BGH Beschluss v. - VIII ZR 15/24

Leitsatz

Zur Gehörsverletzung im Falle eines fehlerhaften "Protokollurteils" (im Anschluss an Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432).

Gesetze: Art 103 Abs 1 GG, § 8 ZPO, § 9 ZPO, § 540 ZPO

Instanzenzug: Az: 5 S 110/22vorgehend AG Schorndorf Az: 2 C 545/19

Gründe

I.

1    Die Klägerin nimmt die Beklagte nach Zahlungsverzugskündigung auf Räumung und Herausgabe einer Wohnung sowie auf Zahlung rückständiger Miete und einer Betriebskostennachzahlung in Anspruch. Das Amtsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landgericht, welches die Gerichtsakte im Berufungsverfahren elektronisch geführt hat, hat die hinsichtlich des Räumungsausspruchs in vollem Umfang und hinsichtlich des Zahlungsausspruchs nur teilweise eingelegte Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

2    Das am Ende der Sitzung verkündete, als elektronisches Dokument von allen drei mitwirkenden Richtern signierte Urteil des Landgerichts (vgl. § 130b Satz 1 ZPO) enthält lediglich das Rubrum (§ 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 ZPO) und die Entscheidungsformel (§ 313 Abs. 1 Nr. 4 ZPO). Unter der Überschrift "Gründe" wird ausgeführt, dass von einem Tatbestand und der Ausformulierung von Entscheidungsgründen "gemäß §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 2 ZPO abgesehen [werde], da ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig ist (§§ 542, 543 Abs. 1 ZPO, 26 Nr. 8 EGZPO) und der wesentliche Inhalt der Entscheidungsgründe in das Protokoll der mündlichen Verhandlung aufgenommen wurde".

3    In dem zunächst vorläufig aufgezeichneten und nach Fertigstellung als elektronisches Dokument allein von der Vorsitzenden Richterin signierten Sitzungsprotokoll sind die Namen der Parteien nur mit einem Kurzrubrum angegeben ("L.                 ./. H.               ."). Im Anschluss an die Berufungsanträge enthält das Protokoll kurze rechtliche Erwägungen und Hinweise des Berufungsgerichts zur (Un-)Begründetheit der Berufung sowie verschiedene Prozesserklärungen der Parteien. Danach bestehe ein Räumungsanspruch der Klägerin, weil diese die Kündigung des Mietverhältnisses wirksam ausgesprochen habe und die Kündigung aufgrund des Rückstands auch begründet sei. Der Sohn der Beklagten sei nach dem erstinstanzlich unbestrittenen Vortrag der Klägerin aus dem Mietvertrag ausgeschieden; ein Bestreiten nunmehr in zweiter Instanz sei unzulässig. Hinsichtlich des Zahlungsanspruchs seien die Rückstände aus der Nebenkostenabrechnung für 2018 zu berücksichtigen, die nicht bestritten und innerhalb der Jahresfrist erfolgt sei. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts sei eine Teilzahlung der Beklagten in Höhe von 200 € zu berücksichtigen. Aufgrund dieser Ausführungen hat die Klägerin die Klage insoweit sowie hinsichtlich eines Teils der auf vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten verlangten Verzugszinsen mit Zustimmung der Beklagten zurückgenommen. Nachfolgend zu dem Hinweis "Die Gründe wurden ins Protokoll diktiert" ist zudem im Sitzungsprotokoll vermerkt, dass "das aus der Anlage zum Protokoll ersichtliche Urteil durch Bezugnahme auf den entscheidenden Teil verkündet" worden sei (vgl. § 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO).

4    Das Sitzungsprotokoll und das Urteil des Berufungsgerichts sind in der Gerichtsakte jeweils als gesonderte elektronische Dokumente vorhanden, nicht jedoch miteinander verbunden.

