Besorgnis der Befangenheit bei einem Richter, dessen Ehepartner an der streitgegenständlichen Entscheidung mitgewirkt hat
Gesetze: § 54 Abs 1 VwGO, § 42 Abs 2 ZPO, § 45 Abs 1 ZPO, § 48 ZPO
Instanzenzug: Sächsisches Oberverwaltungsgericht Az: 5 A 419/22 Urteilvorgehend Az: 6 K 900/19 Urteil
Gründe
I
1Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung einer Abwasserabgabe. Das Oberverwaltungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil geändert und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
2Mit dienstlicher Erklärung vom hat der Richter am Bundesverwaltungsgericht ... angezeigt, dass seine Ehefrau an dem angefochtenen Urteil mitgewirkt hat, ohne Berichterstatterin zu sein. Nach seiner Erinnerung habe ihm seine Frau vor der mündlichen Verhandlung davon berichtet, dass ihr Senat über die abwasserabgabenrechtliche Behandlung von Kleineinleitungen der Gemeinden oder Abwasserzweckverbände zu entscheiden habe; ein Meinungsaustausch dazu habe seiner Erinnerung nach nicht stattgefunden.
3Die Beteiligten hatten Gelegenheit, zu der dienstlichen Äußerung Stellung zu nehmen. Der Beklagte hat sich mit Schriftsatz vom geäußert und auf den denkbaren Schein fehlender richterlicher Unvoreingenommenheit hingewiesen. Der Kläger hat von der Möglichkeit zur Stellungnahme keinen Gebrauch gemacht.
II
41. Der Senat entscheidet anlässlich der Selbstanzeige eines Senatsmitglieds über dessen Befangenheit gemäß § 54 Abs. 1 VwGO i. V. m. §§ 48 und 45 Abs. 1 ZPO ohne Mitwirkung des betreffenden Richters in der bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung vorgesehenen Besetzung von drei Richtern (§ 10 Abs. 3 VwGO).
52. Wegen Besorgnis der Befangenheit ist ein Richter an der Mitwirkung und Entscheidung eines Streitfalls gehindert, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen. Tatsächliche Befangenheit oder Voreingenommenheit ist nicht erforderlich. Die Vorschriften über die Befangenheit von Richtern bezwecken, bereits den bösen Schein, d. h. den möglichen Eindruck fehlender Unvoreingenommenheit und mangelnder Objektivität zu vermeiden. Maßgeblich ist, ob aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln (stRspr; vgl. nur u. a. - BVerfGE 88, 17 <22 f.>; Beschluss vom - 1 BvR 471/10 u. a. - BVerfGE 135, 248 Rn. 24; 6 C 129.74 - BVerwGE 50, 36 <38 f.>; Beschluss vom - 2 VR 9.23 - juris Rn. 5 m. w. N.). Solche auf objektiven Gründen basierenden Zweifel können sich aus dem Verhalten des Richters innerhalb oder außerhalb des konkreten Rechtsstreits, aus einer besonderen Beziehung des Richters zum Gegenstand des Rechtsstreits oder den Prozessbeteiligten oder - wie vorliegend - aus nahen persönlichen Beziehungen zwischen an derselben Sache beteiligten Richtern ergeben (vgl. - NJW-RR 2023, 431 Rn. 5 m. w. N.).
6Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs stellt die Mitwirkung des Ehegatten eines Rechtsmittelrichters an der angefochtenen Entscheidung allein noch keinen Ablehnungsgrund gemäß § 42 Abs. 2 ZPO im Hinblick auf dessen Beteiligung an der Entscheidung im Rechtsmittelverfahren dar ( - NJW 2004, 163 f.; kritisch dazu etwa Feiber, NJW 2004, 650 f.; Vollkommer, EWiR 2004, 206). In jüngerer Zeit hat der Bundesgerichtshof allerdings offengelassen, ob hieran festzuhalten ist ( - MDR 2020, 625 Rn. 13 und Beschluss vom - I ZR 142/22 - NJW-RR 2023, 431 Rn. 8). Jedenfalls könne es den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit begründen, wenn der Richter der Vorinstanz nicht lediglich als Mitglied eines Kollegialgerichts an der angefochtenen Entscheidung mitgewirkt, sondern diese als Einzelrichter allein verantwortet hat ( - MDR 2020, 625 Rn. 13). Gleiches soll gelten, wenn der Ehegatte an einem Beschluss mitgewirkt hat, der nach der gesetzlichen Regelung nur einstimmig gefasst werden kann ( - NJW-RR 2023, 431 Rn. 10).
7Das Bundessozialgericht hat Bedenken gegen die ältere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs geäußert; es stellt bei der Beurteilung auf weitere Gesichtspunkte ab (vgl. zur Rüge des Verstoßes gegen die Prozessordnung B 9a VG 6/05 B - Rn. 8 unter Hinweis auf die Kritik an der Auffassung des BGH im Schrifttum). Zumindest in Revisionsverfahren vor einem obersten Bundesgericht hält es angesichts der Komplexität der Verfahren und der Intensität der Befassung Zweifel an der Unvoreingenommenheit des Richters, dessen Ehepartner an der vorinstanzlichen Entscheidung mitgewirkt hat, für nachvollziehbar ( - Rn. 7 m. w. N.).
8Das vorliegende Verfahren gibt keinen Anlass für eine Entscheidung zwischen diesen Rechtsprechungsansätzen oder für eine abschließende Bewertung der Frage, ob im Falle der Mitwirkung des Ehegatten des Rechtsmittelrichters an der angefochtenen Entscheidung schon allein das eheliche Näheverhältnis eine Besorgnis der Befangenheit begründen kann. Denn die Annahme eines Ablehnungsgrundes ist hier jedenfalls auf der Grundlage einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Falles gerechtfertigt.
9Das streitgegenständliche Revisionsverfahren erfordert - im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - eine intensive Auseinandersetzung mit der angegriffenen Entscheidung. Dies gilt gerade angesichts des Prüfungsmaßstabs der Revision, der gemäß § 137 Abs. 1 VwGO auf die Frage einer (Bundes-)Rechtsverletzung durch das vorinstanzliche Urteil gerichtet ist. Hinzu kommt, dass das Verfahren laut der dienstlichen Erklärung des Richters zwischen den Eheleuten zumindest gesprächsweise thematisiert worden ist (vgl. zu diesem Aspekt etwa ThürVerfGH, Beschluss vom - 4/21, 5/21 - juris Rn. 14).
10Diese Umstände sind - als zusätzliche besondere Gegebenheiten im Sinne der neueren Judikatur des Bundesgerichtshofs - geeignet, die Bedeutung des ehelichen Näheverhältnisses aus objektiver Sicht zu verstärken und den Schein einer möglicherweise fehlenden Unvoreingenommenheit zu begründen. Der Umstand der Mitwirkung der Ehefrau kann zumindest unbewusst zu einer gewissen Solidarisierungsneigung oder - in dem Bemühen, eine derartige Haltung gerade zu vermeiden - zu einer überkritischen Distanz zu der Entscheidung der Vorinstanz führen. Vor diesem Hintergrund sind aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei die vom Beklagten zum Ausdruck gebrachten Bedenken hinsichtlich der Unvoreingenommenheit des Richters am Bundesverwaltungsgericht ... gerechtfertigt.
11Da die Entscheidung nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof oder Bundessozialgericht steht, bedarf es keiner Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes (Gesetz vom - BGBl. I S. 661).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerwG:2024:170624B9C3.23.0
Fundstelle(n):
UAAAJ-70336