiteres erkennbar, so trifft den Rechtsanwalt kein Verschulden, wenn er davon ausgeht, dass erst die wiederholte Zustellung wirksam ist und den Lauf einer Frist auslöst (Senatsbeschluss vom - XII ZR 27/09 - 2011, 362 Rn. 32 mwN). So liegt es auch im vorliegenden Fall. Die Aufforderung, die zugestellte Ausfertigung zurückzusenden, erfolgte durch die zuständige Richterin. Zwar waren den Unvollständigkeiten aufgefallen, jedoch war damit dem Rechtsanwalt das konkrete Ausmaß der Abweichungen von der erlassenen Entscheidung nicht erkennbar. Aus diesem Grund konnte er auch nicht aus eigener Kenntnis von der Wirksamkeit der ersten Zustellung ausgehen. Zumal er die erhaltene Ausfertigung auf die Aufforderung des Gerichts zurückgegeben hatte, ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er hinsichtlich des Laufs der Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist die zweite Zustellung für maßgeblich gehalten hat.

12Die Entscheidung des  - NJW-RR 2006, 563 f.) steht dem nicht entgegen. Der zugrunde liegende Fall ist insofern anders gelagert, als dort keine Informationen seitens des Gerichts erteilt worden waren, die die Annahme des Rechtsanwalts, die fehlerhaft erfolgte zweite Zustellung sei maßgeblich, hervorgerufen haben könnte. Deshalb fehlte es im Unterschied zum vorliegenden Fall an einem vom Gericht ausgelösten Vertrauenstatbestand.

13b) Ob der Antragsgegner konkludent einen Wiedereinsetzungsantrag gestellt hat, kann hier offenbleiben. Denn bei der gegebenen Sachlage hätte das Beschwerdegericht ihm nach § 113 Abs. 1 FamFG iVm § 236 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligen müssen (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 96/23 - 2023, 1735 Rn. 12 mwN). Die Wiedereinsetzung ist sowohl hinsichtlich der Beschwerdefrist als auch der Beschwerdebegründungsfrist auszusprechen. Letztere war bereits vor der Bewilligung der Fristverlängerung durch das Beschwerdegericht abgelaufen. Die absolute Wiedereinsetzungsfrist nach § 234 steht nicht entgegen, weil die Fristversäumung allein dem Gericht zuzurechnen ist (vgl. Senatsurteil vom - XII ZR 27/09 - 2011, 362 Rn. 37 mwN).

143. Der angefochtene ist daher aufzuheben.

15Für das weitere weist der Senat darauf hin, dass die nach § 113 Abs. 1 FamFG, §§ 329 Abs. 1, 310 f. ZPO erforderliche Verkündung des erstinstanzlichen es (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 51/21 - FamRZ 2021, 1556 Rn. 13 mwN) in der Akte nicht in der gebotenen Form nachgewiesen ist. Der Nachweis für die erfolgte Verkündung kann gemäß § 113 Abs. 1 FamFG iVm §§ 165 Satz 1, 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO nur durch das Protokoll geführt werden (vgl. Senatsbeschlüsse vom - XII ZB 131/19 - NJW 2020, 2272 Rn. 11 mwN und vom - XII ZB 592/11 - FamRZ 2012, 1287 Rn. 15). Dieses ist grundsätzlich spätestens innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung zu erstellen (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 571/13 - 2015, 839 Rn. 15, 19 f.;  - NJW-RR 2022, 1363 Rn. 25 f. mwN).

16An einem Protokoll über die Verkündung der Entscheidung am fehlt es hier indes. Der auf den lautende Vermerk der Geschäftsstelle über die Verkündung einer Entscheidung hat keine dem Protokoll vergleichbare Beweiskraft und kann deshalb die erforderliche Feststellung der Verkündung in einem Protokoll nicht ersetzen (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 592/11 - FamRZ 2012, 1287 Rn. 16 mwN; BAG NJW 2021, 1833 Rn. 23). Auch die richterliche Verfügung vom über die Zustellung des Beschlusses genügt hier als Nachweis für die Verkündung einer Entscheidung am nicht. Zwar kann eine verfahrensfehlerhafte, aber wirksame Verlautbarung vorliegen, wenn der Vorsitzende der Kammer bzw. der Einzelrichter die Übersendung einer dem Verkündungserfordernis unterfallenden Entscheidung an die Beteiligten selbst verfügt hat, weil dann der Wille, die Entscheidung zu erlassen, außer Frage steht (vgl.  - NJW 2004, 2019, 2020 mwN; BAG NJW 2021, 1833 Rn. 27 mwN). Das kann hier allerdings schon in Anbetracht des aufgebrachten Verkündungsvermerks nicht gelten, woraus sich ergibt, dass die Entscheidung durch Verkündung und nicht etwa durch Zustellung verlautbart werden sollte.

17Das Beschwerdegericht wird diese Frage, die bislang noch nicht erörtert worden ist, zunächst aufzuklären haben. Sollte sich dabei eine wirksame Verkündung ergeben, wäre dem Antragsgegner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen. Für den Fall, dass es an einer Verkündung fehlt, wäre die Sache mangels wirksamen Entscheidungserlasses (vgl. Senatsbeschluss vom - XII ZB 592/11 - Rn. 18 f.; vgl. auch BAG NJW 2021,1833 Rn. 33) an das Amtsgericht zurückzugeben.

Guhling                    Klinkhammer                    Günter

                Botur                                 Pernice

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:050624BXIIZB493.22.0

Fundstelle(n):
AAAAJ-71520