Erfolglose Beschwerde gegen Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 99 Abs. 2 WDO
Leitsatz
Gegen eine Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens nach § 99 Abs. 2 WDO ist die Beschwerde nach § 114 Abs. 1 WDO statthaft.
Instanzenzug: Truppendienstgericht Süd Az: S 5 VL 53/19 Beschluss
Tatbestand
1Das Beschwerdeverfahren betrifft die Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens.
2Der frühere Soldat war bis Ende September 2018 Zeitsoldat. Das Amtsgericht P. verhängte gegen ihn mit Strafbefehl vom wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen eine Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung. Auf seinen auf das Strafmaß beschränkten Einspruch minderte es mit rechtskräftigem Urteil vom das Strafmaß auf eine sechsmonatige Gesamtfreiheitsstrafe auf Bewährung.
3In dem Anfang 2018 eingeleiteten gerichtlichen Disziplinarverfahren wurde der frühere Soldat sachgleich der Steuerhinterziehungen im sechsstelligen Euro-Bereich sowie zudem der Ausübung ungenehmigter Nebentätigkeiten mit Einkünften im sechsstelligen Euro-Bereich angeschuldigt. Nachdem die Vorsitzende der Truppendienstkammer den Hauptverhandlungstermin auf den 15. und anberaumt hatte, ging ihr ein angeforderter Zentralregisterauszug vom zu, in dem - über den vorherigen Auszug vom hinaus - neben dem Strafurteil vom eine rechtskräftige Verurteilung des früheren Soldaten vom wegen Steuerhinterziehung in fünf Fällen und versuchter Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung unter Einbeziehung des Strafurteils vom eingetragen war. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer wies ausweislich ihrer Aktenvermerke die Wehrdisziplinaranwaltschaft auf die Eintragung hin und bat um Mitteilung, ob die Hauptverhandlung wie geplant stattfinden könne oder eine Nachtragsanschuldigungsschrift geplant sei.
4Die Wehrdisziplinaranwaltschaft beantragte daraufhin mit Schriftsatz vom die Aussetzung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens. Sie habe Kenntnis erlangt, dass der frühere Soldat weitere schwerwiegende Dienstvergehen begangen haben könnte. Es sei beabsichtigt, die neuen Vorwürfe zu ermitteln und gegebenenfalls zum Gegenstand einer Nachtragsanschuldigungsschrift zu machen. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer übersandte den Antrag mit Verfügung vom dem Verteidiger des früheren Soldaten zur etwaigen Stellungnahme binnen zehn Tagen und hob den Hauptverhandlungstermin auf. Der Verteidiger bat mit Schriftsatz vom um Mitteilung, wozu konkret Stellung genommen werden solle.
5Mit Beschluss vom hat die Vorsitzende der Truppendienstkammer das gerichtliche Disziplinarverfahren ausgesetzt.
6Der frühere Soldat hat am Beschwerde erhoben. Sein Anspruch auf rechtliches Gehör sei verletzt worden, weil der Aussetzungsbeschluss vor Ablauf der Stellungnahmefrist ergangen sei. Die Vorsitzende der Truppendienstkammer habe zudem den Aussetzungsgrund durch ihren Hinweis an die Wehrdisziplinaranwaltschaft selbst gesetzt. Er verweise auf seinen noch anhängigen Befangenheitsantrag vom .
7Der Vertreter der Vorsitzenden der Truppendienstkammer hat in einem Vermerk vom festgehalten, dass die originäre Vorsitzende im Urlaub sei und der Beschwerde nicht abgeholfen werden solle, und hat verfügt, die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht vorzulegen.
8Die Bundeswehrdisziplinaranwaltschaft hält die Beschwerde jedenfalls für unbegründet.
Gründe
9Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
101. Zwar ist sie zulässig, insbesondere nicht nach § 114 Abs. 1 Satz 2 WDO ausgeschlossen.
11Danach unterliegen Entscheidungen, die der Urteilsfällung vorausgehen - abgesehen von wenigen, hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen - nicht der Beschwerde, sondern gemeinsam mit der Sachentscheidung allein der Nachprüfung im Berufungsverfahren. Insoweit ist in der Senatsrechtsprechung geklärt, dass es nicht Sinn der Vorschrift sein kann, jede Entscheidung der Anfechtung zu entziehen, die rein zeitlich der Urteilsfällung vorausgeht. Vielmehr sollen nur solche Entscheidungen nicht mit der Beschwerde anfechtbar sein, die in einem inneren Zusammenhang mit der Urteilsfindung stehen, ausschließlich ihrer Vorbereitung dienen, bei der Urteilsfällung der nochmaligen Prüfung des Gerichts unterliegen und durch Rechtsmittel gegen das Urteil angefochten werden können (vgl. 2 WDB 1.98 - BVerwGE 113, 259 <259 f.> zu § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.).
