BGH Beschluss v. - 3 StR 450/23

Ergänzung der Urteilsgründe im Falle der abgekürzten Urteilsbegründung in Unkenntnis der Rechtsmitteleinlegung

Leitsatz

1. Ist die Revision wirksam elektronisch übermittelt worden, wegen technischer Störungen aber nicht zu den Sachakten gelangt, und hat das erkennende Gericht in berechtigtem Vertrauen auf die Rechtskraft der Entscheidung die Urteilsgründe abgekürzt abgefasst, kann es diese entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzen, wenn es vom Eingang des Rechtsmittels erfährt.

2. Sofern dem Gericht zu diesem Zeitpunkt die Akten nicht mehr vorliegen, beginnt die Frist zur Absetzung des ergänzten Urteils mit erneutem Eingang der Akten.

Gesetze: § 267 Abs 4 S 4 StGB

Instanzenzug: LG Mainz Az: 1 Ks 3111 Js 9970/22

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Angeklagte beanstandet mit seiner Revision die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg, da die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs. 2 StPO).

2Näherer Erörterung bedarf allein die Beanstandung, das Urteil sei nicht innerhalb der gesetzlichen Frist zu den Akten gebracht worden (§ 338 Nr. 7 StPO).

31. Der Rüge liegt der folgende Verfahrensablauf zugrunde:

4Das Urteil wurde am , dem sechsten Verhandlungstag, verkündet. Die dagegen aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach der Verteidigerin am übermittelte Revision des Angeklagten ging zwar am selben Tag im elektronischen „Eingangskorb“ der Justiz ein, konnte jedoch aufgrund einer technischen Störung nicht angezeigt werden und gelangte nicht zur Geschäftsstelle des Landgerichts sowie zu den Gerichtsakten. Die im Sinne des § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten schriftlichen Urteilsgründe lagen am auf der Geschäftsstelle vor. Diese wurde erst am per E-Mail von einer Projektgruppe des Präsidenten des Oberlandesgerichts über den Schriftsatz vom informiert. Die daraufhin bei der Staatsanwaltschaft angeforderten Sachakten gingen am beim Landgericht ein. Die sodann ergänzten Urteilsgründe gelangten am zu den Akten.

52. Die Beanstandung eines Verstoßes gegen § 338 Nr. 7 StPO hat jedenfalls in der Sache keinen Erfolg. Das Landgericht hat die Urteilsgründe in zulässiger Weise entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzt, so dass es keiner abschließenden Klärung bedarf, ob sich der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO auf den Fall erstreckt, in dem ein abgekürztes Urteil fristgerecht zu den Akten gebracht worden ist und später ergänzt wird (s. ablehnend LR/Stuckenberg, StPO, 27. Aufl., § 267 Rn. 190), oder ob sich dies lediglich auf die vom Revisionsgericht zu prüfende Urteilsfassung auswirkt (vgl. dazu , BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 4; [3] 121 Ss 118/22 [52/22], StraFo 2022, 471).

6a) Ist die Revision wirksam elektronisch übermittelt worden, wegen technischer Störungen aber nicht zu den Sachakten gelangt, und hat das erkennende Gericht in berechtigtem Vertrauen auf die Rechtskraft der Entscheidung die Urteilsgründe abgekürzt abgefasst, kann es diese entsprechend § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ergänzen, wenn es vom Eingang des Rechtsmittels erfährt. Sofern ihm zu diesem Zeitpunkt die Akten nicht mehr vorliegen, beginnt die Frist zur Absetzung des ergänzten Urteils mit erneutem Eingang der Akten. Eine solche - in besonderen Konstellationen bereits anerkannte - analoge Anwendung des § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ist angesichts der vergleichbaren Sachlage und einer bestehenden, vom Gesetzgeber nicht beabsichtigten Regelungslücke geboten (vgl. allgemein BGH, Beschlüsse vom - 5 StR 211/01, NStZ-RR 2002, 257, 261 [bei Becker]; vom - 5 StR 114/08, BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 2; vom - 2 StR 405/11, NStZ-RR 2012, 118; vom - 2 StR 267/13, BGHSt 59, 21 Rn. 25; vom - 3 StR 397/17, juris Rn. 3).

