Schließung von Ladengeschäften des Einzelhandels aus Anlass der Corona-Pandemie
Leitsatz
Nach § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG in der Fassung des Gesetzes vom sind Rechtsverordnungen, die notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 regeln, mit einer allgemeinen Begründung zu versehen; darauf folgt nicht, dass Gerichte der Prüfung der Rechtmäßigkeit einer solchen Verordnung nur Erwägungen und Feststellungen zugrunde legen dürfen, die in der Begründung enthalten sind.
Instanzenzug: Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Az: 2 C 67/21 Urteil
Tatbestand
1Die Antragstellerinnen betreiben bundesweit sogenannte Non-Food-Einzelhandelsgeschäfte und bieten dort Produkte im Mischsortiment - u. a. Dekorations-, Haushalts-, Elektro-, Drogerie- und Geschenkartikel sowie Bekleidung - an. Mit ihren Normenkontrollanträgen wenden sie sich gegen § 7 Abs. 3 der saarländischen Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie (VO-CP) vom (Amtsblatt des Saarlandes Teil I <Amtsbl. I> S. 402, 405).
2Die Verordnung der Landesregierung war gestützt auf (u. a.) § 32 Satz 1 und 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 und § 28a des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz - IfSG) vom (BGBl. I S. 1045), zum damaligen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Art. 4a des Gesetzes vom (BGBl. I S. 3136; im Folgenden: IfSG). Sie galt vom bis zum (§ 14 VO-CP, Art. 4 der Verordnung zur Änderung infektionsrechtlicher Verordnungen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vom <Amtsbl. I S. 402, 416>). Ihr § 7 Abs. 3 lautete:
"(3) Untersagt ist die Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels sowie die Öffnung von Ladenlokalen, deren Betreten zur Entgegennahme einer Dienst- oder Werkleistung erforderlich ist. Von dem Verbot des Satzes 1 ausgenommen sind
1. Lebensmittelhandel, auch Getränkemärkte und Wochenmärkte, deren Warenangebot den zulässigen Einzelhandelsbetrieben entspricht, Direktvermarkter von Lebensmitteln,
2. Abhol- und Lieferdienste,
3. Tierbedarfsmärkte und Futtermittelmärkte,
4. Banken und Sparkassen,
5. Apotheken, Drogeriemärkte und Sanitätshäuser, Reformhäuser,
6. Optiker und Hörgeräteakustiker,
7. Post und sonstige Annahmestellen des Versandhandels,
8. Tankstellen, Raststätten,
9. Reinigungen und Waschsalons,
10. Zeitungskioske, Zeitungsverkaufsstellen,
11. Online-Handel,
12. Babyfachmärkte,
13. Werkstatt und Reparaturannahmen,
14. Heilmittelerbringer und Gesundheitsberufe,
15. Großhandel,
16. karitative Einrichtungen.
Mischsortimente in SB-Warenhäusern oder Vollsortimentgeschäften sowie in Discountern und Supermärkten und sonstigen Ladengeschäften dürfen verkauft werden, wenn der erlaubte Sortimentsteil im gesamten Warenangebot wesentlich überwiegt (Schwerpunktprinzip). Diese Betriebe dürfen alle Sortimente vertreiben, die sie gewöhnlich - auch in Form von Aktionsangeboten - verkaufen. Ein Bewerben über das Betriebsgelände hinaus von Warenarten oder Sortimenten, die nicht unter die Nummern 1 bis 10 und 12 bis 14 des Satzes 2 fallen, ist diesen Betrieben allerdings untersagt. Eine Ausweitung des Angebots über das zum geltende Angebot hinaus ist grundsätzlich nicht erlaubt."
3Zur Begründung ihrer am beim Oberverwaltungsgericht des Saarlandes anhängig gemachten Normenkontrollanträge haben die Antragstellerinnen unter anderem vorgetragen, durch die Betriebsschließungen sei unverhältnismäßig in ihre Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingegriffen worden. Darüber hinaus habe eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung vorgelegen. Es sei nicht erkennbar, aus welchen Gründen Lebensmittelhändler auch ein Sortiment unbeschränkt hätten verkaufen dürfen, das nach den Kriterien des § 7 Abs. 3 VO-CP an sich nicht habe angeboten werden dürfen.