12Nach Maßgabe dessen ist die Aussetzung eines gerichtlichen Disziplinarverfahrens gemäß § 99 Abs. 2 WDO ebenso wie eine Aussetzung nach § 99 Abs. 3 WDO (vgl. 2 WDB 1.98 - BVerwGE 113, 259 <259 f.> m. w. N. zu § 96 Abs. 3, § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.) und nach § 83 Abs. 1 Satz 1 WDO (vgl. 2 WDB 4.21 - juris Rn. 11; ebenso 2 WDB 1.96 - NZWehrr 1996, 213 <213 f.> zu § 76 Abs. 1 Satz 1, § 109 Abs. 1 Satz 2 WDO a. F.) mit der Beschwerde anfechtbar. Denn die Entscheidung nach § 99 Abs. 2 WDO hat eine Bedeutung, die über einen inneren Zusammenhang mit der Urteilsfällung hinausgeht. Der Aussetzungsbeschluss wirkt sich hemmend auf das Verfahren aus, um dessen möglichst baldigen Abschluss sich der frühere Soldat mit seinem Begehren bemüht (vgl. 1 DB 16.87 - juris Rn. 6 zu § 67 Abs. 3, § 79 Abs. 1 BDO; a. A. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 114 Rn. 6).
132. Die Beschwerde ist aber unbegründet.
14a) Eine Sachentscheidung des Senats ist nicht wegen eines Verfahrensmangels ausgeschlossen.
15Es kann dahinstehen, ob der Vertreter der Vorsitzenden der Truppendienstkammer während deren Urlaubs die Nichtabhilfeentscheidung nach § 114 Abs. 3 Satz 1 WDO treffen durfte, obwohl über den Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende der Truppendienstkammer bislang nicht entschieden worden ist und ein abgelehnter Richter vor Erledigung des Ablehnungsgesuchs nur solche Handlungen vorzunehmen hat, die keinen Aufschub gestatten (vgl. § 29 Abs. 1 StPO). Selbst wenn darin ein Verfahrensmangel läge, sieht der Senat von einer Zurückverweisung ab (vgl. 2 WDB 11.21 - NVwZ-RR 2022, 995 Rn. 19 m. w. N.). Denn eine Zurückverweisung der Sache durch das Beschwerdegericht ist nur in eng begrenzten Ausnahmefällen zulässig (vgl. Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl. 2024, § 309 Rn. 7; Reichenbach, in: Gercke/Temming/Zöller, StPO, 7. Aufl. 2023, § 309 Rn. 7). Ein solcher Ausnahmefall ist hier nicht gegeben.
16Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Denn eine "Entziehung" des gesetzlichen Richters kann nicht in jeder fehlerhaften Rechtsanwendung gesehen werden; andernfalls müsste jede fehlerhafte Handhabung des einfachen Rechts zugleich als Verfassungsverstoß angesehen werden. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst überschritten, wenn die Auslegung einer Zuständigkeitsnorm oder ihre Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder wenn die richterliche Entscheidung Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. - juris Rn. 33 m. w. N.). Ein derart qualifizierter Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter steht hier nicht in Rede. Insbesondere wurde kein Vertretungsfall allein infolge des Ablehnungsantrags angenommen (dazu VerfGH Baden-Württemberg, Urteil vom - 1 VB 65/17 - juris Rn. 38 ff.). Vielmehr war ausweislich des Vermerks des Vertreters vom der Urlaub der Vorsitzenden der Truppendienstkammer Anlass für das Tätigwerden des Vertreters.
17b) Die Vorsitzende der Truppendienstkammer hat das gerichtliche Disziplinarverfahren in der Sache zu Recht ausgesetzt.
