BGH Urteil v. - 1 StR 426/23

Revision in Strafsachen: Rüge der nicht ordnungsgemäßen Einführung von Urkunden im Selbstleseverfahren; Bindungswirkung einer ausländischen Entsendebescheinigung im Strafverfahren wegen Vorenthaltens von Arbeitsentgelt

Gesetze: § 238 Abs 2 StPO, § 344 Abs 2 S 2 StPO, § 266a StGB, Art 103 Abs 2 GG

Instanzenzug: LG Stade Az: 600 KLs 1/20

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten D.   wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in 23 rechtlich zusammentreffenden Fällen, Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 134 Fällen sowie Steuerhinterziehung in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn im Übrigen freigesprochen. Ferner hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.215 Euro angeordnet. Den Angeklagten S.         hat die Strafkammer wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt [von Ausländern] in 23 rechtlich zusammentreffenden Fällen sowie Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 72 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn im Übrigen freigesprochen.

2Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, vom Generalbundesanwalt vertretenen und auf die Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revisionen die Verurteilung der Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) in weiteren Fällen beziehungsweise wegen Beihilfe hierzu. Der Angeklagte S.         wendet sich mit seinem Rechtsmittel gegen seine Verurteilung. Sowohl die Revisionen der Staatsanwaltschaft als auch diejenige des Angeklagten S.         sind unbegründet.

I.

31. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte D.  Inhaber eines Bauunternehmens in der Rechtsform einer GmbH, der Angeklagte S.          im Inland ansässiger Prokurist der nach litauischem Recht gegründeten UAB K.     . Diese und die ebenfalls nach litauischem Recht gegründete UAB L.     arbeiteten für den Angeklagten D.   als Subunternehmer. Zur Erfüllung der Aufträge bedienten sie sich neben anderen Arbeitnehmern auch Drittstaatlern ohne Aufenthaltstitel, die in Wohnungen des Angeklagten D.   lebten und diesem dafür Miete zahlten. Zudem ermöglichten die UAB K.    und die UAB L.    dem Angeklagten D.   durch Abdeckrechnungen Schwarzlohnzahlungen an Arbeitnehmer seines eigenen Unternehmens. Für den überwiegenden Teil der Beschäftigten der UAB K.    und der UAB L.     lagen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum litauische Entsendebescheinigungen vor, die erst später widerrufen wurden.

42. Die Verurteilungen der Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehen sich – abweichend von der rechtlichen Wertung der Anklage – ausschließlich auf die nicht abgeführten Beiträge und Steuern hinsichtlich der Arbeitnehmer der D.   GmbH. Nach der Würdigung des Landgerichts war der Angeklagte D.   nicht Arbeitgeber der Beschäftigten der UAB K.   und der UAB L.   . Denn die Strafkammer ist davon ausgegangen, die UAB K.    und die UAB L.    seien wirksam gegründete Unternehmen mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit, die mit ihren Beschäftigten rechtsgültige Arbeitsverträge geschlossen hätten. Zudem hat sie angenommen, den Entsendebescheinigungen komme eine Tatbestandswirkung zu, die eine Behandlung als in Deutschland sozialversicherungspflichtig ausschließe. Demgemäß hat das Landgericht die Angeklagten von weiteren Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt freigesprochen, die sich allein auf die Beschäftigten der UAB K.    und der UAB L.     bezogen haben. Auch von dem Tatvorwurf der Urkundenfälschung hat sich die Strafkammer keine Überzeugung bilden können und die Angeklagten deswegen freigesprochen. Gleiches gilt, soweit dem Angeklagten D.   in der Anklageschrift die Hinterziehung von Kapitalertragsteuer im Zusammenhang mit verdeckten Gewinnausschüttungen seiner GmbH zur Last gelegt worden war.

II.