4Mit Urteil vom hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass § 7 Abs. 3 VO-CP in der Fassung vom unwirksam war. Die Normenkontrollanträge seien zulässig. Die Antragstellerinnen hätten ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des § 7 Abs. 3 VO-CP vom , denn die begehrte Feststellung habe eine präjudizielle Wirkung für Entschädigungs- bzw. Schadensersatzansprüche. Die Anträge seien auch begründet. § 7 Abs. 3 VO-CP erweise sich wegen der gleichheitswidrigen Belastung der Antragstellerinnen gegenüber den privilegierten Einzelhandelsbetrieben als materiell rechtswidrig. Die Zulassung des Verkaufs von Mischsortimenten in § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP habe aus Sicht der Antragstellerinnen und anderer sortimentsbezogen betroffener Einzelhändler gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Bei der Ermittlung der Gleichheits- oder Ungleichheitskriterien im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG komme es hier nur auf seuchenrechtlich relevante Tatbestände, Umstände und Gesichtspunkte am Maßstab des Ziels an, mit den streitgegenständlichen - befristeten - Öffnungsverboten eine weitere Ausbreitung des Corona-Virus zu verhindern. Eine seuchenrechtlich nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung habe die Mischsortimentsklausel des § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP jedenfalls für die spezialisierten Einzelhändler bedeutet, die - wie auch die Antragstellerinnen - ein Warensortiment handelten, das nicht sie, demgegenüber aber die großen SB-Warenhäuser, Vollsortimenter, Discounter und Supermärkte hätten bedienen können.
5Mit seiner Revision macht der Antragsgegner geltend, die Normenkontrollanträge seien unzulässig. Es fehle am Feststellungsinteresse der Antragstellerinnen, denn ein Schadensersatz- oder Entschädigungsanspruch sei offensichtlich ausgeschlossen. Die Antragstellerinnen legten zudem den ihnen durch die Verordnung entstandenen Schaden nicht hinreichend dar. Die Anträge seien auch unbegründet. Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Mischsortimentsklausel des § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP habe zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung geführt, verstoße gegen Bundesrecht. Die von den Betriebsschließungen ausgenommenen Ladengeschäfte hätten der Deckung eines häufiger auftretenden und in der Regel durch schnellen Einkauf zu befriedigenden Bedarfs und damit der Grundversorgung im weiteren Sinne gedient. Dass diesen Einzelhandelsbetrieben auch der Verkauf von nicht privilegierten Warensortimenten erlaubt gewesen sei, bedeute keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG. Der Verordnungsgeber habe annehmen dürfen, dass der zusätzliche Verkauf von nicht privilegierten Warensortimenten in den vom Öffnungsverbot ausgenommenen Geschäften nicht zu einer Erhöhung des Ansteckungsrisikos führe; es sei grundsätzlich nicht zu einer Erhöhung der Kontakte zwischen Personen gekommen.
6Die Antragstellerinnen verteidigen das angegriffene Urteil und treten dem Revisionsvorbringen entgegen.
Gründe
7Die zulässige Revision des Antragsgegners ist begründet. Das angegriffene Urteil beruht auf der Verletzung revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO). Allerdings geht die Rüge des Antragsgegners fehl, die Normenkontrollanträge seien bereits unzulässig (1.). Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP vom habe gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, stellt sich aber als bundesrechtswidrig dar (2.). Ob die Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig erweist, kann der Senat mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nicht entscheiden (3.). Der festgestellte Bundesrechtsverstoß führt damit gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (4.).
81. Die gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO statthaften Normenkontrollanträge sind zulässig. Die Antragstellerinnen haben - was insoweit allein streitig ist - das erforderliche berechtigte Interesse an der Feststellung, dass § 7 Abs. 3 VO-CP unwirksam war.