7aa) Obschon im Grundsatz die Unabänderlichkeit des Urteils zu beachten ist (vgl. , juris), besteht in Ausnahmefällen die Möglichkeit der Ergänzung, um zu verhindern, dass ein Urteil nur deshalb aufgehoben wird, „weil die zur Nachprüfung durch das Revisionsgericht erforderlichen Feststellungen fehlen, deren Angabe das Gericht bei der Urteilsabsetzung für entbehrlich halten durfte“ (so für den Fall der Wiedereinsetzung BT-Drucks. 7/551 S. 82). Konnte das Gericht von der Revisionseinlegung keine Kenntnis haben und daher die Voraussetzungen für ein abgekürztes Urteil als gegeben erachten, liegt eine ebensolche Sachlage vor, wie sie der Gesetzgeber mit § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO regeln wollte. Dass er im Zuge der Gesetzesänderungen zur elektronischen Aktenführung und zum elektronischen Rechtsverkehr insoweit - anders als für andere Konstellationen (s. etwa § 32a Abs. 6, § 32d Satz 3 f. StPO; dazu BT-Drucks. 18/9416 S. 47 f., 51) - keine Sonderregelung getroffen hat, lässt sich sowohl nach der Gesetzessystematik als auch nach den Gesetzesmaterialien nicht als bewusste, eine analoge Anwendung des § 267 Abs. 4 Satz 4 StPO ausschließende Entscheidung verstehen.

8Eine entsprechende Anwendung ist überdies deshalb angezeigt, weil ansonsten die der Prozessökonomie dienende Möglichkeit der Urteilsabkürzung nach § 267 Abs. 4 Satz 1 StPO faktisch erheblich eingeschränkt werden könnte, wenn die Gerichte erwarten müssten, abgekürzte Urteilsgründe im Falle eines ihnen infolge technischer Fehler nicht bekannten Rechtsmittels nicht mehr ergänzen zu können, und daher vorsorglich davon keinen Gebrauch machen.

9Allerdings ist eine entsprechende Anwendung wegen des Ausnahmecharakters der Vorschrift auf eng umgrenzte Sachverhalte zu beschränken, in denen das für die Urteilsabfassung zuständige Gericht von der Rechtsmitteleinlegung Kenntnis weder hatte noch nach den konkreten Umständen hätte haben müssen.

10bb) Soweit eine Ergänzung der Urteilsgründe in der dargelegten Situation in Betracht kommt, beginnt die Absetzungsfrist nach § 267 Abs. 4 Satz 4, § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO erst ab dem Zeitpunkt, zu welchem dem Gericht die Akten vorliegen. Hierfür ist ebenso wie im Fall der Wiedereinsetzung nach Versäumung der Revisionseinlegungsfrist maßgeblich, dass dem Tatgericht die Zeit zur Urteilsabsetzung tatsächlich zur Verfügung stehen soll (vgl. im Einzelnen , BGHSt 52, 349 Rn. 14). Befinden sich die Akten bei Kenntniserlangung noch bei Gericht, beginnt die Frist sogleich zu laufen (s. , BGHR StPO § 267 Abs. 4 Ergänzung 4 Rn. 5).

11b) Daran gemessen hat das Landgericht die Urteilsgründe ordnungsgemäß ergänzt. Die Revision ist form- und fristgerecht gemäß § 341 Abs. 1, § 32d Satz 2 StPO eingelegt worden, da der Eingang bei dem Empfänger-Intermediär genügt (vgl. , juris Rn. 2). Hiervon hat das Landgericht weder Kenntnis gehabt noch haben können, weil das von der Verteidigerin elektronisch übermittelte Dokument wegen einer speziellen technischen Störung der von der Justiz genutzten Infrastruktur nicht korrekt verarbeitet wurde. Nachdem es von der Revision erfahren hatte und die Akten binnen einer Woche am bei ihm eingegangen waren, hat es innerhalb der nach § 267 Abs. 4 Satz 4, § 275 Abs. 1 Satz 2 StPO maßgeblichen Frist von - hier - sieben Wochen die ergänzten Urteilsgründe am zu den Akten gebracht.

123. Es besteht kein Anlass, über eine Kompensation für eine etwaige Verfahrensverzögerung nach Revisionseinlegung zu befinden, weil eine entsprechende Rüge trotz hierzu bestehender Gelegenheit infolge erneuter Urteilszustellung am nicht erhoben worden ist (vgl. , BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrensverzögerung 32 Rn. 10 ff.).

Schäfer                    Paul                    Hohoff

              Anstötz                 Voigt

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:150524B3STR450.23.0

Fundstelle(n):
NJW 2024 S. 10 Nr. 30
NJW 2024 S. 2340 Nr. 32
LAAAJ-70741