51. Die Revision des Angeklagten S.          greift aus den Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht durch. Der Angeklagte D.   hat sein Rechtsmittel in der Hauptverhandlung rechtswirksam zurückgenommen. Er hat die Kosten seiner Revision zu tragen (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

62. Auch den Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft bleibt der Erfolg versagt.

7a) Ungeachtet dessen, dass die Anklagebehörde das Urteil des Landgerichts "vollumfänglich zur Überprüfung" gestellt hat, ergibt eine an Nr. 156 Abs. 2 RiStBV orientierte Auslegung der Revisionsbegründungsschrift (vgl. z.B. Rn. 5) zweifelsfrei, dass sich die Staatsanwaltschaft nur insoweit gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet, als dieses die Arbeitgebereigenschaft des Angeklagten D.   hinsichtlich der Beschäftigten der UAB K.   und der UAB L.     verneint hat. Da diese Würdigung nur die Einzelstrafaussprüche betreffend die Delikte des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehungsweise der Beihilfe hierzu sowie daraus resultierend die Gesamtstrafenaussprüche betrifft, ist der verurteilende Teil der Entscheidung auch nur insoweit angefochten. Gleiches gilt für die Teilfreisprüche. Die Rechtsmittel beziehen sich hierauf nur, soweit die Angeklagten wegen weiterer Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehungsweise der Beihilfe hierzu freigesprochen worden sind.

8b) Die Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft ist unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

9aa) Die Staatsanwaltschaft rügt, das Landgericht habe zu Unrecht den Inhalt einer im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunde im Urteil nicht erörtert. Sie teilt aber weder den Inhalt der von der Verteidigung herbeigeführten Entscheidung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) über die Selbstleseanordnung noch eine gegen diese Entscheidung erhobene Gegenvorstellung und die Entscheidung hierüber mit. Vortrag hierzu war nicht etwa, wie die Revision meint, deswegen entbehrlich, weil die Rüge nicht die Durchführung des Selbstleseverfahrens, sondern die Frage der gebotenen Verwertung einer durch das Selbstleseverfahren eingeführten Urkunde betraf. Die Verwertung setzt die ordnungsgemäße Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens voraus.

10bb) Unabhängig davon wäre die Rüge auch unbegründet. Nach dem Inhalt der Urkunde musste sich eine Erörterung im Urteil nicht aufdrängen (vgl. Rn. 12 mwN; siehe auch , BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 53 Rn. 24 f.). Die aus Sicht der Staatsanwaltschaft belastenden Ausführungen des Angeklagten D.   können zwanglos dahingehend verstanden werden, dass dieser annahm, eine zulässige Gestaltung zu nutzen. Eine Auslegung zu seinen Lasten ist daher keinesfalls zwingend.

11c) Die Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler zugunsten der Angeklagten auf.

12aa) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer eine Arbeitgeberstellung der UAB K.    und der UAB L.     angenommen sowie hinsichtlich deren Beschäftigten eine solche des Angeklagten D.    abgelehnt. Das hiergegen gerichtete Revisionsvorbringen erschöpft sich im Kern in einer revisionsrechtlich unbeachtlichen eigenen Beweiswürdigung.

13bb) Im Übrigen käme eine Verurteilung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt betreffend die Arbeitnehmer, für die Entsendebescheinigungen vorlagen, auch deshalb nicht in Betracht, weil eine von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung A 1 auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege bindet.

14(1) Der Senat hat in Anlehnung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (zuletzt etwa , mwN) eine Bindungswirkung schon für die Entsendebescheinigung E 101 nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom (ABl. L 149 vom , S. 2; fortan: VO 1408/71) in Verbindung mit der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom (ABl. L 74 vom , S. 1; fortan: VO 574/72) angenommen (grundlegend , BGHSt 51, 124 unter II.3. mwN). Er hält daran für die Entsendebescheinigung A 1 nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung: ABl. 2004, L 200, S. 1; fortan: VO 883/2004) in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom (ABl. 2009, L 284, S. 1; fortan: VO 987/2009) fest. Der Übergang von der VO 1408/71 und der VO 574/72 zu der VO 883/2004 und der VO 987/2009 hat unter dem Gesichtspunkt der Bindungswirkung zu keiner wesentlichen Veränderung geführt. Art. 5 Abs. 1 VO 987/2009, wonach vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden, kodifiziert die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 11 Abs. 1 VO 574/72 (vgl. Rn. 84 ff. und vom – C-527/16 Rn. 40 ff.).