9a) Ist die angegriffene Norm - wie hier - während der Anhängigkeit eines Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann (stRspr, vgl. 3 CN 5.22 - NVwZ 2023, 1846 Rn. 15 und vom - 3 CN 1.22 - BVerwGE 179, 168 Rn. 13, jeweils m. w. N.). Das ist hier der Fall. Innerhalb der Geltungsdauer der Verordnung war Rechtsschutz in einem Hauptsacheverfahren nicht zu erlangen. Der von den Antragstellerinnen geltend gemachte Eingriff in ihre durch Art. 12 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 3 GG gewährleistete Berufsfreiheit hatte ein Gewicht, das die nachträgliche Klärung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Rechtsvorschrift rechtfertigt. Aufgrund der Vorschrift durften sie in der Zeit vom 22. Februar bis ihre Ladengeschäfte nicht öffnen. Dass sie in der Rechtsform einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung bzw. einer Kommanditgesellschaft beruflich tätig sind, führt nicht zu einer anderen Bewertung (vgl. 3 CN 4.22 - BVerwGE 178, 298 Rn. 18 <Gesellschaft bürgerlichen Rechts> und - 3 CN 6.22 - BVerwGE 178, 322 Rn. 16 <GmbH>; vgl. auch - NJW 2022, 1672 Rn. 25 <GmbH>).
10b) Auf die Frage, ob die Antragstellerinnen zudem im Hinblick auf die Präjudizwirkung der begehrten Feststellung für einen Staatshaftungsprozess ein berechtigtes Interesse haben, kommt es damit nicht an. Ein solches Präjudizinteresse ist allerdings nicht bereits deshalb zu verneinen, weil ein Entschädigungs- oder Schadensersatzanspruch für einen Eingriff durch eine rechtswidrige Verordnungsvorschrift von vornherein ausgeschlossen wäre. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst der Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs zwar nicht die Fälle legislativen Unrechts, in denen durch eine rechtswidrige oder verfassungswidrige gesetzliche Norm oder auf ihrer Grundlage - u. a. durch eine untergesetzliche Norm - in eine durch Art. 14 GG geschützte Rechtsposition eingegriffen wird. Wie der - (BGHZ 238, 105 Rn. 29) klargestellt hat, gilt dies jedoch nicht, wenn der Eingriff durch rechtswidrige untergesetzliche Normen erfolgt, die - wie die Antragstellerinnen hier geltend machen - an eigenen, nicht auf ein Parlamentsgesetz zurückgehenden Nichtigkeitsgründen leiden.
112. Mit seiner Annahme, § 7 Abs. 3 VO-CP habe gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen, hat das Oberverwaltungsgericht Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Zwar hat es rechtsfehlerfrei das Vorliegen einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG bejaht (a)). Soweit es angenommen hat, dass sie nicht zu rechtfertigen gewesen sei, hat es indes gegen Bundesrecht verstoßen (b)).
12a) Das Oberverwaltungsgericht hat § 7 Abs. 3 VO-CP dahin ausgelegt, dass SB-Warenhäuser, Vollsortimentgeschäfte, Discounter und Supermärkte, in denen der erlaubte Sortimentsteil im gesamten Warenangebot wesentlich überwog, öffnen und auch die nicht von der Ausnahme erfassten Sortimentsteile verkaufen durften, während spezialisierte Einzelhandelsgeschäfte - wie die der Antragstellerinnen - ohne einen überwiegenden erlaubten Sortimentsteil nicht öffnen und damit solche Sortimentsteile nicht verkaufen durften. An diese Auslegung des nach § 137 Abs. 1 VwGO nicht revisiblen Landesrechts ist der Senat gemäß § 173 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 560 ZPO gebunden. Hiervon ausgehend begegnet es keinen Bedenken, dass das Oberverwaltungsgericht eine Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG durch die sogenannte Mischsortimentsklausel in § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP bejaht hat. SB-Warenhäuser, Vollsortimenter, Discounter und Supermärkte mit wesentlich überwiegendem erlaubtem Sortimentsanteil einerseits und spezialisierte Einzelhandelsgeschäfte andererseits gehören jeweils zur Gruppe der Ladengeschäfte des Einzelhandels; ihre Sortimente weisen im Hinblick auf von ihnen gehandelte nicht privilegierte Waren Überschneidungen auf. Sie sind insoweit vergleichbar. Eine Ungleichbehandlung lag ausgehend von der Auslegung des Landesrechts durch das Oberverwaltungsgericht darin, dass nach § 7 Abs. 3 Satz 3 VO-CP die Einzelhandelsgeschäfte, die nach dem Katalog des § 7 Abs. 3 Satz 2 VO-CP öffnen durften, auch nicht privilegierte Waren im stationären Handel verkaufen durften, während die nicht von den Schließungen ausgenommenen Einzelhandelsgeschäfte hieran gehindert waren.