5    Der Senat hat der Beklagten Prozesskostenhilfe für ein beabsichtigtes Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren bewilligt und ihr antragsgemäß Rechtsanwältin Dr. Ackermann beigeordnet. Der Beschluss ist dem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten am zugestellt worden. Mit am eingegangenem Anwaltsschriftsatz hat die Beklagte Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt und Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdeeinlegungsfrist beantragt. Mit am eingegangenem Schriftsatz hat die Beklagte die Beschwerde begründet sowie Wiedereinsetzung in die versäumte Begründungsfrist beantragt.

II.

6    Der Beklagten ist antragsgemäß Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Fristen zur Einlegung und Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde zu bewilligen (§ 233 ZPO).

III.

7    Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Entgegen der Annahme des Berufungsgerichts beläuft sich der Wert der mit der Revision geltend zu machenden Beschwer der Beklagten vorliegend auf mehr als 20.000 € (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO). Nach dem Vortrag der Beklagten in ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, der mangels tatbestandlicher Feststellungen im Berufungsurteil auch für die von Amts wegen vorzunehmende Prüfung der erforderlichen Beschwer des Rechtsmittelführers maßgeblich und als richtig zu unterstellen ist (siehe nur Senatsbeschuss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432 Rn. 6 mwN), steht neben einem Zahlungsanspruch der Klägerin in Höhe von 3.452,99 € das Fortbestehen eines unbefristeten Wohnraummietverhältnisses im Streit. Das Berufungsgericht hat verkannt, dass sich die Beschwer insoweit gemäß §§ 8, 9 ZPO auf den dreieinhalbfachen Jahresbetrag der Nettomiete - hier im Hinblick auf eine monatliche Nettokaltmiete in Höhe von 565 € mithin auf einen Betrag von 23.730 € - beläuft (st. Rspr.; vgl. zuletzt etwa Senatsbeschlüsse vom - VIII ZR 213/20, aaO Rn. 5; vom - VIII ZR 91/20, WuM 2022, 180 Rn. 4 f.; vom - VIII ZA 20/22, juris Rn. 1).

IV.

8    Die Nichtzulassungsbeschwerde hat auch in der Sache Erfolg und führt gemäß § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht. Wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, verletzt die angefochtene Entscheidung in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Denn das Berufungsgericht hat in offenkundiger Verkennung der Voraussetzungen der § 313a Abs. 1, § 540 Abs. 2 ZPO und damit unter Missachtung der an ein Protokollurteil gemäß § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu stellenden Anforderungen ein Urteil erlassen, das lediglich die in § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4, § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO genannten Voraussetzungen erfüllt, jedoch nicht mit einem - vorher erstellten und sämtliche Darlegungen nach § 540 Abs. 1 ZPO enthaltenden - Sitzungsprotokoll verbunden ist und daher nicht erkennen lässt, dass sich das Berufungsgericht mit dem - von der Nichtzulassungsbeschwerde angeführten - Vorbringen der Beklagten in der Berufungserwiderung befasst hat.

9    1. Nach der Senatsrechtsprechung ist im Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision zu unterstellen, dass das Berufungsgericht das in den Tatsacheninstanzen gehaltene und im Beschwerdeverfahren angeführte Vorbringen des Beschwerdeführers nicht hinreichend im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG zur Kenntnis genommen hat und die Entscheidung des Berufungsgerichts hierauf beruht, wenn das Berufungsgericht unter offenkundiger Verkennung der Voraussetzungen des § 313a Abs. 1, § 540 Abs. 2 ZPO und damit unter Missachtung der an ein Protokollurteil gemäß § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO zu stellenden Anforderungen ein Urteil erlässt, das weder tatbestandliche Feststellungen noch eine rechtliche Begründung enthält (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432 Leitsatz und Rn. 7 ff.).

10    2. Ein solcher Fall ist hier gegeben.