18aa) Nach § 99 Abs. 2 WDO setzt der Vorsitzende des Truppendienstgerichts, wenn der Wehrdisziplinaranwalt mitteilt, dass neue Pflichtverletzungen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden sollen, das gerichtliche Disziplinarverfahren aus, bis der Wehrdisziplinaranwalt nach Ergänzung der Ermittlungen einen Nachtrag zur Anschuldigungsschrift vorlegt oder die Fortsetzung des Verfahrens beantragt. Die Vorschrift stellt die Aussetzung nicht in das Ermessen des Vorsitzenden der Truppendienstkammer, sondern sieht zwingend eine Aussetzung vor, wenn der Wehrdisziplinaranwalt - wie hier mit Schriftsatz vom - mitteilt, dass neue Pflichtverletzungen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden sollen. Dass er angegeben hat, sie sollten "gegebenenfalls" zum Gegenstand einer Nachtragsanschuldigungsschrift gemacht werden, steht dem nicht entgegen, da damit zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass noch ergänzende Ermittlungen anstünden. Bei einer unangemessenen Verzögerung der Vorlage der Nachtragsanschuldigungsschrift kann der frühere Soldat durch Anrufung des Truppendienstgerichts entsprechend § 101 WDO eine Fortsetzung des Verfahrens herbeiführen (vgl. Dau/Schütz, WDO, 8. Aufl. 2022, § 101 Rn. 10).
19bb) Der Aussetzung steht auch nicht entgegen, dass der Aussetzungsantrag auf einen Hinweis der Vorsitzenden der Truppendienstkammer an die Wehrdisziplinaranwaltschaft auf den weiteren Eintrag im Zentralregisterauszug vom zurückgeht. Denn die Herkunft der Informationen, welche die Wehrdisziplinaranwaltschaft zu der Mitteilung nach § 99 Abs. 2 WDO veranlassen, ist nach der Vorschrift für die Rechtmäßigkeit der Aussetzungsentscheidung ohne Belang. Gegen richterliche Hinweise, die aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln, können die Verfahrensbeteiligten - wie geschehen - im Hauptsacheverfahren mit einem Befangenheitsantrag vorgehen. Dass die im Zentralregisterauszug enthaltene Eintragung über ein weiteres Steuerdelikt ein hinreichender Grund für weitere Ermittlungen und eine Nachtragsanschuldigung sein kann, hat der frühere Soldat selbst nicht in Abrede gestellt.
20cc) Der Aussetzungsbeschluss ist schließlich nicht wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufzuheben.
21Zwar folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG, dass die Gerichte selbstgesetzte Äußerungsfristen beachten und mit der Entscheidung bis zum Ablauf der Äußerungsfrist warten müssen, auch wenn sie die Sache für entscheidungsreif halten ( - juris Rn. 16 m. w. N.). Dies hat die Vorsitzende der Truppendienstkammer nicht getan. Sie hat dem Verteidiger des früheren Soldaten mit Verfügung vom Gelegenheit zur Stellungnahme binnen zehn Tagen zum Aussetzungsantrag gegeben, aber den Aussetzungsbeschluss vor Fristablauf am erlassen. Zwar hatte der Verteidiger auf die Verfügung mit Schriftsatz vom bereits reagiert. Dabei hat es sich aber noch nicht um eine Stellungnahme gehandelt, sondern um eine Bitte um Mitteilung, wozu konkret binnen der Frist Stellung genommen werden solle. Die Vorsitzende hätte daher den Eingang der Stellungnahme zur Sache abwarten müssen. Ungeachtet dessen gebietet Art. 103 Abs. 1 GG ein Abwarten der vom Gericht gesetzten Frist auch dann, wenn die Sache nach Eingang der Stellungnahme einer Partei bereits entscheidungsreif erscheint ( - juris Rn. 18 m. w. N.).
22Eine gerichtliche Entscheidung kann jedoch nur dann wegen eines Verstoßes gegen Art. 103 Abs. 1 GG aufgehoben werden, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung des Beteiligten zu einer anderen, ihm günstigeren Entscheidung geführt hätte; nur dann beruht die Entscheidung darauf, dass der Beteiligte nicht gehört wurde ( - BVerfGE 13, 132 <144 f.>). Vorliegend ist jedoch auszuschließen, dass die Vorsitzende der Truppendienstkammer zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre, wenn sie den Ablauf der Frist abgewartet hätte, weil es sich bei der Aussetzungsentscheidung nach § 99 Abs. 2 WDO um eine gebundene Entscheidung handelt, die auf Antrag ergehen muss.
233. Einer Entscheidung über die Kosten des Verfahrens bedurfte es nicht. Diese werden von der zur Hauptsache ergehenden Kostenentscheidung des gerichtlichen Disziplinarverfahrens umfasst (vgl. 2 WDB 4.21 - juris Rn. 20).
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:180624B2WDB6.24.0
Fundstelle(n):
XAAAJ-71359