13b) Das Oberverwaltungsgericht hat mit der Bewertung, die dargestellte Ungleichbehandlung sei nicht gerechtfertigt gewesen, gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Zwar ist es von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen (aa)), und auch seine Annahme, es komme bei der Prüfung der in Rede stehenden Mischsortimentsklausel nur auf "seuchenrechtlich relevante" Gründe an, begegnet keinen Bedenken (bb)). Soweit es das Vorliegen derartiger Gründe verneint hat, hat es aber Art. 3 Abs. 1 GG verletzt (cc)).
14aa) Art. 3 Abs. 1 GG gebietet dem Normgeber, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen können. Dabei verwehrt Art. 3 Abs. 1 GG dem Normgeber nicht jede Differenzierung. Differenzierungen bedürfen jedoch stets der Rechtfertigung durch Sachgründe, die dem Differenzierungsziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind (BVerfG, Beschlüsse vom - 1 BvR 2035/07 - BVerfGE 129, 49 = juris Rn. 63 f., 68 f. und vom - 1 BvR 469/20 u. a. - BVerfGE 162, 378 Rn. 155 f., jeweils m. w. N.; 3 CN 6.22 - BVerwGE 178, 322 Rn. 75). Davon ist auch das Oberverwaltungsgericht ausgegangen (UA S. 15 f.).
15Seine weitere Annahme, dieser Maßstab gelte auch für den Verordnungsgeber, dessen Gestaltungsspielraum aber nur in dem von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage abgesteckten Rahmen bestehe (UA S. 16 f.), begegnet ebenfalls keinen Bedenken; sie entspricht den Anforderungen des Art. 80 Abs. 1 GG (vgl. u. a. - BVerfGE 150, 1 Rn. 209). Ohne Bundesrechtsverstoß hat das Oberverwaltungsgericht insoweit § 28a Abs. 6 Satz 2 IfSG herangezogen, wonach bei Entscheidungen über Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit einzubeziehen und zu berücksichtigen sind, soweit dies mit dem Ziel einer wirksamen Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) vereinbar ist. Dass es nicht auch auf § 28a Abs. 6 Satz 3 IfSG Bezug genommen hat, ist unschädlich, weil sich bereits aus § 28a Abs. 6 Satz 2 IfSG ergibt, dass auch soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Auswirkungen von Maßnahmen Ungleichbehandlungen rechtfertigen können.
16bb) Hiervon ausgehend ist es nicht zu beanstanden, dass das Oberverwaltungsgericht angenommen hat, es komme hier bei der Ermittlung der Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Ladengeschäften nur auf seuchenrechtlich relevante Tatbestände, Umstände und Gesichtspunkte am Maßstab des Ziels an, mit den streitgegenständlichen Öffnungsverboten eine weitere Ausbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu verhindern. Soweit der Begriff "seuchenrechtlich relevant" als "infektiologisch bedeutsam" zu verstehen sein sollte, begegnet dies im Hinblick auf die streitige Mischsortimentsklausel keinen Bedenken; soziale, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Gründe sind für diese Klausel weder geltend gemacht worden noch ersichtlich. Die Annahme, es komme für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung maßgeblich auf Unterschiede im Hinblick auf die Weiterverbreitung von COVID-19 an, lässt vor diesem Hintergrund keinen Rechtsfehler erkennen.
17cc) Ein materiell-rechtlicher Fehler (vgl. 1 B 66.21 - juris Rn. 11; Kraft, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 108 Rn. 53) und damit ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt aber darin, dass das Oberverwaltungsgericht das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes auf zu schmaler Tatsachengrundlage verneint hat.