11    a) Das Berufungsurteil enthält entgegen der Vorschrift des § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO weder eine Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des Amtsgerichts noch trifft es ergänzende oder abweichende Feststellungen zum Streitstoff in zweiter Instanz. Dieser Mangel wurde nicht durch das Sitzungsprotokoll behoben. Unabhängig davon, dass dieses Protokoll auch in anderer Hinsicht nicht den Anforderungen an ein Protokollurteil im Sinne des § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO genügt (hierzu nachfolgend unter b), ist hierin unter Verstoß gegen § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 1 ZPO (ebenfalls) von der Aufnahme tatsächlicher Feststellungen in der irrtümlichen Annahme abgesehen worden, gegen das Berufungsurteil sei unzweifelhaft ein Rechtsmittel nicht eröffnet (siehe oben unter III).

12    b) Dem Urteil des Berufungsgerichts fehlt zudem auch die gemäß § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 ZPO erforderliche rechtliche Begründung, auf die in Anbetracht einer möglichen Anfechtung durch eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gemäß § 540 Abs. 2, § 313a Abs. 1 Satz 2 ZPO hätte verzichtet werden dürfen. Die vom Berufungsgericht in das Sitzungsprotokoll aufgenommenen rechtlichen Erwägungen sind nicht zu berücksichtigen, weil sie weder Bestandteil des am Schluss der Sitzung verkündeten Berufungsurteils geworden sind noch das Sitzungsprotokoll für sich betrachtet die Anforderungen an ein (eigenständiges) Protokollurteil im Sinne des § 540 Abs. 1 Satz 2 ZPO erfüllt. Das Vorgehen des Berufungsgerichts wird den Möglichkeiten, ein den gesetzlichen Vorgaben des § 540 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO entsprechendes Protokollurteil zu erlassen (vgl. nur Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432 Rn. 10-12 mwN), nicht gerecht.

13    aa) Ein Protokollurteil kann in der Weise prozessordnungsgemäß ergehen, dass ein alle nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Bestandteile enthaltendes Urteil von den mitwirkenden Richtern unterschrieben und mit dem Sitzungsprotokoll verbunden wird, um so den inhaltlichen Bezug zu den in das Sitzungsprotokoll "ausgelagerten" tatsächlichen und rechtlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 ZPO herzustellen. Insoweit reicht es jedoch nicht aus, wenn die nach § 311 Abs. 2 ZPO für die Verkündung regelmäßig erforderliche schriftlich abgefasste Urteilsformel bereits von den mitwirkenden Richtern unterschrieben wurde, dieses Schriftstück aber mit dem zunächst vorläufig aufgezeichneten Sitzungsprotokoll erst nach dessen Herstellung verbunden wird. Vielmehr muss das - aus mehreren Teilen bestehende - Protokollurteil schon im Zeitpunkt seiner Unterzeichnung durch die mitwirkenden Richter in vollständiger Form abgefasst sein (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, aaO Rn. 11 mwN).

14    Diese Anforderungen sind vorliegend nicht erfüllt. Das Sitzungsprotokoll war, wie der Vermerk an dessen Ende zeigt ("für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Übertragung vom Tonträger", vgl. § 163 Abs. 1 Satz 2 ZPO), zunächst nur vorläufig aufgezeichnet und wurde erst nachfolgend zu der am Schluss der Sitzung erfolgten Verkündung des abgekürzten Berufungsurteils als elektronisches Dokument erstellt. Zudem fehlt es - bis heute - an der für die Herstellung des inhaltlichen Bezugs des Berufungsurteils zu den in das Sitzungsprotokoll "ausgelagerten" Darlegungen erforderlichen Verbindung von Sitzungsprotokoll und Urteil; der Hinweis im Berufungsurteil auf das Sitzungsprotokoll genügt hierfür nicht (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, aaO Rn. 11 mwN). Die Verbindung beider Urkunden kann auch nicht mehr nachgeholt werden, weil seit der Verkündung des Berufungsurteils mehr als fünf Monate verstrichen sind (vgl. , NJW-RR 2008, 1521 Rn. 13).