15(2) Unionsrechtlich binden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union selbst missbräuchlich oder betrügerisch erwirkte Bescheinigungen andere Mitgliedstaaten (vgl. , BGHSt 51, 124, Rn. 26 ff.). Aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch ergibt sich insofern zunächst nur, dass der Träger, der die Entsendebescheinigungen A 1 ausgestellt hat, ihm von dem Träger des Mitgliedstaats, in den Arbeitnehmer entsendet wurden, vorgelegte Beweise, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu prüfen und zu Unrecht ausgestellte Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen hat. Erst wenn der ausstellende Träger dieser Verpflichtung nicht nachkommt und der Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsendet wurde, einen Betrug ordnungsgemäß festgestellt hat, kann er die Bescheinigungen außer Acht lassen (vgl. Rn. 97 ff.; zuvor schon Rn. 48 ff. zu Entsendebescheinigungen E 101).

16(3) Strafrechtlich entfaltet vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen die Verwaltungsentscheidung grundsätzlich Tatbestandswirkung. Es kommt allein auf die formelle Wirksamkeit der Entscheidung, nicht auf ihre materielle Rechtmäßigkeit an (vgl. , BGHSt 50, 105, 114 f.; vom – 1 StR 289/20, BGHSt 65, 257 Rn. 49 ff. und vom – 1 StR 389/21 Rn. 16). Da die Tatbestandswirkung auf dem Bestimmtheitsgrundsatz beruht, kann sie strafrechtlich nicht rückwirkend entfallen, unabhängig davon, ob eine solche Rückwirkung verwaltungsrechtlich möglich wäre oder ob dem namentlich sozialversicherungsrechtlich die Grundsätze der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit gerade für die betroffenen Arbeitnehmer (vgl. Rn. 88) entgegenstehen.

17(4) Von der strafrechtlichen Tatbestandswirkung nicht berührt ist allerdings bei betrügerischer Erwirkung von Entsendebescheinigungen eine mögliche Strafbarkeit nach § 263 StGB, da der Tatbestand des § 263 StGB, anders als derjenige des § 266a StGB, insofern nicht verwaltungsakzessorisch ist. Der Taterfolg besteht gerade darin, die Tatbestandswirkung herbeizuführen und so die Inanspruchnahme durch die Sozialversicherungsträger zu umgehen. Insofern ist daher nach Wegfall der unionsrechtlichen Bindungswirkung eine Strafverfolgung möglich (vgl. Rn. 31 ff.). Materiell-rechtlich und prozessual liegt jedoch – wie hier – regelmäßig eine eigene, von dem (vermeintlichen) Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verschiedene Tat vor.

18cc) Das Landgericht hat auch nicht gegen seine Kognitionspflicht verstoßen (§ 264 StPO).

19(1) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; s. etwa Rn. 13 mwN).

20(2) Zwar könnte auf der Basis der durch die Strafkammer getroffenen Feststellungen, nach denen der Angeklagte D.   nicht Arbeitgeber der bei den litauischen Gesellschaften UAB L.     und UAB K.   geführten Arbeitnehmer ist, grundsätzlich eine Strafbarkeit beider Angeklagter wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, § 41a EStG) der Verantwortlichen der UAB L.     und UAB K.    in Betracht kommen, für den Angeklagten S.          auch eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung als Verfügungsberechtigter (Prokurist, § 35 AO) der UAB K.   . Denn die Tatbestandswirkung der Entsendebescheinigung betrifft nur die Sozialversicherung und lässt eine etwaige Lohnsteuerpflicht unberührt. Soweit keine Entsendebescheinigungen vorlagen, stünde auch eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt beziehungsweise der Beihilfe hierzu inmitten.

21Jedoch ist dies nicht von der Anklage umfasst. Hinsichtlich des Delikts der Steuerhinterziehung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO regelmäßig durch die unrichtige oder unvollständige (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO; Rn. 5; Urteil vom – 1 StR 209/22 Rn. 10) oder pflichtwidrig unterlassene (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; Rn. 15) Steuererklärung eines bestimmten Steuerpflichtigen für eine bestimmte Steuerart und einen bestimmten Besteuerungszeitraum abgegrenzt, nicht durch den zugrunde liegenden Sachverhalt, der einen oder mehrere Steuertatbestände verwirklicht. Unrichtige, unvollständige oder pflichtwidrig unterlassene Lohnsteueranmeldungen der UAB K.    und der UAB L.     sind in der Anklage nicht angesprochen. Gleiches gilt für unterlassene Meldungen der UAB K.    und der UAB L.   zur Sozialversicherung. Hierauf bezog sich auch ersichtlich nicht der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft (vgl. Rn. 55).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:300424U1STR426.23.0

Fundstelle(n):
RAAAJ-69437