18(1) Von welchen Tatsachen das Oberverwaltungsgericht bei seiner Bewertung ausgegangen ist, ergibt sich aus dem Urteil nicht (UA S. 17 f.). Tatsächliche Feststellungen zum Vorliegen oder Fehlen infektiologischer Unterschiede zwischen der Möglichkeit des Verkaufs nicht privilegierter Sortimente in den vom Verbot des § 7 Abs. 3 Satz 1 VO-CP ausgenommenen Geschäften des Einzelhandels einerseits und dem Angebot entsprechender Sortimente in hierfür zu öffnenden spezialisierten Einzelhandelsgeschäften andererseits, die die Annahme eines fehlenden sachlichen Grundes für die festgestellte Ungleichbehandlung tragen könnten, hat das Oberverwaltungsgericht nicht getroffen. Die im Zusammenhang mit Zweifeln an der Wirksamkeit des Werbeverbots in § 7 Abs. 3 Satz 5 VO-CP getroffene Feststellung, es sei bekannt gewesen, dass Discounter im Non-Food-Bereich besonders attraktive, wöchentlich wechselnde Sonderangebote vorgehalten hätten, bietet keine ausreichende Grundlage für die Beurteilung, ob bzw. inwieweit Unterschiede im Infektionsgeschehen die in Rede stehende Ungleichbehandlung rechtfertigen konnten.
19(2) Das Oberverwaltungsgericht konnte nicht deshalb davon absehen, sein Ergebnis auf eine breitere Tatsachengrundlage zu stützen, weil die Begründung zur Verordnung vom selbst keinen sachlichen Grund für die vom Oberverwaltungsgericht festgestellte Ungleichbehandlung durch die Mischsortimentsklausel anführte. Nach § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG sind Rechtsverordnungen, die nach § 32 in Verbindung mit § 28 Abs. 1 und § 28a Abs. 1 IfSG erlassen werden, mit einer allgemeinen Begründung zu versehen und zeitlich zu befristen. Aus der Begründungspflicht des § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG folgt nicht, dass Gerichte der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Verordnungsvorschriften nur solche Erwägungen und Feststellungen zugrunde legen dürfen, die in der Verordnungsbegründung enthalten sind. Der Wortlaut der Vorschrift enthält keine Anhaltspunkte für eine Beschränkung der Rechtmäßigkeitsprüfung auf in der Begründung angeführte Gesichtspunkte; eine ausdrückliche Regelung wäre angesichts des Ausnahmecharakters einer solchen Regelung aber zu erwarten gewesen. Auch der Umfang der geforderten Begründung spricht gegen ein solches Verständnis. Verlangt ist lediglich eine "allgemeine Begründung"; in der Gesetzesbegründung ist hierzu ausgeführt, es sei zu erläutern, in welcher Weise die Schutzmaßnahmen im Rahmen eines Gesamtkonzepts der Infektionsbekämpfung dienten; eine empirische und umfassende Erläuterung sei nicht geschuldet (BT-Drs. 19/24334 S. 74). Dass bei einer späteren gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vorschriften allein die "allgemeine Begründung" heranzuziehen sein sollte, ist fernliegend. Aus Sinn und Zweck des § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG ergibt sich nichts Anderes. Der Zweck der Begründungspflicht, die wesentlichen Entscheidungsgründe für die getroffenen Maßnahmen transparent zu machen und damit insbesondere der Verfahrensrationalität wie auch der Legitimationssicherung zu dienen (BT-Drs. 19/24334 S. 74), kann auch ohne Einschränkung der gerichtlichen Prüfung erreicht werden.
20(3) Fehlen mithin hinreichende tatsächliche Feststellungen zum Vorliegen eines die Ungleichbehandlung rechtfertigenden Grundes, kann der erkennende Senat nicht entscheiden, ob § 7 Abs. 3 VO-CP gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen hat und damit unwirksam war.
213. Ebenso wenig kann der Senat abschließend entscheiden, ob die angefochtene Entscheidung sich aus anderen Gründen als richtig erweist (§ 144 Abs. 4 VwGO).
22a) Allerdings lässt die Annahme des Oberverwaltungsgerichts, die Vorschriften der § 32 Satz 1 und 2, § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG seien eine wirksame Ermächtigungsgrundlage für § 7 Abs. 3 VO-CP gewesen, Rechtsfehler nicht erkennen. Anhaltspunkte für verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Heranziehung der genannten Gesetzesvorschriften als Grundlage für den Erlass des § 7 Abs. 3 VO-CP sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
23b) Ob indes die von den Antragstellerinnen geltend gemachten weiteren Einwände gegen die Wirksamkeit des § 7 Abs. 3 VO-CP durchgreifen, kann der Senat im Hinblick auf die vom Oberverwaltungsgericht vorzunehmende Auslegung irrevisiblen Landesrechts und mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
244. Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ist damit nach § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:180424U3CN11.22.0
Fundstelle(n):
YAAAJ-71188