15    bb) Das Sitzungsprotokoll erfüllt auch für sich betrachtet nicht die Anforderungen an ein den gesetzlichen Vorgaben des § 540 Abs. 1 Satz 1, 2 ZPO entsprechendes Prozessurteil (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432 Rn. 12 mwN).

16    Es enthält weder die erforderlichen Darlegungen nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO noch sämtliche nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO erforderlichen Angaben. Die Parteien sind im Sitzungsprotokoll mit der Nennung lediglich ihrer Familiennamen im Rahmen eines Kurzrubrums nicht ausreichend im Sinne von § 313 Abs. 1 Nr. 1 ZPO bezeichnet. Die Urteilsformel (§ 313 Abs. 1 Nr. 4 ZPO) ist im Sitzungsprotokoll nicht enthalten; dort wird lediglich auf "den entscheidenden Teil" des aus einer Anlage zum Protokoll ersichtlichen Urteils verwiesen. Zudem ist das Sitzungsprotokoll allein von der Vorsitzenden Richterin signiert worden (vgl. § 163 Abs. 1 Satz 1 ZPO), enthält aber nicht - wie es diese Möglichkeit eines Protokollurteils erfordert (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, aaO) - die Signaturen aller mitwirkenden Richter (vgl. § 130b Satz 1 ZPO).

17    c) Da das Berufungsurteil keine tatbestandlichen Feststellungen enthält, ist im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren der von der Beschwerdebegründung angeführte Vortrag der Beklagten im Berufungsverfahren als richtig zu unterstellen (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, aaO Rn. 14 mwN).

18    Danach hat die Beklagte geltend gemacht, das Amtsgericht habe zu Unrecht die Wirksamkeit der allein gegenüber der Beklagten erklärten Kündigung bejaht. Die Kündigung eines Mietverhältnisses müsse jedoch gegenüber allen Mietern - und damit vorliegend auch gegenüber dem Sohn der Beklagten - erklärt werden. Die Behauptung der Klägerin, dieser sei zwischenzeitlich ausgeschieden, sei unsubstantiiert und von der Beklagten bereits erstinstanzlich bestritten gewesen. Zudem seien nach dem Versterben der ursprünglichen Vermieterin deren Erben - und nicht die Klägerin - in das Mietverhältnis eingetreten. Ferner habe das Amtsgericht die Zahlungsansprüche nicht in vollem Umfang zusprechen dürfen. Der Vortrag der Klägerin zur Nebenkostenabrechnung in Höhe von 1.502,99 € sei unsubstantiiert. Ein Anspruch der Klägerin auf die geltend gemachten Nebenkostenvorauszahlungen für 2019 bestehe nach Eintritt der Abrechnungsreife nicht mehr. Zudem sei eine Zahlung weiterer 200 € durch die Beklagte zu berücksichtigen. Schließlich sei die Klage hinsichtlich der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten nicht begründet.

19    d) Ob das Berufungsgericht diesen - von der Nichtzulassungsbeschwerde angeführten - Vortrag der Beklagten im Berufungsverfahren bei seiner Entscheidung hinreichend berücksichtigt hat, kann aufgrund des sich auf die Angaben nach § 313 Abs. 1 Nr. 1 bis 4 ZPO beschränkenden Berufungsurteils nicht beurteilt werden. Es ist daher mangels tatsächlicher Feststellungen im Urteil und mangels einer rechtlichen Begründung zu unterstellen, dass das Berufungsgericht dieses Vorbringen nicht hinreichend im Sinne des Art. 103 Abs. 1 GG zur Kenntnis genommen hat und die Entscheidung des Berufungsgerichts hierauf beruht (vgl. Senatsbeschluss vom - VIII ZR 213/20, NZM 2021, 432 Rn. 16).

V.

20    Nach alledem ist das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Entscheidung und Verhandlung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

Dr. Bünger                              Kosziol                              Dr. Matussek

                       Dr. Reichelt                           Messing

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2024:140524BVIIIZR15.24.0

Fundstelle(n):
WAAAJ-69123